Versiegende Vorkommen Europa geht das Erdgas aus

Noch kann sich Europa halbwegs selbst mit Erdgas versorgen. Doch die Förderung geht – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – dramatisch zurück. Die Alternativen sind teuer oder politisch brisant.

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Eine Erdgas-Station in der Slowakei. Weil die Erdgasförderung in den Niederlanden zunehmend gefährlich wird, droht in Europa der Engpass. Quelle: REUTERS

Nirgendwo sonst in Europa bebt die Erde derzeit wohl so oft wie in Loppersum. In der kleinen Gemeinde im Nordosten der Niederlande registrierten die Seismologen während der vergangenen zwei Jahre fast jeden dritten Tag eine Erschütterung. In den Häusern der Gegend klaffen fingerbreite Spalten, in der Backsteinkirche aus dem Mittelalter durchziehen Risse wie Spinnweben die wertvollen Fresken. Knapp 90.000 Gebäude in der Gegend sind laut einer Studie der Technischen Universität Delft durch die Erdbeben gefährdet.

Die Ursache für das bedrohliche Phänomen liegt knapp 3000 Meter unter Loppersum: das Groninger Gasfeld, das größte seiner Art in Europa und eines der größten weltweit. 2013 kamen hier 54 Milliarden Kubikmeter Erdgas an die Oberfläche, fast ein Fünftel der gesamten europäischen Produktion. Die Förderung läuft hier seit rund 50 Jahren auf Hochtouren, und inzwischen senkt sich die Erde.

Zusätzlich destabilisieren mehr als 1700 natürliche Risse im Erdreich ein Areal, das fast so groß wie Berlin ist. Dazu gehört auch die Großstadt Groningen mit rund 200.000 Einwohnern.

Erdbeben der Stärke 6,5 möglich

Nach teils gewaltsamen Bürgerprotesten drosselte die Regierung in Den Haag vergangenes Jahr die Produktion um fast ein Viertel. Ob das reicht, die Erde zu beruhigen, weiß derzeit niemand. Einer Studie der Betreiber zufolge, einem Joint Venture der Energieriesen Shell und ExxonMobil, könnten Beben mit einer Stärke von 5,3 vorkommen. Theoretisch seien sogar Werte von 6,5 möglich. Zum Vergleich: Als es im italienischen L’Aquila 2009 – mit der Stärke 5,8 – bebte, starben 308 Menschen, und 67.000 wurden obdachlos.

Woher Europa Erdgas bezieht: Gasfelder und -Pipelines in Europa

Sollte sich Ähnliches in der Gegend um Groningen ereignen, wäre das nicht nur eine Katastrophe für die Region – es wäre auch eine Erschütterung für die europäische Gaswirtschaft. Denn dann würde das Groninger Feld wohl abgeschaltet.

Ging es bisher um die Sicherheit der Gasversorgung in Europa, war meist Russland das Thema. Dabei übersehen viele: Noch abhängiger ist die Europäische Union von der eigenen Erdgasproduktion. Denn fast die Hälfte des Energieträgers, den Verbraucher zwischen Lappland und Sizilien nutzen, kommt aus Norwegen, den Niederlanden und Großbritannien. In Deutschland fließt sogar zu zwei Dritteln europäisches Gas durch die Leitungen (siehe obere Grafik).

Es droht ein Engpass beim Erdgas

Aber die Förderraten in West- und Nordeuropa sinken dramatisch: Die Produktion könnte sich im schlimmsten Fall in den nächsten zehn Jahren halbieren (siehe untere Grafik). In Deutschland versiegen die aktiven Felder voraussichtlich 2025 komplett. Die derzeit niedrigen Öl- und Gaspreise verschärfen die Situation aktuell noch, weil den Energieunternehmen das Geld für neue, teure Erkundungen zum Beispiel in der Arktis fehlt.

Rückgang der Erdgasförderung in West- und Nordeuropa

„Was die Risiken für die Erdgasversorgung betrifft, haben wir zu lange nur auf Russland geschaut“, sagt Kirsten Westphal, Energieexpertin bei der renommierten Politikberatung Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Dabei sind andere Probleme aus dem Blick geraten.“

Die Folge: In den nächsten Jahren droht Europa nichts weniger als ein Erdgasengpass – mit gravierenden Folgen für Politik, Wirtschaft und Geldbeutel der Verbraucher. Statt unabhängiger von Russland zu werden, ist laut Westphal das Gegenteil der Fall. Groningen ist dabei nur einer der Gründe, wie Recherchen in Europas wichtigsten Gasförderländern zeigen.

