Spitze-Spritze Mit Botox gegen Heuschnupfen und Migräne

Falten wegspritzen – dafür ist Botox bisher bekannt. Doch der Wirkstoff kann noch mehr: schwere Migräne lindern, Heuschnupfen bekämpfen, vor Erblindung schützen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Christian Maihöfner setzt kurze, kleine Stiche: an Stirn, Schläfen, Hinterkopf, Nacken, Halsmuskulatur. 44 Mal spritzt der Migräneexperte und Chefarzt der Neurologie am Klinikum Fürth in die Muskulatur der Patientin, dann ist die Behandlung abgeschlossen. Die Prozedur beschert der 46-Jährigen einige schmerzfreie Tage im Monat. Sie leidet seit Jahren unter Migräne. Pulsierende Kopfschmerzen, Übelkeit und Lichtempfindlichkeit machten ihr bisher das Leben zur Qual.

Das Medikament, das ihre Beschwerden deutlich lindert, ist Botulinumtoxin, besser bekannt unter dem Markennamen Botox. Maihöfner setzt es schon seit Langem erfolgreich gegen Migräne ein.

Der Wirkstoff macht gerade einen echten Imagewechsel durch. Bisher kannten ihn die meisten als Lifestyle-Mittel gegen Falten und denken an aufgetakelte Hollywood-Stars, wenn von Botox die Rede ist. Das Nervengift lähmt Muskeln und glättet so auch Lach-, Schmunzel- oder Zornesfalten, die mit dem Alter immer tiefer werden. Was 1989 bei der kalifornischen Pharmafirma Allergan als winziges Nischenprodukt begann, avancierte schnell zu einem heißen Geschäft. Heute setzt damit allein der Marktführer knapp zwei Milliarden Dollar jährlich um. Der Gesamtmarkt wird auf über fünf Milliarden Dollar geschätzt.

Doch allmählich besinnen sich die Hersteller wieder auf die medizinischen Anwendungen. „2013 hat es 300 Studien zu Botulinumtoxin gegeben – zwei Drittel davon hatten nichts mit Kosmetik zu tun“, erklärt Botox-Experte David Bergvall, bis Anfang des Jahres Geschäftsführer bei Galderma, einem der Anbieter des Nervengifts.

So habe etwa Allergan „ziemlich viel Geld in die Hand genommen“, um die Zulassung für Harninkontinenz zu bekommen, weiß Ricarda Bauer, Oberärztin und Urologin am Münchner Klinikum Großhadern. Nicht ohne Grund: Denn bei solchen weitverbreiteten Krankheiten lockt ein Milliardenmarkt: Allein in Deutschland gibt es etwa sechs bis acht Millionen Patienten mit Blasenschwäche – der Harninkontinenz. Auch das Frankfurter Pharmaunternehmen Merz und der französische Hersteller Ipsen untersuchen weitere Einsatzmöglichkeiten. So testet Merz, wie gut Botox Verkrampfungen – sogenannte Spasmen – von Schlaganfallpatienten lindert.

von Thorsten Firlus, Daniel Rettig, Christopher Schwarz

Das Spektrum der Erkrankungen, das potenziell in Betracht kommt, ist enorm groß. So zählen weitverbreitete Leiden wie Migräne, Heuschnupfen und vorzeitiger Samenerguss dazu; sogar Wunden heilen schneller und glatter mithilfe einer Botox-Spritze. In all diesen Feldern wird der Wirkstoff bereits testweise eingesetzt. Selbst wenn nur ein Teil der betroffenen Patienten erfolgreich mit dem Toxin behandelt werden könnte, würden enorme Umsätze winken.

Ursprünglich hatten Forscher genau solche medizinischen Anwendungen im Auge, als sie erstmals mit Botox experimentierten. Die Substanz ist einer der wirksamsten Giftstoffe, den die Natur hervorgebracht hat. Das Bakterium Clostridium botulinum, das sich gerne in Fleischkonserven und Wurstwaren vermehrt, produziert ihn. Das Gift verursacht meist tödlich endende Symptome, denn es blockiert die Signalübertragung der Nerven und lähmt Muskeln, etwa die der Atemmuskulatur.

Genau diese Lähmungen interessierten Mediziner seit Ende der Sechzigerjahre. Sie verdünnten den Giftstoff und konnten bei schielenden Menschen die Augenmuskulatur so beeinflussen, dass diese wieder geradeaus schauten. Auch Krämpfe am Hals oder an den Füßen, die zum Schiefhals oder Spitzfuß führen, lassen sich damit beheben. Und Menschen mit einem Blinzelkrampf können so wieder sehen: Sie waren zuvor praktisch blind, weil sie das Augenlid unwillkürlich zukniffen.

Linderung bei Schmerzen

Die hartnäckigsten Gesundheitsmythen
Eine junge Frau putzt sich mit einem Papiertaschentuch die Nase Quelle: dpa
Mann mit Rückenschmerzen sitzt im Büro Quelle: obs
In einer Zahnarztpraxis werden die Zähne eines Jungen untersucht Quelle: dpa
Ein Fieberthermometer liegt auf verschiedenen Arten und Formen von Tabletten Quelle: dpa
Ein Mann zieht an seinem Finger und erzeugt ein Knackgeräusch. Quelle: dpa
Angela Merkel hält ein Schnapsglas in der hand Quelle: AP
Ein Junge steht unter einer Dusche Quelle: dpa

Auch Schmerzen lindert das Botulinumtoxin. Denn es blockiert die Übertragung von Neurotransmittern – den Botenstoffen zwischen Nervenzellen. So lähmt es nicht nur Muskeln, sondern verhindert auch, dass das Schmerzempfinden bis zum Gehirn gelangt. Etwa bei chronischer Migräne.

