Werner knallhart

Von vorglühen bis zurückspulen: Alte Wörter recycelt

Wählscheibe, Testbild oder Walkman - diese Wörter kennen Kinder schon nicht mehr. Doch für neue Alltagsphänomene brauchen wir neue Wörter - und recyceln dafür einfach alte.

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Jüngst hatte ich das Vergnügen, Schülern einer Mittelstufenklasse ein bisschen Berufsberatung in Sachen "irgendwas mit Medien" zu geben. In solchen Fällen dränge ich das Gespräch gerne in die Richtung "Technik früher und heute". Denn dann kann ich immer einen meiner Lieblingsklassiker unterbringen: das Wort Wählscheibe. Sie sollten dann mal die leeren Gesichter der Teenager sehen. Erst, wenn man dazu die typisch kreisende Bewegung mit dem Zeigefinger macht und danach "takatakatakatak" sagt, scheint wenigstens einem Teil der Leute zu dämmern: Ja, in irgendeinem Schwarzweißfilm war mal sowas.

Erfindungen, die sich zu Recht gehalten haben
Disketten liegen auf einem Haufen Quelle: Fotolia
Tonbandgerät Quelle: Fotolia
Schallplatte Quelle: Fotolia
Schreibmaschinentastatur Quelle: Fotolia
Cessna 172 Quelle: Fotolia
Flipper Quelle: Fotolia
Stethoskop Quelle: dpa

Die Ausgestorbenen

Das Wort Wählscheibe ist tot. Stattdessen heißt es jetzt Tasten, Zahlenfeld und wenn es hoch kommt Knöpfe.

Auch andere Worte haben es nicht geschafft – schlicht, weil wir sie nicht mehr brauchen:

Ich hatte auf meinem Rucksack vor einiger Zeit einen Ansteck-Button. In der Berliner S-Bahn sprachen mich ein paar Jugendliche an: "Das sieht irgendwie gut designt aus. Was ist das denn?" Ich sag: "Das ist doch ein Fernseh-Testbild." Schon wieder diese leeren Teenagergesichter. Wenn man dann Sätze anfangen muss mit "früher, da gab es noch...", dann fühlt man sich selbst mit Ende 30 alt.

Das Testbild ist ersatzlos aus unserem Alltagssprachgebrauch verschwunden. Tot.

In den 80ern der Inbegriff mobiler Unterhaltungselektronik: Sonys Walkman. Quelle: REUTERS

Die Videothek zuckt noch, wird aber nicht mehr lange machen. Selbst in der mittleren Großstadt Bielefeld hat gerade dieser Tage die allerletzte Videothek für immer geschlossen. Die junge Schwester Mediathek hat es noch von der Stadtbücherei ins Internet geschafft. Aber für die Videothek kommt jede Hilfe zu spät.

Der Walkman ist auch hinüber. Sony hat es nicht geschafft, den Inbegriff mobiler Unterhaltungselektronik zu verteidigen. Früher war der Walkman wie Nutella und UHU Gattungsname. Googelt man heute nach Walkman, dann erscheinen lauter Bilder von Kassettenabspielgeräten aus den Achtzigerjahren. Heute sagt keiner mehr Walkman. Selbst echte Sony-Walkmans nennt man doch mp3-Player. Was für ein Niedergang.

Die Untoten

Es gibt aber Begriffe, die sich kurioserweise gehalten haben, obwohl sie ihrer Bedeutung nach keine Berechtigung mehr haben.

Diese Technik! Dinge, die Ihre Kinder nicht mehr kennen
Früher war alles besser? Von wegen. Wer heutzutage einen Reise buchen will, geht nicht als erstes in ein Reisebüro, sondern sucht im Internet. Dort gibt es alles, individuell zusammenstellbar und vom heimischen Rechner aus. Quelle: dpa/dpaweb
Können Sie sich erinnern, wann Sie das letzte Mal bei der Auskunft angerufen haben, weil Sie eine Telefonnummer nicht gefunden haben? Halt: Kennen Sie eine Nummer, bei der Sie anrufen könnten? Eben. Quelle: dpa
Erinnern Sie sich noch? Irgendwann landete die Abholkarte in der Post, mit der jeder Haushalt sein persönliches Exemplar des Telefonbuchs und der Gelben Seiten ausgehändigt bekam. Zwar gibt es die Papierausgaben immer noch. Doch vieles spricht für die digitale Ausgabe - Verfügbarkeit, Aktualität und Benutzerfreundlichkeit sind da nur drei Argumente. Quelle: AP
Im Bücherregal machen die dicken Wälzer natürlich schon was her. Doch selbst Duden und Wörterbücher sind online deutlich bequemer zu benutzen als auf Papier. Quelle: dpa/dpaweb
Saßen Sie in ihrer Jugend auch sonntags vor dem Radio, um während der Chartsendung die Lieblingslieder auf Kassette aufzunehmen? Wie groß der Ärger doch jedes Mal war, wenn der Moderator in die letzten Sekunden des Songs hineinquasselte. Und wie gehütet wurde die eigens für einen aufgenommene Kassette der ersten großen Liebe. Heute ist alles digital. Kaum noch Musiksammlungen, die man beim ersten Date in der eigenen Wohnung durchsuchen kann. Dabei war das doch die perfekte Methode, schon frühzeitig Konfliktpotenzial aufgrund unterschiedlicher Geschmäcker aus dem Weg zu räumen. Quelle: REUTERS
Wie aufwändig es das Fotografieren und Austauschen von Fotos doch einmal war. Jetzt gibt es Fotos fast nur noch digital und wer die Printvariante bevorzugt, bekommt sie innerhalb weniger Minuten ausgedruckt. Quelle: dapd
Wer heute einmal nicht telefonieren kann, hat entweder gerade ein leeres Akku oder gehört zu der Minderheit, die sich bewusst gegen ein mobiles Telefon entschieden hat. Auf die Idee, ein öffentliches Telefon zu benutzen, kommen daher die wenigsten, weshalb die Telefonsäulen in den vergangenen Jahren immer mehr aus dem Stadtbild verschwunden sind. Quelle: AP

