Hochgeschwindigkeitszüge Ferrari auf Schienen

Mehr als je zuvor investieren Regierungen in den Hochgeschwindigkeitsverkehr auf der Schiene. Ein Milliardengeschäft für Bahnhersteller — mit immer neuen Rekorden. Doch der Tempowahn stößt an technische und wirtschaftliche Grenzen.

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Passengers walk by a TGV train Quelle: dpa

Den Weltrekord verkündet Ansgar Brockmeyer ausgerechnet durch einen knackenden Verstärker im Konferenzraum des St. Petersburger Kempinski Hotels: Der Velaro von Siemens sei „der schnellste Serientriebzug der Welt“, sagt der Chef der Sparte Schienenfahrzeuge. Es rauscht kurz. Doch die Botschaft ist klar: Bereits 2006 erreichte der neue Zug bei Testfahrten 404 Kilometer pro Stunde, so viel schafft kein anderer Schnellzug im Regelbetrieb. Brockmeyer ist in Russland auf Werbetour. Zum Start des Velaro auf der ausgebauten Schnellstrecke zwischen Moskau und St. Petersburg sollen Eisenbahnexperten aus aller Welt die neuesten Errungenschaften aus der Siemens-Produktwelt bewundern: stärkere Beschleunigung, bessere Bremsen, mehr Sitzplätze.

Ein Blick zurück zeigt eine andere Welt. Im Juli 2008 entgleiste vor dem Kölner Hauptbahnhof der ICE 3 „Wolfsburg“, hergestellt von Siemens und Bombardier. Fliehkräfte in Kurven und beim Beschleunigen haben mikroskopisch kleine Risse in der Achse unbemerkt verlängert, bis sie schließlich durch war. Vergangene Woche einigten sich Bahn und Hersteller nach langem Streit darauf, die 1200 Radsätze der ICE-3-Flotte auszutauschen — doch erst, wenn neue Antriebsachsen entwickelt worden sind. Bis der letzte Zug umgerüstet ist, wird es Jahre dauern.

Mehr denn je zeigen sich die Grenzen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs auf der Schiene — physikalisch, wirtschaftlich und politisch. Doch als sei nichts gewesen, berauschen sich führende Hersteller an einer Jagd nach immer neuen Superlativen: In den kommenden zwei Jahren werden Siemens, Alstom, Bombardier und Hitachi die nächste Generation ihrer Superzüge präsentieren. Und die sollen noch schneller und deutlich bequemer werden.

Weltweiter Ausbau

Politiker in aller Welt beobachten die Entwicklung mit großem Interesse. Denn immer mehr Länder setzen auf den Ausbau des superschnellen Bahnverkehrs: Heute gibt es weltweit rund 10.000 Kilometer Hochgeschwindigkeitstrassen. Weitere 8300 Kilometer befinden sich im Bau. Und in aller Welt planen Verkehrspolitiker weitere Strecken: 

 Spanien will Madrid mit Valencia, Alicante und Almeria noch schneller verbinden.Frankreich baut sein ohnehin dichtes Hochgeschwindigkeitsnetz aus, etwa zwischen Paris und Straßburg. Zudem ist eine komplett neue Strecke von Paris nach Bordeaux geplant. Start: 2015.Die Türkei will ein sternförmiges Netz mit Ankara als Mittelpunkt aufbauen — darunter die Neubaustrecke nach Sivas, 450 Kilometer östlich von Ankara.Die USA — derzeit noch bahnpolitisches Entwicklungsland — plant Tempo-Trassen für Florida, Texas und Chicago. Pendler sollen 2020 in etwas mehr als zwei Stunden von San Francisco nach Los Angeles kommen. Baubeginn der Strecke: 2012.Am ambitioniertesten sind die Pläne Chinas: Das Land investiert rund 300 Milliarden Dollar für Trassen mit einer Gesamtlänge von 6000 Kilometern. Kernstück sind vier Nord-Süd- sowie vier Ost-West-Verbindungen, darunter Strecken zwischen Peking und Guangzhou sowie Peking–Shanghai.

