Sieht so der Einkaufsbummel der Zukunft aus? Kunden hangeln sich an Seilen durch Shoppingcenter, jagen wie Indiana Jones zwischen Geschäften hin und her. Wer am geschicktesten ist, kann Preise wie coole Outdoorjacken oder robuste Trekkingschuhe gewinnen.
Einkaufen als actiongeladenes Abenteuer – Maximilian Volkenborn und Bastian Wolff machen es möglich. Zwar nur virtuell, aber dafür in einer ebenso faszinierenden wie fesselnden Qualität. Für den Trip durch ihr im Rechner entstandenes Shoppingcenter nutzen die Studenten des Studiengangs Retail Design an der Fachhochschule Düsseldorf eine neue Generation von Virtual-Reality-Brillen. Die liefern erstmals schnell genug brillante Bilder, die einen realitätsnahen, fast perfekten Rundumblick im Cyberspace erlauben.
Damit geht endlich in Erfüllung, was die Protagonisten der Virtual Reality (VR) seit mehr als zwei Jahrzehnten versprochen haben – bisher aber nicht massenmarkttauglich einlösen konnten: Wer die Brillen aufsetzt, hat das Gefühl, regelrecht in die künstlichen Welten einzutauchen. Immersion nennen Forscher den Effekt. Der virtuelle Sprung aus einem Flugzeug etwa kann dann ganz real für einen mächtigen Adrenalinkick sorgen – selbst wenn der Nutzer sich gar nicht von seiner Couch bewegt.
Wichtigster Treiber der Entwicklung ist das US-Start-up Oculus VR, das mit seiner Brille Oculus Rift den längst abgeschriebenen Virtual-Reality-Traum wieder belebt hat. Sein Gründer Palmer Luckey, ein 21-jähriger Student am Institute for Creative Technologies der University of Southern California, hat mit seinem Team gleich zweierlei vollbracht: einerseits der Technik einen enormen Leistungsschub verpasst und anderseits die Geräte drastisch verbilligt. Wer will, kann sich eine der Brillen für gerade mal 350 Dollar vorbestellen.
Dabei ist das Realitätsgefühl, das die Rift vermittelt, gewaltig. Auf dem Festival der digitalen Avantgarde South by Southwest im texanischen Austin soll eine Testerin sogar eine Panikattacke bekommen haben. In der Simulation einer Szene aus der TV-Serie „Game of Thrones“ wurde sie Hunderte Meter hochkatapultiert. Die Frau litt aber unter Höhenangst.
Es ist die Neuerfindung des digitalen Raums – mit kaum absehbaren Folgen: Das faszinierende Eintauchen in die Cyberwelten wird verändern, wie wir spielen, Filme konsumieren oder reisen. Auch wie wir künftig mit Geschäftspartnern kommunizieren, wird sich wandeln.
Statt herkömmlicher Videokonferenzen können Avatare, also Abbilder unserer Körper, im virtuellen Raum zusammensitzen – möglicherweise vernetzt via Facebook. Daneben können Cybervorlesungen das Lernen revolutionieren, die lebensechte Visualisierung von Bauten die Konstruktion von Häusern und virtuelle Malls unsere Art zu konsumieren.
Durchbruch der virtuellen Realität wird erwartet
Der Kauf von Oculus durch Facebook Ende März dürfte so etwas wie die Initialzündung für den Durchbruch der virtuellen Realität sein. Dabei ist die Brille nicht mal serienreif – Luckey verkauft bisher nur Prototypen an Entwickler. Trotzdem blätterte Mark Zuckerberg, der Chef des sozialen Netzwerks, 2,3 Milliarden Dollar für die Firma hin. Die Rift könnte etwa virtuelle Klassenräume erschaffen, begründete Zuckerberg seine Megawette auf den Erfolg seines Kaufs. In Cybermuseen könnten sich Freunde verabreden, selbst wenn sie in verschiedenen Erdteilen lebten.
Dass das mehr als kühne Visionen sind, glauben die Experten der US-Marktforschung Kzero. Nach ihren Hochrechnungen dürfte der Absatz von Cyberbrillen von 200.000 Stück in diesem Jahr bis 2018 auf knapp 24 Millionen steigen.
