Fußball Mit High Tech zum EM-Sieg?

Ist der Erfolg auf dem Rasen planbar? Kamerabasierte Spielanalyse-Systeme sollen Deutschland zum Titel bei der Fußball-EM verhelfen.

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Das Spiel zwischen Manchester Quelle: AP

Im vornehmen Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel werden Fußballspiele in Zahlen, Daten und Fakten zerlegt. In dem 110 Quadratmeter großen Büro mit Blick auf den Rhein starrt Jens Urlbauer auf seinen Laptop. Der Geschäftsführer von Mastercoach sieht sich Videoszenen des Halbfinales der Champions League zwischen Manchester United und dem FC Barcelona an: Gerade hat sich Cristiano Ronaldo den Ball auf der linken Außenbahn erkämpft und stürmt jetzt Richtung gegnerischen Strafraum.

Obwohl der portugiesische Weltklassestürmer in Diensten von „Manu“ den Ball ganz eng am Fuß führt, erreicht er die fast unglaubliche Geschwindigkeit von 30 Kilometer pro Stunde. Ein Klick auf den Analysebildschirm zeigt Urlbauer das an. Das Tempo, das außer Ronaldos Teamkollege Wayne Rooney nur ganz wenige Angreifer im Spitzenfußball schaffen, setzt Barcelonas Verteidiger Gianluca Zambrotta so unter Druck, dass er den Ball nur unkontrolliert wegspitzeln kann. Er landet bei Manu-Mittelfeldmann Paul Scholes, der ihn aus gut 20 Metern zum Siegtreffer ins Tor wuchtet.

„Hoher Tempofußball, der den Gegner zu Fehlern provoziert und ihm keine Zeit lässt, seine Abwehr zu stellen, ist das Erfolgsgeheimnis im heutigen Fußball“, fasst Urlbauer wenige Tage vor der Eröffnung der Fußballeuropameisterschaft in Österreich und der Schweiz die wichtigste Erkenntnis aus seinen zahllosen Spielauswertungen zusammen. Darauf wäre vermutlich auch noch der interessierte Fußball-Laie gekommen. Doch kamerabasierte Spielanalyseprogramme wie Mastercoach bieten Trainern und Managern weit aufschlussreichere Details: Zweikampfverhalten, Ballbesitz, Fehlpässe, Stationen im Spiel, Laufleistung und Laufgeschwindigkeit – nichts bleibt dem System verborgen. Der Fußball und die 22 Akteure auf dem Rasen werden gläsern. Die Trainer hoffen, so die geheime Ordnung des Getümmels auf dem Rasen zu entdecken. Das Ziel: Tore und Erfolg sollen planbar werden. Bei der Europameisterschaft setzen unter anderem das deutsche und das österreichische Nationalteam auf das System.

Der technische Aufwand dafür ist enorm. Acht wärmeempfindliche Sensoren unter den Tribünendächern messen beim Amisco-Pro-System von Mastercoach 25-mal pro Sekunde jede Bewegung der Spieler auf dem Rasen. Die Laufmuster werden mit den Bildern von der Fernsehübertragung kombiniert. Schon tags darauf liegt die Analyse vor, gespeichert auf einer DVD. In farbig aufbereiteten Diagrammen und Spielfeldanimationen erfährt der Trainer jedes Detail über die Höchst- und Durchschnittsgeschwindigkeit jedes Spielers, die Verschiebebewegungen im Mittelfeld, die Härte der Pässe, das Zweikampfverhalten, die Abstände zwischen den Spielern in der Vierer-Abwehrkette und die Varianten bei Eckbällen und Freistößen. Urlbauer begreift sich dabei nur als Faktenlieferant: „Die Interpretation überlassen wir dem Trainer.“

Die Installation des Systems kostet einmalig 30 000 Euro; für die Spielaufbereitung auf DVD werden pro Saison bis zu 60 000 Euro fällig. „Am liebsten hätten die Trainer das detaillierte Material schon für die taktische Neuausrichtung in der Halbzeitpause“, weiß Urlbauer. „Aber so schnell geht es noch nicht.“

Umkämpfter Markt der Fußball-Analysesysteme

Der junge Markt für die Spielanalysesysteme ist umkämpft. In der Ersten Fußballbundesliga hat das Dortmunder Unternehmen Sports Analytics, das einen bis 2009 gültigen Exklusivvertrag mit der Deutschen Fußball-Liga (DFL) abgeschlossen hat, die meisten Kunden, darunter Bayern München, Werder Bremen, Schalke 04 und der VfL Wolfsburg. Die Westfalen dürfen alle 306 Partien einer Saison aufzeichnen – aus der Totalen vom gesamten Spielfeld. Die Trainer erhalten direkt nach dem Spiel das Rohmaterial. Am nächsten Morgen liegen alle gewünschten Analysen vor. „Manche Trainer wollen nur zehn Werte haben, andere bis zu 30“, sagt David Rosenkranz von Sports Analytics.

Als Neuerer tat sich in der abgelaufenen Saison Wolfsburgs Trainer und Manager Felix Magath hervor. Er führte seinen Spielern schon in der Halbzeit entscheidende Spielszenen vor. Die Dortmunder kassieren pro Saison zwischen 50 000 und 100 000 Euro für ihren Service.

Mastercoach arbeitet neben dem Deutschen Fußballbund (DFB) mit Leverkusen, Dortmund, Stuttgart, Hamburg und mehreren Zweitligisten zusammen. Europaweit ist das mit der Universität Nizza entwickelte System in 45 Arenen installiert, vor allem in England, Italien, Spanien und Frankreich. Dort nutzen Top-Teams wie Manchester United, Chelsea London, Olympique Marseille und Real Madrid das Datenmaterial. Mit bis zu 80 DIN-A4-Seiten Fakten kann Urlbauer die Trainer pro Spiel bombardieren. Entscheidend ist aber die visuelle Aufbereitung. „Um zu erklären, warum die Viererkette sich falsch bewegt, braucht der Trainer Videobilder und Laufwege.“

Trotz der Sammelwut bleibt vieles ein Mysterium. Ein Team kann beispielsweise 60 Prozent der Zweikämpfe gewonnen haben und verliert trotzdem 0:1.

An der Deutschen Sporthochschule in Köln versucht Professor Joachim Mester den verborgenen Mustern des Spiels auf die Spur zu kommen. In Zusammenarbeit mit IBM plant er, die Fußballdaten einem sogenannten Data Mining zu unterziehen. Die Frankfurter Börsenaufsicht nutzt solche Verfahren beispielsweise, um Insidergeschäfte aufzudecken. Das Ziel ist, in dem Wust aus Zahlen und Fakten vorher unbekannte Zusammenhänge zu entdecken. „Früher hielten wir schließlich auch das Wetter für zufällig“, sagt Mester.

Ordnung in das unübersichtliche Treiben auf dem Rasen zu bringen, ist ähnlich aufwendig wie die Vorhersage von Regen und Sturm. Pro Spiel erfasst die Master-coach-Software bis zu 3000 Aktionen mit Ball – vom Torwartabwurf über den Pass in die Tiefe des Raums bis zum Torschuss. Dazu kommen rund 2000 Sprints und Positionswechsel ohne Ball. Wenn 22 Spieler auf 7000 Quadratmeter Fläche 90 Minuten lang einem Ball nachjagen, gibt es eine fast endlose Zahl von Spielvarianten.

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