Junge Leute fragen sich, warum man auflegt, wenn man ein Handygespräch beendet. Für sie sind Mobiltelefone der Standard, Festnetztelefone die Ausnahme. Und bei Letzteren stellt man das Mobilteil nach dem Gespräch in die Ladestation zurück. Dass man einen Hörer auf eine Gabel auflegt, um damit die Verbindung mechanisch zu unterbrechen, das gibt es höchstens noch in Büros. Dennoch nennt man den Druck auf die rote Beenden-Taste des Smartphones auflegen. Denn wie sollte man es sonst nennen? Gespräch beenden oder roten Knopf drücken? Viel zu lang. Auflegen: Passt dem Sinn nach null, ist aber kurz und unverwechselbar. Die Überlebensgarantie für das hübsche Wort auflegen.

Der Zigarettenanzünder ist ein echter Überlebensakrobat. Kein Mensch nutzt doch den Zigarettenanzünder zum Zigarettenanzünden. Selbst Raucher greifen doch zum Gasfeuerzeug. Trotzdem lebt der Zigarettenanzünder. Und zwar als Stromanschluss für Navis und Smartphoneladegeräte. Suchen Sie bei Amazon mal nach dem Begriff Zigarettenanzünder. Sie müssen gut hingucken, um zwischen den ganzen USB-Adaptern, Innenbeleuchtungen, Freisprecheinrichtungen, Kaffeezubereitern und Haartrocknern fürs Auto noch Geräte zu finden, mit denen man eine Zigarette anzünden kann. Aber der Begriff bleibt. Statt Autosteckdose. So wie das Handschuhfach das Handschuhfach bleibt. Auch, wenn wir doch alle mit nackten Händen lenken statt mit eleganten Autohandschuhen wie damals.

Recycling für die Zukunft

Was tun Sie, wenn Sie bei iTunes oder Netflix oder Amazon Video einen Film gucken und jemand neben Ihnen auf der Couch quatscht rein? Sie spulen zurück. Ganz ohne Band, das sich spulen ließe. Das Gleiche bei Musik aus dem Netz. Musikkassette und VHS leben in unseren Köpfen weiter. Und weil wir spulen praktisch exklusiv in der Unterhaltungselektronik verwenden, hält es sich dort wacker. Aber Achtung, es droht die Übermannung durch zurück-/vorgehen und -springen.

Wörter, die falsch verwendet werden
LohnenswertDieses leider viel verwendete Wort gibt es eigentlich gar nicht. Denn was sollte schon des Lohnens wert sein? Unbegreiflicherweise verwenden dennoch immer mehr schreibende Menschen dieses Unwort anstelle von „lohnend“. Mittlerweile steht es sogar im Duden. Vergessen Sie diesen sinnlosen Wortbastard. Das wäre sehr lobenswert. Quelle: Fotolia
Public ViewingSehr viele Lehnwörter aus dem Englischen werden im Deutschen sinnentstellt gebraucht. "Public Viewing" bedeutet keineswegs, dass sich viele Menschen gleichzeitig auf einem Riesenbildschirm Fußballspiele ansehen. "Public Viewing" ist nämlich tatsächlich das  öffentliche Zurschaustellen eines zu Tode gekommenen Menschen, um seine Identität festzustellen. Quelle: dpa
Scheinbar/ AnscheinendDie beiden Adjektive werden laufend verwechselt, obwohl der Unterschied nicht kompliziert ist: „Scheinbar“ bezeichnet einen Sachverhalt, der wahr zu sein scheint, es aber nicht ist. Wenn dagegen alle möglichen Indizien für einen Sachverhalt sprechen, aber keine Beweise vorliegen, ist er "anscheinend" zutreffend. Quelle: Fotolia
BusenIm Alltagsgebrauch wird der Busen mit den Brüsten einer Frau gleichgesetzt. Tatsächlich ist er in seiner Ursprungsbedeutung nichts anderes als das Tal zwischen den Brüsten. Das Dekolleté, mit anderen Worten. Quelle: dpa
KultEin alter VW-Käfer gilt als Kult-Auto und "Vom Winde verweht" als Kult-Film. Mit dem, was das Wort Kult eigentlich bedeutet, haben beide aber nur im entferntesten Sinne etwas zu tun. Ein "Kultus" (lateinisch) ist die Religionsausübung mit festgelegten Handlungen. So weit sollte man die Verehrung von Autos oder Filmen dann wohl doch nicht treiben. Quelle: dpa
sorgen"Die Gewinnwarnung sorgt für einen Kurssturz." Sätze dieses Musters liest man immer wieder. Schönes, korrektes Deutsch ist es nicht. Angebracht wäre vielmehr das Verb "verursachen". Das Verb "sorgen" passt dagegen zu Müttern und ihren Kindern oder Lehrern und ihren Schülern. Quelle: dpa
Guerillakrieg und HIV-VirusViele fremdsprachig-deutschen Neuworte sind nichts weiter als ein Pleonasmus, das heißt beide Wortteile bezeichnen in zwei Sprachen dasselbe. "Guerilla" heißt auf Spanisch der "kleine Krieg". Die La-Ola-Welle ist ein weiteres Beispiel. Ein verwandtes Phänomen ist das "HIV-Virus" - das V steht schon für Virus - und die ABM-Maßnahme, also die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme-Maßnahme. Quelle: AP