Für diese Anwendung ist Botox seit Ende 2011 zugelassen. Die gesetzlichen Kassen übernehmen seither die Kosten – allerdings nur in sehr engem Rahmen, wie Migräneexperte Maihöfner erklärt: „Der Patient muss 15 Tage pro Monat unter Kopfschmerzen leiden, davon acht Tage unter Migräne.“ Nur dann bezahlen die Kassen die etwa 800 Euro teure Behandlung, die alle drei bis sechs Monate wiederholt werden muss. Maihöfner sieht die strenge Indikation kritisch. Zwar sollten Ärzte sicher nicht jeden Migränekranken mit Botox behandeln, „aber es gäbe bestimmt mehr Menschen, denen wir so helfen könnten“.

Der Umsatz mit Botox wächst beim Marktführer Allergan stetig, weil laufend neue Anwendungsgebiete hinzukommen

Da Nerven an fast allen Vorgängen im Körper beteiligt sind, hat Botox vielfältigste Wirkungen – und manchmal auch überraschende. So haben etwa Wissenschaftler der Isfahan University im Iran bei 50 Teilnehmern das Mittel zwei Monate lang bei Heuschnupfen im Vergleich zu dem sonst üblichen Antiallergiemittel – dem Antihistamin Cetirizin – getestet. Dazu injizierten Ärzte Botox in die Nasenschleimhaut. Das Ergebnis: Das Nervengift linderte die Beschwerden ebenso gut wie das Allergiemedikament, hatte aber weniger Nebenwirkungen, weil es zum Beispiel nicht müde macht. Zu einem ähnlichen Resultat kamen auch Mediziner der Universitätsklinik im australischen Melbourne. „Das Toxin lähmt die Muskeln in der Nasenschleimhaut, die winzige Blutgefäße steuern. So können sie sich nicht mehr verengen, und die Nase bleibt frei“, sagt Uta Schlossberger, Allergologin und Sprecherin des Bundesverbandes der Dermatologen.

Ein Nervengift gegen Heuschnupfen? Edda Würdemann findet das zwar „interessant, aber dann doch eine eher theoretische Möglichkeit“. Die Leiterin des Arzneimittelreferats bei der Techniker Krankenkasse beurteilt die Verwendung von Botulinumtoxin deutlich skeptischer als die behandelnden Ärzte. „Es gibt eine klare Indikation für das Präparat – und in diesen Grenzen sollte es auch angewendet werden“, so die Pharmazeutin. In der Praxis setzen Ärzte das Mittel aber häufig jenseits der Indikation ein, durchaus mit Erfolg. Bezahlen müssen die Patienten solche Therapien allerdings komplett privat.

Doch selbst bei Migräne sollte Botox nicht dauerhaft genutzt werden, findet Edda Würdemann. „Die Ärzte sollten immer schauen, ob sie die klassischen Schmerzmittel nicht doch nutzen können.“ Die seien gut erforscht und über viele Jahre bekannt – im Gegensatz zum Botox, das in solchen Anwendungen relativ neu sei.

Migräneexperte Maihöfner plädiert dagegen für mehr Flexibilität im Einzelfall. Er vermutet, dass die Kassen nicht immer nur aus medizinischen Gründen den Einsatz von Botox kritisch sähen, sondern oft auch die Kosten scheuten.

Urologin Bauer kennt das Problem. Die Expertin für Harninkontinenz hat jahrelang den Wirkstoff bei Patienten mit Blasenschwäche eingesetzt, die nicht neurologisch durch Rückenmarkverletzungen oder multiple Sklerose verursacht war – ohne dass es eine Indikation und eine Erstattung gab. Dabei wird das Nervengift direkt in die Muskeln der Blasenwand gespitzt. „Der Patient hat danach für einige Monate etwas mehr Ruhe, mehr Zeit, um es zur Toilette zu schaffen.“ Inzwischen ist das Mittel zugelassen – auch dann, wenn die Inkontinenz andere Gründe hat, etwa eine Schwäche des Beckenbodens, der im Alter häufig ist, vor allem bei Frauen.

Manchmal ergänzen sich kosmetischer und medizinischer Nutzen sogar, wie bei einer Studie der Universität Basel: Dort untersuchten Forscher 30 Patienten mit Depressionen, bei denen Medikamente nicht ausreichend wirkten. Bei ihnen legten sie mit Botox die Zornesfalte lahm. Die Hypothese: Das Gehirn reagiert positiv, was frühere Tests nahelegten, wenn wir weniger kritisch oder traurig in die Welt schauen.

Und es funktionierte. Schon nach zwei Wochen waren die Teilnehmer weniger depressiv. Nach sechs Wochen hatten sich bei über der Hälfte der Studienteilnehmer die Symptome deutlich verbessert.

Wo Medizin und Kosmetik so dicht beieinanderliegen, dürften Kassen-Vertreter vermutlich tiefe Sorgenfalten bekommen – aus Angst, Patienten könnten sich ihre Verschönerung mit angeblich ernsten Erkrankungen ergaunern.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%