Wettrennen um den schnellsten Zug

Die Bahnhersteller wittern ein Riesengeschäft und bringen sich für weitere Großaufträge in Stellung. Die Vision der Manager: Sie wollen Fluggesellschaften Marktanteile abnehmen. Das Vorbild ist Spanien: Die mit dem ICE 3 artverwandten Velaro-Züge verbinden die Städte Barcelona und Madrid mit Tempo 300. Die 620 Kilometer schafft der Schnellzug in 2,5 Stunden. Das bewegte Tausende Pendler zum Umstieg vom Auto und Flieger in die Bahn:  Die Zahl der Fahrgäste verdreifachte sich, jeder zweite Reisende wählt inzwischen die Bahn.

Bald geht es noch zügiger. Siemens testet Züge, die Spaniens Metropolen mit Tempo 350 verbinden. Die Zulassung läuft, 2010 könnten sie in Betrieb gehen.

Doch das ist nur ein weiterer Schritt im Wettrennen um den schnellsten Zug. Alstom, Hersteller des legendären französischen TGV, peilt mit dem Nachfolger „Automotrice à grande vitesse“ (AGV) die Marke von 360 Kilometern pro Stunde an. Der private italienische Bahnbetreiber NTV, hinter dem Fiat-Verwaltungsratschef Luca Cordero di Montezemolo steht, bestellte 25 der neuen Super-TGVs. 2011 will er sie auf der Strecke zwischen Mailand und Rom ins Rennen schicken — rot lackiert als „Ferrari auf Schienen“.

Es geht allerdings noch schneller: Der kanadische Hersteller Bombardier baut gerade 80 Züge mit dem Namen Zefiro für China. Das Auftragsvolumen beträgt knapp drei Milliarden Euro. Die Züge sollen bereits ab 2012 verkehren. Und vor allem: Sie sollen 380 Kilometer pro Stunde schaffen.

Doch die hohen Erwartungen der Manager verstummen, sobald ihre Wünsche mit der Realität kollidieren. Technisch sind die Züge den Schienennetzen oft um zehn Jahre oder mehr voraus.

Fährtransport von Siemens-Velaro-Zügen

In der Theorie wären bei der 650-Kilometer-Strecke von Moskau nach St. Petersburg „Reisezeiten von knapp zweieinhalb Stunden möglich“, sagt Siemens-Manager Brockmeyer. Doch unter dem Namen „Sapsan“ — zu Deutsch: Wanderfalke — schafft die Russische Staatsbahn RZD nur eine Verkürzung um eine Dreiviertelstunde auf 3:45 Stunden mit einem Durchschnittstempo von 173 Kilometern pro Stunde. Die Spannung der 3000-Volt-Gleichstromleitung, die den Zug versorgt, ist für hohe Geschwindigkeiten zu gering. Die Oberleitungen würden heiß laufen.

Das ist ein besonders krasser Fall. Doch auch anderswo werden die Grenzen spürbar: Experten halten 400 Kilometer pro Stunde für das Limit — etwa auf europäischen Strecken von London nach Rom. Das ginge allerdings nur „im Idealzustand“, sagt Markus Hecht, Bahnexperte der Technischen Universität Berlin. Schnellere Züge würden sich nicht mehr lohnen.

Bei hohem Tempo verwandeln sich umweltfreundliche Schnellzüge zu unwirtschaftlichen Energiefressern. Das zeigt der Geschwindigkeitsrekord des TGV, der 2007 mit zwei zusätzlichen Loks 574 Kilometern pro Stunde schaffte. Die Loks verbrauchten 20 Megawatt Strom — weit mehr als doppelt so viel wie im Regelbetrieb. Würde so ein getunter TGV im normalen Verkehr eingesetzt, würde er noch deutlich mehr Energie aus dem Netz saugen: Im Versuch war die gezogene Last mit fünf Wagen nämlich eher gering.