Auch weil die etablierten Technikriesen Oculus das Feld nicht alleine überlassen wollen: So arbeiten neben dem japanischen Elektronikkonzern Sony auch Microsoft und gerüchteweise Samsung an entsprechenden Headsets, die Endkunden bald in den virtuellen Raum schleusen sollen. Bei Sony haben die Cyberbrillen den Codenamen Project Morpheus. Erste Tester konnten damit an der Spielkonsole Playstation 4 bereits durch die Galaxie fliegen und im Spiel Eve Valkyrie Jagd auf feindliche Raumschiffe machen.
Damit knüpft Sony an Spielkonzepte an, wie sie schon in den Neunzigerjahren entwickelt wurden – etwa für den Virtual Boy von Nintendo. Dass der scheiterte, lag nicht einmal an der pixeligen Grafik oder der bizarren Form, die mehr einer Schuhschachtel als einer Brille ähnelte. Entscheidender Nachteil des Geräts: Vielen Daddlern wurde nach kurzem Spiel speiübel.
Grund dafür: Im Inneren der VR-Brillen gibt es für jedes Auge kleine Monitore. Deren Bilder sind perspektivisch leicht versetzt, was dem Gehirn eine dreidimensionale Realität vorgaukelt. Sensoren registrieren jede Bewegung des Kopfes und lassen die Grafik entsprechend mitwandern. Folgt das virtuelle Bild dabei mit einer geringen, aber erkennbaren Verzögerung dem räumlichen Empfinden des Hirns, reagiert der Körper oft mit Übelkeit.
„Es gab zwar auch in den Neunzigern schon hoch entwickelte Brillen“, sagt Johannes Behr, Leiter der Abteilung Visual Computing System Technologies beim Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) in Darmstadt. „Aber die kosteten mindestens 100.000 Euro.“ Die Entwickler der Oculus Rift, loben Experten, haben das Brechreiz-Problem nun erstmals zu massenmarkttauglichen Preisen gelöst. Ein Grund ist ausgerechnet der Siegeszug der Smartphones. Sie sind voll mit Raumsensoren, kontraststarken Displays und leistungsfähigen Prozessoren – alles Grundbausteine der Rift.
Niedriger Preis und technische Finessen sind aber nicht die einzigen Voraussetzungen, damit Virtual Reality endlich am Massenmarkt reüssiert. „Es muss auch entsprechende Anwendungen geben“, sagt IGD-Experte Behr. Und auch da hat sich seit den Neunzigerjahren eine regelrechte Revolution ereignet: Handys, Tablets und Scanner liefern reichlich 3-D-Daten. Für jeden.
Schöner shoppen und realistischer daddeln
Wie also sieht er aus, der Alltag, in dem die virtuelle Realität die Entwicklerlabore verlassen hat und Teil des Alltags von Millionen Menschen ist? Die wichtigsten Trends:
Schöner shoppen
Es war ein alter Chesterfield-Sessel, auf den die Studenten Volkenborn und Wolff im Februar die Besucher der Einzelhandelsmesse Euroshop in Düsseldorf baten. Wer Platz nahm und eine Oculus Rift aufsetzte, tauchte in die Zukunft ein und fand sich in der virtuellen Einkaufswelt Vector Shop wieder. „Die Reaktionen waren gewaltig“, sagt Volkenborn, „viele konnten nicht glauben, wie gut die Simulation ist. Es ist, als wären Sie wirklich in einem Einkaufszentrum.“
Drei Monate programmierten Volkenborn und Wolff an ihrer Cyberwelt – und arbeiten nun an Geschäftsmodellen. „Wir überlegen, Ladenflächen an Händler zu vermieten“, sagt Wolff. Platz ist reichlich, denn physische Gebäudegrenzen gibt es im Vector Shop nicht. Professor Rainer Zimmermann, der das Projekt Vector Shop an der FH Düsseldorf betreut, kann sich Modelle der virtuellen Mall sogar in ganz realen Einkaufsstraßen vorstellen. „Wenn der Kunde die Datenbrille im Geschäft aufsetzt und das Sortiment sieht, reichen zehn Quadratmeter Geschäftsgröße und ein großer Lagerraum dabei.“ Findet der Kunde Gefallen an einem digitalen Kleidungsstück, kann der Verkäufer das reale Pendant aus dem Lager holen. „Ich kann mir gut zwei bis drei solcher Minigeschäfte etwa auf der Königsallee in Düsseldorf vorstellen“, erläutert Zimmermann.