Übrigens: Auch Profis sind Nostalgiker. Die gute alte MAZ, die magnetische Aufzeichnung von Fernsehbeiträgen, hält mir ihrem Namen immer noch her. Obwohl längst ganz ohne Magnetbänder von Festplatte gesendet wird. Eigentlich müsste man in der Regie rufen: "Vom Server ab!" Aber das wird noch Generationen dauern.

Als wir in den Wintern der Achtziger mit der Familie einkaufen fuhren, ist mein Vater meist schon ins Auto eingestiegen, während meine Mutter noch dabei war, sich die Stiefel überzuziehen. Er wollte eben schon mal den Dieselmotor vorglühen. Sonst sprang der Wagen nicht an. Das dauerte dann schon mal eine gefühlte Minute. An klirrend kalten Tagen musste auch zweimal vorgeglüht werden.

Heute erledigt das Auto das so schnell und mitunter schon beim Einstiegen, so dass der Vorglüh-Vorgang nicht mehr der Rede wert ist. Keiner glüht heute mehr bewusst vor. In dem Sinne.

Aber das Wort Vorglühen lebt weiter: sich vor der eigentlichen Party preiswert warm saufen, um beim Ausgehen geringere Verbrauchswerte zu haben.

Diese deutschen Begriffe gibt es in anderen Sprachen

Ich kenne kein Wort, was sich so raffiniert durchgemogelt hat. Teens und Twens, die sich heute vor dem Ausgehen mit billigen Wodka-Mischgetränken aus dem eigenen Kühlschrank auf Pegel pushen, ahnen ja nicht einmal, dass sie diese Idee vom Vorglühen Rudolf Diesel zu verdanken haben. Ich bin mir sicher: Selbst, wenn der Diesel irgendwann vom Elektroauto abgelöst wird: Generationen werden weiter beim Vorglühen ihren Spaß haben. Nicht selten auch im Auto.

Benzin-Nostalgiker hingegen haben Pech: Der Choke ist schon tot.

Die neuen Aufsteiger

Apropos Elektroauto: Die Zapfsäule wird sterben. Statt zu tanken werden wir laden. Und Tankstellen mit Zapfsäulen werden zu Ladestellen mit Ladesäulen. Ladestellen! Und aus Tank&Rast wird Lad&Rast.

Zylinder, Auspuff, Zündung. Wir werden all diese Worte nicht mehr brauchen. Aber wir brauchen neue: Wie sagen wir dann statt Gas geben? Strom geben?

Ganz aktuell brauchen wir übrigens dringend ein neues Wort: Wie sollen wir diese skateboardgroßen elektrischen Rollbretter mit zwei Rädern nennen, die sich durch Körpergewichtsverlagerung steuern lassen? Obwohl es die Dinger längst im Handel gibt, herrscht Namens-Chaos: Smartboard (obwohl schon vergeben als Markenname für eine elektronische Tafel im Unterricht), Hoverboard (geklaut bei Zurück in die Zukunft und völliger Quatsch, weil das Board nicht schwebt), Mini-Segways, Segboards, Self-Balancing-Scooter, zweirädrige Balance-Boards? Weil ihre Akkus so gerne mal anfangen zu brennen und man damit kinderleicht schlimm stürzen kann, schlagen Leute bei einer Internet-Umfrage vor: Explodaboards oder Deathboards.

Aber da ist noch alles drin. Für jeden von uns die Chance, mit einer Idee sich selber ein Denkmal zu setzen. Es sei denn, die seltsamen Geräte verschwinden bald wieder vom Markt. Dann heißt es ganz klassisch weiterhin: zu Fuß gehen.

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