Werner knallhart

Von vorglühen bis zurückspulen: Alte Wörter recycelt

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Recycling für die Zukunft

Was tun Sie, wenn Sie bei iTunes oder Netflix oder Amazon Video einen Film gucken und jemand neben Ihnen auf der Couch quatscht rein? Sie spulen zurück. Ganz ohne Band, das sich spulen ließe. Das Gleiche bei Musik aus dem Netz. Musikkassette und VHS leben in unseren Köpfen weiter. Und weil wir spulen praktisch exklusiv in der Unterhaltungselektronik verwenden, hält es sich dort wacker. Aber Achtung, es droht die Übermannung durch zurück-/vorgehen und -springen.

Wörter, die falsch verwendet werden
LohnenswertDieses leider viel verwendete Wort gibt es eigentlich gar nicht. Denn was sollte schon des Lohnens wert sein? Unbegreiflicherweise verwenden dennoch immer mehr schreibende Menschen dieses Unwort anstelle von „lohnend“. Mittlerweile steht es sogar im Duden. Vergessen Sie diesen sinnlosen Wortbastard. Das wäre sehr lobenswert. Quelle: Fotolia
Public ViewingSehr viele Lehnwörter aus dem Englischen werden im Deutschen sinnentstellt gebraucht. "Public Viewing" bedeutet keineswegs, dass sich viele Menschen gleichzeitig auf einem Riesenbildschirm Fußballspiele ansehen. "Public Viewing" ist nämlich tatsächlich das  öffentliche Zurschaustellen eines zu Tode gekommenen Menschen, um seine Identität festzustellen. Quelle: dpa
Scheinbar/ AnscheinendDie beiden Adjektive werden laufend verwechselt, obwohl der Unterschied nicht kompliziert ist: „Scheinbar“ bezeichnet einen Sachverhalt, der wahr zu sein scheint, es aber nicht ist. Wenn dagegen alle möglichen Indizien für einen Sachverhalt sprechen, aber keine Beweise vorliegen, ist er "anscheinend" zutreffend. Quelle: Fotolia
BusenIm Alltagsgebrauch wird der Busen mit den Brüsten einer Frau gleichgesetzt. Tatsächlich ist er in seiner Ursprungsbedeutung nichts anderes als das Tal zwischen den Brüsten. Das Dekolleté, mit anderen Worten. Quelle: dpa
KultEin alter VW-Käfer gilt als Kult-Auto und "Vom Winde verweht" als Kult-Film. Mit dem, was das Wort Kult eigentlich bedeutet, haben beide aber nur im entferntesten Sinne etwas zu tun. Ein "Kultus" (lateinisch) ist die Religionsausübung mit festgelegten Handlungen. So weit sollte man die Verehrung von Autos oder Filmen dann wohl doch nicht treiben. Quelle: dpa
sorgen"Die Gewinnwarnung sorgt für einen Kurssturz." Sätze dieses Musters liest man immer wieder. Schönes, korrektes Deutsch ist es nicht. Angebracht wäre vielmehr das Verb "verursachen". Das Verb "sorgen" passt dagegen zu Müttern und ihren Kindern oder Lehrern und ihren Schülern. Quelle: dpa
Guerillakrieg und HIV-VirusViele fremdsprachig-deutschen Neuworte sind nichts weiter als ein Pleonasmus, das heißt beide Wortteile bezeichnen in zwei Sprachen dasselbe. "Guerilla" heißt auf Spanisch der "kleine Krieg". Die La-Ola-Welle ist ein weiteres Beispiel. Ein verwandtes Phänomen ist das "HIV-Virus" - das V steht schon für Virus - und die ABM-Maßnahme, also die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme-Maßnahme. Quelle: AP

Übrigens: Auch Profis sind Nostalgiker. Die gute alte MAZ, die magnetische Aufzeichnung von Fernsehbeiträgen, hält mir ihrem Namen immer noch her. Obwohl längst ganz ohne Magnetbänder von Festplatte gesendet wird. Eigentlich müsste man in der Regie rufen: "Vom Server ab!" Aber das wird noch Generationen dauern.

Als wir in den Wintern der Achtziger mit der Familie einkaufen fuhren, ist mein Vater meist schon ins Auto eingestiegen, während meine Mutter noch dabei war, sich die Stiefel überzuziehen. Er wollte eben schon mal den Dieselmotor vorglühen. Sonst sprang der Wagen nicht an. Das dauerte dann schon mal eine gefühlte Minute. An klirrend kalten Tagen musste auch zweimal vorgeglüht werden.

Heute erledigt das Auto das so schnell und mitunter schon beim Einstiegen, so dass der Vorglüh-Vorgang nicht mehr der Rede wert ist. Keiner glüht heute mehr bewusst vor. In dem Sinne.

Aber das Wort Vorglühen lebt weiter: sich vor der eigentlichen Party preiswert warm saufen, um beim Ausgehen geringere Verbrauchswerte zu haben.

Diese deutschen Begriffe gibt es in anderen Sprachen

Ich kenne kein Wort, was sich so raffiniert durchgemogelt hat. Teens und Twens, die sich heute vor dem Ausgehen mit billigen Wodka-Mischgetränken aus dem eigenen Kühlschrank auf Pegel pushen, ahnen ja nicht einmal, dass sie diese Idee vom Vorglühen Rudolf Diesel zu verdanken haben. Ich bin mir sicher: Selbst, wenn der Diesel irgendwann vom Elektroauto abgelöst wird: Generationen werden weiter beim Vorglühen ihren Spaß haben. Nicht selten auch im Auto.

Benzin-Nostalgiker hingegen haben Pech: Der Choke ist schon tot.

Die neuen Aufsteiger

Apropos Elektroauto: Die Zapfsäule wird sterben. Statt zu tanken werden wir laden. Und Tankstellen mit Zapfsäulen werden zu Ladestellen mit Ladesäulen. Ladestellen! Und aus Tank&Rast wird Lad&Rast.

Zylinder, Auspuff, Zündung. Wir werden all diese Worte nicht mehr brauchen. Aber wir brauchen neue: Wie sagen wir dann statt Gas geben? Strom geben?

Ganz aktuell brauchen wir übrigens dringend ein neues Wort: Wie sollen wir diese skateboardgroßen elektrischen Rollbretter mit zwei Rädern nennen, die sich durch Körpergewichtsverlagerung steuern lassen? Obwohl es die Dinger längst im Handel gibt, herrscht Namens-Chaos: Smartboard (obwohl schon vergeben als Markenname für eine elektronische Tafel im Unterricht), Hoverboard (geklaut bei Zurück in die Zukunft und völliger Quatsch, weil das Board nicht schwebt), Mini-Segways, Segboards, Self-Balancing-Scooter, zweirädrige Balance-Boards? Weil ihre Akkus so gerne mal anfangen zu brennen und man damit kinderleicht schlimm stürzen kann, schlagen Leute bei einer Internet-Umfrage vor: Explodaboards oder Deathboards.

Aber da ist noch alles drin. Für jeden von uns die Chance, mit einer Idee sich selber ein Denkmal zu setzen. Es sei denn, die seltsamen Geräte verschwinden bald wieder vom Markt. Dann heißt es ganz klassisch weiterhin: zu Fuß gehen.

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