Die Studenten und ihr Mentor wollen weiter aufrüsten. Ein Bodyscanner soll die Körper der Kunden vermessen und maßgeschneiderte Avatare kreieren, die die Kleidung dann virtuell vorführen. Angenehmer Nebeneffekt: Die passende Konfektionsgröße ist so rasch gefunden.
Realistischer daddeln
Der virtuelle Einkaufsbummel erinnert nicht umsonst stark an Computerspiele. Geht es nach den Prognosen der Marktforscher, wird das Haupteinsatzgebiet der neuen Brillen vor allem eines sein: Spiele.
Erste Exemplare können Neugierige im Netz schon ausprobieren. Besonders beliebt: rasante Achterbahnfahrten, Renn- und Flugsimulationen. Fallschirmsprünge hat etwa der Student Dan Borenstein aus New York mithilfe der Rift erlebbar gemacht. Um das Gefühl der Immersion noch zu verstärken, hat er sich für ein Demo-Video zusätzlich an Seilen fixiert und baumelt samt Headset über dem Boden. Oculus-Gründer Luckey soll dem Tüftler zu seinem Einfall gratuliert haben.
Nicht nur aus kindlicher Begeisterung für Tempo und Gefahr setzen Spielentwickler auf solche Simulationen. Gerade jene Szenarien, in denen sich der Kopf frei bewegen kann, der Körper aber – etwa in Rennwagen – von anderen Kräften beeinflusst wird, bieten das stärkste Immersionsgefühl. Sobald der Spieler nach einem echten Controller greifen muss, um im Cyberraum vorwärtszukommen, schwindet das Gefühl der Unmittelbarkeit merklich.
Schneller lernen, besser forschen und bequemer konstruieren
Schneller lernen
Mit den Headsets lässt sich aber nicht nur ein virtueller Freizeitpark schaffen, sondern auch der harte Alltag simulieren.
Und das auf durchaus drastische Weise: Menschen liegen verletzt am Boden, andere irren ziellos herum. Rauchschwaden ziehen vorbei. Egal, wohin der Anwender in diesem Szenario blickt, findet er Chaos vor. Das Szenario soll Notärzte auf ihren Einsatz vorbereiten. „Wir simulieren mit dem Programm Großeinsätze wie den Crash von Zügen“, sagt Philipp Slusallek, Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken und Professor für Computergrafik. Die Retter lernen so, Großeinsätze zu koordinieren. Der Vorteil des Programms liegt auf der Hand: Was sonst Hunderte von Statisten benötigte, simulieren Avatare wesentlich kostengünstiger – und drastischer.
Ein Vorbild für die virtuellen Räume ist wiederum ein Projekt der Forscher vom Fraunhofer IGD. Die hatten bereits 1999 den Dom von Siena dreidimensional simuliert. Seither führen 3-D-Avatare Historiker oder Architekten durch den gotischen Prachtbau. Künftig dürften die virtuellen Spaziergänge und Reisen noch um einiges realistischer werden. Das US-Unternehmen Virtuix entwickelt etwa Laufbänder, mit denen Benutzer sich im virtuellen Raum realitätsnah fortbewegen können.
Besser forschen
Auch die Wissenschaftler selbst bedienen sich der Möglichkeiten der Immersion. So hat etwa das DFKI ein Programm entwickelt, das Chemiker mithilfe von VR-Headsets bei ihrer Arbeit unterstützt. Mit der Brille können sie sich durch Molekülstrukturen bewegen und sie sich räumlich ansehen. „Der Rundumblick in dieser sonst nur zweidimensional dargestellten Struktur erlaubt den Forschern ganz neue Einblicke“, sagt DFKI-Experte Slusallek. „Die Wissenschaftler können dadurch Wirkungszusammenhänge besser erkennen.“
Auch die Medizin setzt zunehmend auf virtuelle Realitäten. Die Technik hilft Ärzten, Operationen zu planen, oder Medizintechnikern, Prothesen zu bauen. Sie macht anschaulich, wie Körpergewebe und die künstlichen Gliedmaßen sich vertragen. Das hilft, neue Materialien zu testen.
