Hannah Thompson liebt französischen Käse. Doch der Gang zur Fromagerie am wuseligen Covered Market in Oxford frustriert die Britin. Auf dem Weg lauern Hürden wie Mülltonnen, Haltestellen oder Passanten. An der Käsetheke kann sie die Preisschilder nicht lesen oder auf welche Sorte der Verkäufer gerade deutet. Denn Hannah Thompson ist blind.
Doch als sie eine Brille aufsetzte, die Forscher der Universität Oxford unter der Leitung des Neurowissenschaftlers Stephen Hicks entwickelt haben, konnte sie plötzlich sehen. Sie war zwar immer noch blind, erkannte aber die zylindrische Form ihres Lieblingsziegenkäses, einem Crottin de Chavignol. „Es lagen gleich drei Stück in der Käsetheke“, schreibt sie auf ihrem Blog.
Mit den SmartSpecs auf der Nase konnte sie dem Käsehändler sogar zeigen, von welcher Sorte er mehr absäbeln durfte. Auch das Wechselgeld aus dem Portemonnaie zu fischen, fiel ihr leicht. Nur wiederwillig gab sie die Brille nach dem Test zurück.
Die Grenzen der Technik
In den SmartSpecs sind 3D-Kameras verbaut, die ursprünglich für die Spielkonsole Xbox entwickelt wurden. Sie stellen Objekte in der Nähe, wie den Käse, scharf und verdunkeln den Hintergrund. So entsteht ein starker Kontrast. Weiß auf schwarz erscheinen nun, für den Blinden zuvor unsichtbar, Schränke, Menschen, Stühle oder Käsestücke auf der Innenseite der Brillengläser.
Hannah Thompsons Testlauf liegt ein Jahr zurück. Inzwischen zeigen die Smartspecs Objekte genauer.
Cyborg-Technologien
Neil Harbisson gilt als der erste Cyborg der Welt, ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. Der Katalane hat einen Chip in seinem Hinterkopf installiert, der mit einem Farbsensor neben seinem Auge verbunden ist. Er ermöglicht ihm, Farben zu hören.
Harbisson ist seit seiner Geburt völlig farbenblind, er sieht alles in schwarz-grau Schattierungen. Dank des elektronischen Sensors kann er nun mehr Farben unterscheiden, als es das menschliche Auge kann. 2010 hat er die Stiftung Cyborg gegründet.
Auch der kanadische Informatiker Steve Mann ist einer der Ersten seiner Art. Der Professor an der Universität von Toronto wird als Vater von Wearable Computern bezeichnet. Er trägt selber seit Jahren ein Gerät, das seine Sehfähigkeit verbessern soll, ohne medizinische Notwendigkeit. Bislang waren seine Erfindungen stets reine Forschungsobjekte.
Nun hat Mann ein Gerät entwickelt, das markttauglich sein könnte: EyeTap. Es wird vor dem Auge getragen und mischt die Lichtstrahlen, die auf das Auge treffen mit künstlich erzeugten. Im Gegensatz zu Brillen, wie etwa Google Glass, die mehr ein Miniaturprojektor vor dem Auge sind, kann EyeTap verändern, was der Nutzer sieht.
Wer die bittere Pille schon einmal schlucken muss, soll dabei wenigstens einen Zusatznutzen haben, dachte sich die US-Firma Proteus Digital Health, die unter anderem mit dem Schweizer Pharmakonzern Novartis zusammenarbeitet. Sie entwickelt Pillen, die neben dem Heilmittel zusätzlich noch einen kleinen Sensor in sich tragen. Er soll dem Patienten Feedback darüber geben, wie er das Medikament verträgt und ob er es auch wirklich regelmäßig nimmt. Dies soll auch Familienangehörigen bei der Pflege helfen.
Die Firma Vancive stellt unter dem Namen Metria ein intelligentes Pflaster her, dass neben körperlichen Aktivitäten unter anderem auch den Blutdruck misst. Es wird von der Deutschen Telekom in Zusammenarbeit mit Medisana angeboten. Die Daten werden im Internet gespeichert und sollen dem Arzt helfen, Lebensgewohnheiten der Patienten besser einzuschätzen und Tipps zu geben.
Auch Branchenriese Google will den Trend nicht verpassen. Das US-Unternehmen hat Anfang des Jahres bekanntgegeben, an Kontaktlinsen zu arbeiten, die über Sensoren den Blutzuckerspiegel von Diabetikern messen können. Der Konzern hat sich bereits ein elektronisches Tattoo patentieren lassen, das mit Smartphones verknüpft werden kann.
Einen Wermutstropfen gibt es: Nicht jedem werden die SmartSpecs nutzen, wenn sie wie geplant 2016 auf den Markt kommen. Es braucht einen kleinen Rest an Sehkraft, da die Brille mit Lichtkontrasten arbeitet.
Schätzungen zufolge nehmen 90 Prozent der Blinden Licht aber in geringem Maße wahr. Sie könnten mit der Brille ihren Alltag einfacher meistern und gesellschaftlicher Isolation entfliehen, glaubt SmartSpecs-Entwickler Hicks.
Mit seiner Einschätzung ist der Forscher nicht allein. Das Projekt hat 2014 die mit umgerechnet 718.000 Euro dotierte Google Impact Challenge gewonnen. Mit dem Geld arbeiten Hicks und sein Team weiter an den Prototypen. Er schätzt, dass die smarte Brille nach der Testphase so viel kosten wird, wie ein hochwertiges Smartphone. Aber nicht mehr als 300 Pfund, also etwa 430 Euro.
Dafür schrauben die Forscher aber noch am Design. Denn bislang sieht die Hightech-Hilfe aus wie eine überdimensionierte Lesebrille von Commander Laforge aus Star Trek.
Auch andere Unternehmen versuchen sich an High-Tech-Lösungen für Blinde. Kurios klingt, was die US-amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde (FDA) gerade auf den heimischen Markt gelassen hat: Eine Technologie, die es erlaubt, mit der Zunge zu sehen. Das verheißt zumindest die Firma Wicab Inc. aus dem US-Staat Wisconsin mit ihrem „BrainPort V100“. Auch in dieser Brille steckt eine Kamera. Doch das System funktioniert anders.