Von den mit Rissen überzogenen Häusern in Loppersum führt der Weg zum zweiten Brennpunkt der niederländischen Energieversorgung per Schiff: der Nordsee. Dort sind derzeit 150 Felder aktiv. Doch die liefern von Jahr zu Jahr immer weniger Gas. Denn je mehr aus einem Reservoir strömt, desto weiter sinken der Druck und die Förderrate. Früher glichen neue Vorkommen den Rückgang aus. Damit ist es in der Nordsee aber vorbei. Kamen zwischen 2011 und 2014 noch 24 neue Felder an die Pipelines, werden es zwischen 2014 und 2018 nur noch 14 sein.

Die Niederlande können sich bald nur noch selbst versorgen

Dieser Rückgang ist derzeit besonders bedrohlich, warnt Tim Boersma, Energieexperte der Brookings Institution, einem US-Thinktank. Denn: „Einen Förderrückgang in Groningen können die Niederlande nicht auffangen.“ Erst Anfang Februar hat die Regierung in Den Haag wegen der Erdbebengefahr die Förderung weiter gesenkt. Verglichen mit 2013 könnte Groningen dieses Jahr knapp 40 Prozent weniger Erdgas liefern. Ob das ausreicht, um die Erde zu besänftigen, weiß niemand. „Fahren wir die Produktion zurück, wird es das Risiko eines gravierenden Erdbebens nicht verringern“, räumt ein Sprecher von Shell ein. Allenfalls lasse sich Zeit gewinnen.

Aufgrund der Probleme in Groningen können sich die Niederlande womöglich schon 2020 nur noch selbst mit Erdgas versorgen. An Exporte nach Deutschland wäre nicht mehr zu denken.

Aber nicht nur bei unseren Nachbarn droht der Engpass. In Großbritannien ist er längst Realität. Dort ist die Erdgasproduktion seit 2005 regelrecht eingebrochen. Alte, seit Jahrzehnten aktive Felder leeren sich. „Mögliche neue Felder sind aber nur mit großem Aufwand zu erschließen“, sagt William Powell, Erdgasexperte beim Analyseunternehmen Platts in London.

Stürme behindern Erschließung neuer Vorkommen

Ein Beispiel: die Vorkommen zwischen den Shetland- und Färöer-Inseln im äußersten Norden Großbritanniens. Seit 2004 arbeitet dort der französische Rohstoffriese Total daran, die Felder Laggan und Tormore ans Netz zu bringen. Es ist eine teure Herkulesaufgabe. Wegen der orkanartigen Stürme und bis zu 30 Meter hohen Wellen bauen die Ingenieure keine Plattformen mehr, sondern wollen automatisiert in 600 Meter Tiefe am Meeresboden fördern. Bis zu vier Milliarden Euro wird das Projekt am Ende voraussichtlich kosten.

Außerdem sind neue Gasfelder teilweise bis zu 200 Grad heiß und stehen mit 1000 bar unter extremem Druck. Zum Vergleich: Ein Autoreifen misst 2,5 bar. Das Risiko bei der Förderung steigt. 2012 wurden wegen eines Gaslecks mehr als 200 Mitarbeiter von der Bohrinsel Elgin vor der schottischen Küste evakuiert. Die Plattform drohte zu explodieren. Sieben Prozent der britischen Erdgasförderung waren gefährdet.

„Insgesamt befindet sich die Öl- und Erdgasindustrie in Großbritannien in einer Dämmerphase“, resümiert Powell. Laut einer Studie der Universität Oxford versiegen die aktuell in Betrieb befindlichen Felder in weniger als sieben Jahren.

Seit 2010 keine großen Erdgasfelder entdeckt

Bleibt von den großen Produzenten in Europa nur Norwegen als Hoffnungsträger. Immerhin 20 Prozent des Erdgases bezieht Deutschland aus dem nordischen Staat. Hier scheint die Situation auf den ersten Blick weniger brenzlig. „Wir werden die Produktion bis 2020 konstant halten können“, erklärt Harris Utne, Erdgasexperte beim Energieanalysedienst Rystad Energy in Oslo. Was aber passiert dann? „Nach 2020 müssen wir neue Felder erschließen.“ Zwar könne Troll, das größte norwegische Vorkommen, das für ein Drittel der landesweiten Produktion steht, sein Niveau bis 2030 halten. Dafür gehe aber die Produktion in Ormen Lange und Asgard zurück, die heute noch ein weiteres Drittel liefern.

Ein gravierendes Problem hat aber auch Norwegen: „Seit 2010 wurde kein größeres Gasfeld mehr entdeckt“, sagt Utne. Die Hoffnung der Norweger ruhen auf Erdgasreserven in der Barentssee, am Rand des arktischen Ozeans. Aber Utne warnt vor übertriebenen Erwartungen. Die Erschließung sei schwierig und teuer, zudem müssten Pipelines gebaut oder Schiffe angeschafft werden, um den Rohstoff zu den Kunden zu bringen. „Laut unseren Berechnungen ist keine größere Produktion vor 2035 zu erwarten.“ Bisher liefert nur das Snøhvit-Feld (deutsch: Schneewittchen) in der Barentssee geringe Mengen.