Bequemer konstruieren
Gerade Architekten interessieren sich für VR-Headsets, weil ihre Entwurfssoftware schon heute 3-D-Daten liefert, aus denen die Computer Cyberräume errechnen können. Das ermöglicht den Gang mit den Brillen durch die Bauten – noch in der Planungsphase. Fehler, die am zweidimensionalen Plan nicht ohne Weiteres zu erkennen sind, werden damit frühzeitig im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar.
Doch eine Software, die Forscher am DFKI zusammen mit der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes sowie mehreren Bauunternehmen entwickelt haben, erlaubt noch mehr als bloße Kontrollgänge durch geplante Häuser: Sie ermöglicht es, Gegenstände zu bewegen oder verschiedene Planungsvarianten nebeneinander anzuzeigen –lebensgroß . Das hilft auch, Missverständnisse mit den Bauherren frühzeitig zu vermeiden: Stimmt die Blickachse? Passt die Raumhöhe? Wie wirkt der Empfangsbereich auf Gäste? All das lässt sich mit der Cyberbrille betrachten, durchlaufen und beurteilen, so als stünde man mitten im fertigen Neubau.
Unmittelbares Agieren in der Cyberwelt
Noch müssen die Besucher ihre Bewegung im virtuellen Raum meist über gewöhnliche Steuergeräte von Spielkonsolen koordinieren. Doch Oculus etwa arbeitet auch hier an einer radikalen Verbesserung: So soll eine Kamera an der Außenseite der Brille die Bewegungen des Nutzers erkennen und automatisch auf den virtuellen Raum übertragen.
Es wäre der nächste Schritt der virtuellen Evolution; die Präsenz, das unmittelbare Agieren in der Cyberwelt.
Leichter kommunizieren
All das zeigt, es ist fast nur noch eine Frage des „Wie schnell?“ und nicht mehr des „Ob?“, wenn es darum geht, wie sich virtuelle und reale Welt optimal verbinden lassen. Einer der wichtigsten Treiber der Entwicklung wird sicher die Kommunikation der Menschen im virtuellen Raum sein.
Spätestens da wird klar, warum der Online-Riese Facebook ausgerechnet in das Hardware-Start-up Oculus investiert. „Es geht künftig in sozialen Netzen nicht mehr nur darum, Bilder mit anderen Menschen zu teilen“, sagte Oculus-Gründer Luckey jüngst dem US-Magazin „Wired“. „Es wird darum gehen, Erlebnisse zu teilen.“
Dass Facebook demnächst virtuelle Kulturreisen anbietet, bezweifelt VR-Spezialist Behr vom Fraunhofer IGD indes. „Zuckerberg wird wohl Ähnliches im Sinn haben wie das Internet-Spiel Second Life“, sagt der Forscher. 2003 sorgte die Cyberwelt für Furore. Dabei handelt es sich um eine 3-D-Simulation, in der sich Spieler seither als Avatare begegnen können. Ziele und Regeln gab es nicht.
„Schon damals begriffen viele Menschen die virtuelle Welt von Second Life nicht als Spiel, sondern als Erweiterung der Realität“, sagt Behr. Jetzt gibt es auch die passende Wiedergabetechnik dazu: Der Second-Life-Betreiber Linden-Lab hat eine Testversion des Spiels für die Oculus-Brille entwickelt.
Der vermutlich beste Indikator für die Massenmarktreife einer Technik aber stammt aus einem ganz anderen Bereich menschlicher Interaktion. Entwickler des japanischen Herstellers für Sex-Spielzeug Tenga wollen Treffen mit virtuellen Freudenmädchen realisieren. Screenshots zeigen leicht bekleidete Avatare, die dem Nutzer ihre Dienstleistungen anbieten.
Man mag diese Idee verstörend oder abstoßend finden. Doch die virtuelle Realität wäre nicht die erste Technik, die sich dank schmuddeliger Anwendungen durchsetzt. Auch der milliardenschwere und am Ende weitgehend jugendfreie Siegeszug der VHS-Videotechnik begann mit der Verfügbarkeit schlüpfriger Filmchen.