Mit Vollmaske, Sauerstoffversorgung, gelben Helmen, orangefarbenen Overalls, Trennschleifern und unter grellem Licht zerlegen zwei Männer riesige Metallrohre. Im Inneren des abgeschalteten Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich bei Koblenz arbeiten sie in einem Zelt, aus dem die Luft abgesaugt wird, um die Ausbreitung radioaktiven Staubs zu vermeiden.
Wer ein AKW abreißen will, braucht Geduld. Schon seit 2004 läuft der Rückbau des Meilers Mülheim-Kärlich - und er könnte sich noch zehn Jahre hinziehen. Ziel ist die grüne Wiese. Die Bundesregierung hat nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 den Atomausstieg beschlossen - 2022 sollen die letzten deutschen Kernkraftwerke vom Netz gehen. Auch ihr Abriss dürfte laut dem Mülheim-Kärlicher AKW-Chef Thomas Volmar 15 bis 20 Jahre dauern.
Der Essener Energiegigant RWE hat in Mülheim-Kärlich Erfahrungen gesammelt, die ihm zunächst auch beim Abriss seines stillgelegten südhessischen AKW Biblis zugutekommen können. Noch in diesem Monat will Hessens Umweltministerium Priska Hinz (Grüne) dafür die Genehmigung erteilen.
Von außen ist bei einem AKW-Abriss viele Jahre nichts zu sehen: Die Arbeiten laufen vorerst innen, die markanten Kühltürme bleiben zunächst stehen, so auch bis heute der von Mülheim-Kärlich. Nach und nach zerlegen innen Arbeiter in Schutzkleidung einzelne Bestandteile, leeren Räume - und hängen immer wieder Lampen provisorisch neu auf. „Das ist ein Hausbau rückwärts“, erklärt RWE-Sprecher Jan-Peter Cirkel im einzigen rheinland-pfälzischen Kernkraftwerk, dessen Wanduhren um 13.00 Uhr stehengeblieben sind.
162 Meter ragt der weithin sichtbare Kühlturm von Mülheim-Kärlich in den Himmel, höher als der Kölner Dom. „Viele Ideen wie ein Parkhaus oder ein Eventturm wurden dafür an uns herangetragen“, erzählt AKW-Sprecherin Dagmar Butz. „Das Problem ist aber, dass er nur sein Eigengewicht trägt.“ So wie eine Eierschale. AKW-Chef Volmar sagt: „In diesem Frühjahr beginnen wir mit dem Abbau. Der Kühlturm wird spiralförmig von oben abgeknabbert.“ Bis 2018 werde das dauern.
Wie im Ausland die Atommüll-Kosten gestemmt werden
Die Atomkommission der Bundesregierung hat sich auf einen Vorschlag verständigt, wie die Finanzierung der Atommüll-Altlasten gesichert werden kann. In praktisch keinem Land Europas gibt es dafür so wenige Vorschriften, was die Vorsorge für Abriss der Meiler und Lagerung des strahlenden Mülls betrifft. Zwar gelten die von den Unternehmen gebildeten rund 40 Milliarden Euro Rückstellungen im europäischen Vergleich als hoch. Doch sie sind allein unter Kontrolle der Firmen und zudem in Kraftwerken oder anderen Anlagen investiert.Andere Länder haben schon vor Jahren Strategien entwickelt, wie die zurückgestellten Mittel gesichert, flüssiggemacht und notfalls aufgestockt werden können.
Das Land hat die meisten Atomkraftwerke in Europa, die alle von der staatlich dominierten EDF betrieben werden. Der Konzern ist gesetzlich verpflichtet, für die Entsorgungskosten in einem zweckgebundenen Fonds zu sparen. Das Geld muss nach festgesetzten Kriterien vorsichtig angelegt werden, was von einer nationalen Kommission überwacht wird. Die Offenlegung geht über normale Auskunftspflichten von Firmen hinaus. EDF darf dabei nur mit einer Verzinsung des Kapitals kalkulieren, die sich an einer Reihe vom Staat vorgegebenen Parametern orientiert. Zuletzt setzte EDF 4,6 Prozent an, wofür der Konzern allerdings eine Ausnahmegenehmigung in Anspruch nehmen musste. Zum Vergleich: Die deutschen Versorger kalkulieren mit einer Verzinsung ihrer Rückstellungen in nahezu der gleichen Höhe.
Ein Fonds, der von der Regierung verwaltet wird, soll sowohl die Ausgaben für Abriss der Meiler als auch die langfristige Lagerung des Mülls finanzieren. In den Fonds eingezahlt wird eine Abgabe der AKW-Betreiber, die etwa zehn Prozent der Strom-Produktionskosten beträgt. Die genaue Höhe wird jedes Jahr neu festgelegt. Dazu kann ein Risikoaufschlag von bis zu zehn Prozent der Gesamtsumme verlangt werden, um unerwartete Kostensteigerungen bei der Müll-Entsorgung abzufangen. Das Geld wird nach festgelegten Kriterien überwiegend in Staatsanleihen angelegt. Je nachdem, wie hoch die Rendite des Fonds in einem Jahr ausfällt, werden die Gebühren für den Müll erhöht oder gesenkt. Die Betreiber können sich bis zu 75 Prozent des Geldes aus dem Fonds zurückleihen, allerdings nur mit ausreichenden Sicherheiten. Geht ein Betreiber Pleite, muss der Steuerzahler allerdings für ihn einspringen.
Auch hier soll ein unabhängiger Fonds sowohl die Abrisskosten als auch die Mülllagerung finanzieren. Alle drei Jahre legen die Betreiber Kostenschätzungen vor, nach denen sich dann die Einzahlungen in den Fonds richten. Dazu wird für jedes einzelne Kraftwerk eine unterschiedliche Gebühr erhoben. Die Mittel im Fonds bleiben auf die einzelnen Betreiber aufgeteilt, eine Gesamthaftung gibt es nicht. Investieren darf der Fonds nur in risikoarme schwedische Anleihen und Festgeldanlagen. Sollten die Summen nicht ausreichen, müssen die Betreiber nachschießen. Der Staat darf auch einen Risikoaufschlag erheben, um sich gegen Pleitegefahr eines Betreibers abzusichern, hat das aber bislang nicht getan.
Das Land unterscheidet zwischen einem AKW-Stilllegungs- und einem Entsorgungsfonds. Beide Fonds stehen unter staatlicher Kontrolle. Die Verwalter entscheiden über Höhe der Beiträge sowie über die Anlagepolitik. Zuletzt wurde eine Sonderzahlung als Risikoaufschlag beschlossen. Alle fünf Jahre werden die erwarteten Entsorgungskosten neu berechnet und die Jahresbeiträge der Versorger angepasst. Sollten die Fondsanteile eines Versorger für die Altlasten nicht ausreichen und dieser nicht zahlungsfähig sein, müssen andere Betreiber bis zu einer Belastungsgrenze mithaften. Danach muss der Steuerzahler einspringen.
Der 1300-Megawatt-Reaktor Mülheim-Kärlich war bereits 1988 nach nur 13-monatigem Betrieb für immer vom Netz gegangen - nach einer Verfügung des Bundesverwaltungsgerichts. Bei den Planungen war die Erdbebengefahr nicht ausreichend berücksichtigt worden - ein milliardenschweres Fiasko. Rund 450 Männer und Frauen hat das AKW einst beschäftigt, das laut RWE ein Drittel von Rheinland-Pfalz mit Strom hätte versorgen können. Heute arbeiten hier inklusive Fremdfirmen etwa 100 Leute am Abriss.