Welche Felder den Produktionsrückgang in Norwegen nach 2020 auffangen sollen, ist derzeit also noch völlig unklar. Auch hier muss sich Deutschland auf schwindende Lieferungen einstellen.

Innovationen sind sehr teuer

In der Vergangenheit halfen oft technische Innovationen, um die Fördermengen aufrechtzuerhalten. Ob das diesmal klappt, ist noch unklar – denn sie sind extrem teuer. So investiert der staatliche norwegische Konzern Statoil derzeit rund zwei Milliarden Euro in 5000 Tonnen schwere Kompressoren auf dem Meeresboden, die den Druck in Vorkommen wie Asgard erhöhen und die Produktion verlängern sollen.

Ähnliche Projekte könnte künftig der niedrige Ölpreis verhindern, der den Unternehmen die Bilanz verhagelt. Allein Shell will die Ausgaben für neue Projekte um 15 Milliarden Dollar kürzen. Chevron verzögert eine Zehn-Milliarden-Dollar-Investition in das Öl- und Gasfeld Rosebank nahe den Shetland-Inseln. Auch die Entwicklung des riesigen Erdgasfeldes Stockman in der Barentssee liegt auf Eis.

Bleibt die Frage: Welche Alternativen zum heimischen Erdgas gibt es für Europa?

Russland fällt als Alternative aus – selbst wenn sich die Großmacht und die EU wieder annähern. Erst Ende vergangenen Jahres stoppte Präsident Wladimir Putin den Bau der South-Stream-Pipeline nach Südosteuropa. Die Verbindung hätte knapp 15 Prozent des europäischen Erdgasbedarfs decken und einen Teil des Förderrückgangs auffangen können.

Für Biogas fehlen Anbauflächen

Auch um andere Alternativen steht es schlecht, wie im Oktober eine weitere Studie der Universität Oxford zeigte. Zwar habe Europa genug Terminals an seinen Küsten, um jährlich rund 200 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas zu importieren, haben die Forscher ermittelt – nur gut ein Fünftel davon wird aktuell genutzt. Flüssiggas ist aber bis zu einem Drittel teurer als europäisches Gas. Für die Verbraucher wäre diese Lösung also kostspielig. Auch Biogas könne die Lücke nur begrenzt füllen, dafür fehlten schlicht die Anbauflächen.

Unkonventionelle Gasvorkommen

Und das Schiefergas? Allein um den aktuellen Produktionsabfall eines Feldes wie Groningen aufzufangen, müssten die Rohstoffkonzerne bis 2025 jährlich rund 600 Bohrungen in Europa niederbringen, rechnen die Forscher aus Oxford vor. Beim aktuellen Widerstand der Bevölkerung gegen die Technik ist das wenig wahrscheinlich.

Ebenso wenig ist striktes Energiesparen eine Lösung. Damit die Europäer ihren Erdgasverbrauch signifikant senken, müsste die Politik „sehr weitreichende Anreize bieten, die über die aktuellen Programme hinausgehen“, schreiben die Experten.

Eine letzte Alternative liegt weit im Osten. Im September 2014 hat Ilham Alijew, der Staatschef von Aserbaidschan, feierlich den ersten Spatenstich für eine Pipeline nach Europa gemacht. Sie soll Erdgas aus dem Kaspischen Meer über die Türkei bis nach Italien bringen. Der Bau der 3500 Kilometer langen Röhre samt Erschließung neuer Felder soll 45 Milliarden Dollar kosten. Baubeginn ist 2016, vier Jahre später soll der Rohstoff in Italien anlanden. Baku will vorerst aber nur zehn Milliarden Kubikmeter pro Jahr liefern – viel zu wenig, um Europas Erdgaslücke zu schließen.

Eine Chance für Aserbaidschan

Würden die Betreiber das Erdgas komprimieren, wäre auch das Doppelte möglich, sagt Elshad Nassirov, der beim staatlichen Öl- und Gaskonzern Socar für Investitionen und Marketing zuständig ist. Willkommen wäre das Gas, teilte die EU-Kommission erst Anfang Februar in einem Strategiepapier mit. Sie will den Ausbau des Gaskorridors jetzt womöglich noch beschleunigen. Dabei war auch Aserbaidschan als Lieferland lange in Brüssel umstritten. Menschenrechtsorganisationen werfen dem Präsidenten Alijew die Unterdrückung der politischen Opposition vor.

Aber in Baku glauben die Verantwortlichen an ihre Chance. Dort träumen sie davon, künftig mit weiteren Pipelines die riesigen Erdgasreserven in Turkmenistan, dem Iran und Nordirak für Europa zu erschließen. „Wir sind bereit für mehr“, versichert Nassirov. Das gespannte Verhältnis zwischen der EU und Russland sehen die Politiker in Baku auch als Chance, sich als verlässlicher Lieferant zu etablieren.

Die wird Europa bald dringend brauchen.

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