Angst vor Super-GAU Aachener Jodverteilung schützt wie ein Cocktailschirmchen

In Aachen werden ab heute Jodtabletten verteilt. Wenn es im belgischen Atomkraftwerk Tihange zu einem Reaktorausbruch kommen sollte, sollen sie vor den Folgen der Strahlen schützen. Das bringt nicht viel, beruhigt aber.

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In Aachen werden jetzt Jodtabletten verteilt. Quelle: dpa

In Aachen und der Umgebung kann man ab heute die online die Bezugsscheine für Jodtabletten beantragen. Bis jetzt läuft alles wie geplant. "Die Verteilung läuft sehr gut, wir sind zufrieden", sagt Rita Klösges von der Stadt. Allein in der Stadt Aachen seien bis mittags um eins etwa 1.300 Anträge eingegangen. Da die Anträge nach Haushalten und nicht nach Personen ausgeteilt werden, kann man nicht genau sagen, wie viele Leute die Jodtabletten bis jetzt in Anspruch nehmen wollen. Menschen, die den Bezugsschein beantragen, können mit diesem in umliegenden Apotheken kostenlose Jodtabletten bekommen.

Horrorszenario: Super-GAU in Tihange

Der Grund für die Aktion: Die Region Aachen und die umliegenden Gemeinden liegen nur ungefähr 70 Kilometer von dem maroden belgischen Atomkraftwerk Tihange entfernt. Ein eventueller Atomausbruch wäre das absolute Horrorszenario. Bei ungünstigem Westwind würden die radioaktiven Strahlen in wenigen Stunden direkt nach Deutschland getragen werden. Die Strahlen können im Ernstfall Schilddrüsenkrebs verursachen.

Deshalb reagiert die Gemeinde Aachen jetzt mit der präventiven Verteilung von Jodtabletten an ihre Bevölkerung. Diese sorgen dafür, dass der Körper mit genug Jod versorgt ist. Da sie mit den Tabletten „gesättigt“ ist, nimmt die Schilddrüse das radioaktiv verseuchte Jod nicht auf. Die Tabletten dürfen aber erst nach einem radioaktiven Unfall und nach Aufforderung der Strahlenschutzkommission des Bundes eingenommen werden, da sie nur wenige Stunden wirken. Eine vorzeitige Aufnahme der Tabletten ist daher sinnlos und im Zweifelsfall sogar schädlich. Personen, die älter als 45 Jahre sind, wird von einer Einnahme abgeraten, da mit steigendem Alter häufiger Stoffwechselstörungen der Schilddrüse auftreten. Sie bekommen kein Gratis-Jod, sondern sollten erst den Hausarzt konsultieren..

Bisher waren Tabletten in Aachen für den Fall einer möglichen Katastrophe im Uniklinikum deponiert. Dort sind auch immer noch genug Tabletten für den Ernstfall. Allerdings fürchtet man, dass es bei der Katastrophe nicht schnell genug gehen würde: „Je nachdem, wie das genaue Gau-Szenario aussieht, befürchten wir, dass wir es nicht schaffen die Jodtabletten rechtzeitig zu verteilen“, sagt Klösges.

Alle Belgier haben schon Jod

Doch die Verteilungsaktion ist keine Aachener Idee: Die belgische Regierung beschloss schon im Frühjahr vergangenen Jahres mit der Verteilung von Jodtabletten an alle elf Millionen Einwohner. Die belgische Regierung setzt mit dem Beschluss eine Empfehlung des belgischen Gesundheitrats um. Dieser hatte eine Verteilung von Jodtabletten an alle Menschen empfohlen, die in einem Umkreis von hundert Kilometern um eine atomare Einrichtung wohnen. Da Belgien aber mehrere Atomkraftwerke betreibt, wurde es als sinnvoller angesehen, alle Bürger vorzeitig mit Jod zu versorgen.

Die Umweltorganisation Greenpeace nannte die Maßnahme der belgischen Regierung im vergangenen Jahr "absurd": "Jodtabletten schützen etwa so gut vor einem Reaktorunfall wie ein Cocktailschirmchen vor einem Wolkenbruch", erklärte der Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital. Die einzig sinnvolle Lösung sei die Abschaltung der Reaktoren.

Kein Allheilmittel

Auch die Verteilungsaktion in Aachen geht Greenpeace nicht weit genug: "Eine Vorabverteilung von Jodtabletten an Haushalte macht unter bestimmten Aspekten Sinn. Zum einen gesundheitlich, zum anderen bekommt die Bevölkerung ein Bewusstsein für die Gefahr. Problematisch ist jedoch, dass den Menschen dadurch eine Erhöhung der Sicherheit vorgegaukelt wird die faktisch nicht existiert. Jodtabletten helfen nur bei den Symptomen, verhindern jedoch keinen Atomunfall", sagt Greenpeace Sprecherin Susanne Neubronner. Das weiß aber auch die Aachener Pressesprecherin: "Die Jodtablette schützen zwar vor Schilddrüsenkrebs, sind aber kein Allheilmittel", sagt Klösges.

Tatsächlich ist unklar, wie viel Sinn die Verteilung der Jodtabletten macht. Jodtabletten gibt es schon für wenige Euro rezeptfrei in der Apotheke. Diejenigen, die sich wirklich Sorgen machen, haben sich die Tabletten schon längst besorgt und müssen nicht mehr auf die Ausgabe warten.

Die Aktion läuft insgesamt drei Monate, bis zum 30. November. Die Anträge auf Bezugsscheine können allerdings nur bis zum 15. November gestellt werden.

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