Ein Mundstück, das per Kabel mit der Kamera verbunden ist, übersetzt die Aufnahmen in elektrische Impulse auf der Zunge. Filmt die Kamera etwa eine Tasse, malen Elektroden die Form dieser Tasse mit einer Auflösung von 400 dpi auf die Zunge. Der Nutzer erlebt das Bild als Vibration. Nähert er sich der Tasse, verstärkt sich die Stimulation, das Muster auf der Zunge wächst.
„Wenn die Augen nicht als Sensor für visuelle Reize zur Verfügung stehen, sucht sich das Gehirn eine Alternative. Blinde übertragen die Informationen über die Zunge direkt in die Sehrinde“, sagt der Vorstandsvorsitzende von Wicab, Robert Beckman.
Doch woher weiß ein blinder Mensch, wie eine Tasse aussieht? Wer erst im Laufe seines Lebens erblindet ist, erinnert das Objekt. Wer seit der Geburt blind ist, ertastet sich Objekte oder stellt sie sich auf Basis von Schilderungen vor. Notwendig sei Übung, sagt Beckman. „Wer mit der Brille sehen will, braucht Zeit. Es geht darum, die Muster richtig zu interpretieren, das ist als ob man eine neue Sprache lerne.
Mit viel Fleiß ist laut Beckmann dann aber vieles möglich. Blinde könnten sicher navigieren, kurze Wörter lesen oder sogar Darts spielen, wie er dem Portal Bloomberg Business sagt. Was nach Alice im Wunderland klingt, scheint zu funktionieren. Studien zeigen, dass 69 Prozent von 74 Testpersonen nach einem Trainingsjahr Objekte erkennen konnten.
Die Technologie ist in Deutschland zwar verfügbar, hat mit 10.000 Dollar, das sind etwa 9.200 Euro, aber ihren Preis. Beckmann hofft, dass sich künftig Krankenkassen an den Kosten beteiligen.
Wer nicht warten will, bis die smarten Brillen auf dem Markt oder bezahlbar sind, behilft sich mit dem Smartphone. Apps wie „Blindsquare“ informieren im Vorlesemodus, wo die nächsten Cafés, Supermärkte und Geschäfte sind. Mit der Kinoapp „Greta“ können Nutzer Audiodeskriptionen parallel zum Film anhören. „TapTapSee“ benennt Gegenstände auf Handyfotos, „Prizmo“ scannt und liest Dokumente vor. Beim Einkleiden hilft die Anwendung „ColorSay“ – sie erkennt Farben und verhindert ungünstige Kombinationen wie die braune Bluse zur schwarzen Hose.
Menschliche Helfer
Anders funktionieren Anwendungen wie „VizWiz“ oder „Be my Eyes“. Statt einer Software sind es Menschen, die helfen. Hat ein angemeldeter Nutzer etwa Schwierigkeiten, das richtige Klingelschild zu finden, schaltet er die App ein. Sie pingt die Helfer an, wer Zeit hat, meldet sich per Videochat. Der Selbsttest zeigt: Nach nur einer Minute steht die Verbindung zu einem Helfer, der leicht erkennt, worauf die Handykamera gerichtet ist. In unserem Fall: Ein Tischventilator.
Die dänische Non-Profit-App Be my Eyes nutzen in Deutschland etwa 13.000 Menschen. Weltweit bieten rund 260.000 Menschen ihre Unterstützung an, ohne finanziellen Nutzen.
Die Beispiele zeigen, wie die Digitalisierung Barrieren für Sehbehinderte oder Blinde umschiffen kann.
Zwar sind längst nicht alle Apps und Webdienste brauchbar. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) empfiehlt, sich etwa auf dem „Informationspool Computerhilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte“, kurz INCOBS, zu informieren. Fachleute testen dort, was Geräte, Software und Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte tatsächlich leisten.
Dennoch könnte das Interesse an den digitalen Helfern wachsen. Eine Schätzung nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht in Deutschland von etwa 1,2 Millionen blinden oder sehbehinderten Menschen aus. Die demographische Entwicklung könnte die Zahl der Betroffenen erhöhen. Denn die altersbedingte Makuladegeneration ist in den westlichen Industrieländern die häufigste Ursache für eine Erblindung.