Noch ungelöste Fragen

Die Physik ist für die Ingenieure das größte Problem: Der Luftwiderstand nimmt mit jeder Tempoerhöhung zu, aber nicht etwa linear, sondern im Quadrat. Das heißt: Jede Tempoerhöhung erfordert überproportional mehr Energie. Dafür bauen Ingenieure kräftigere Antriebsanlagen ein, die schwerer sind und einen noch höheren Energieeinsatz erfordern. Die Folge: Eine Verdopplung der Geschwindigkeit beispielsweise von 200 auf 400 Kilometer pro Stunde verachtfacht den Energieverbrauch. Irgendwann stelle sich „die Frage, ob man das bezahlen will“, sagt Experte Hecht.

Und nicht nur das: Es steigt auch der CO2-Ausstoß pro Passagier, der im Vergleich zum Auto noch bei einem Viertel liegt. Die Bahn verlöre ihren größten Wettbewerbsvorteil: ökologisches Reisen.

Verbesserungen an der Form der Züge, um den Luftwiderstand zu minimieren, sind zudem nur begrenzt möglich. Weil ICE & Co. auf beiden Seiten einen Triebkopf brauchen — etwa um Kopfbahnhöfe anfahren zu können — müssen die Hersteller „Kompromisse in der Aerodynamik“ eingehen, sagt Hecht. Windabrisskanten, die wie beim Auto am Heck störende Luftverwirbelungen verhindern, sind nicht möglich. Im Gegensatz zum Lärm, sagt Hecht, könne der Luftwiderstand „nicht optimal reduziert werden“.

Auch beim Thema Sicherheit stoßen Experten auf ungelöste Fragen. Die Deutsche Bahn schickt ihre ICE-Züge seit dem Unfall in Köln alle 30.000 Kilometer zur Ultraschalluntersuchung in die Werkstatt. Bahntechniker sollen Risse in Stahlrädern und -achsen rechtzeitig erkennen. Ursprünglich waren die Inspektionsintervalle alle 300.000 Kilometer angesetzt. Die verschärfte Wartung kostet die Bahn rund 350 Millionen Euro.

Siemens setzte die Maßstäbe

Doch trotz aller Sicherheitsvorkehrungen: Noch immer kann kein Experte sagen, wie die hohen Geschwindigkeiten dauerhaft auf das Material wirken. Viele Jahre gingen Wissenschaftler davon aus, dass Risse an Stahlrädern gar nicht erst auftreten, solange sich die Belastungen auf das Material innerhalb einer vorab berechneten Toleranzgrenze bewegen. Werkstoffe halten dauerhaft ohne Ermüdungserscheinungen, so die Philosophie. Heute wissen es die Fachleute besser.

Risse entstehen fast immer. Die Frage ist nur, wie und mit welcher Geschwindigkeit sie sich entwickeln. Einflüsse auf das Material wie Witterung oder auch Steinschläge wurden lange Zeit vernachlässigt, sodass „die ursprüngliche Festigkeit nicht mehr gewährleistet ist“, sagt Andreas Rupp, Experte für Messtechnik an der Hochschule Kempten. Insbesondere im Bereich des Hochgeschwindigkeitsverkehrs seien „noch viele Fragen zu den tatsächlichen Belastungen offen“. Eine Lösung: Die Stahlachsen müssten „um einige Millimeter dicker gemacht werden“, sagt Rupp. Der Nachteil: Dadurch nimmt das Gewicht zu und indirekt auch der Energieverbrauch.

Solange die Unsicherheiten bei der Rissentwicklung den Betrieb einschränken, können auch Neuentwicklungen bei den Antriebsachsen ihre Vorteile nur eingeschränkt ausfahren. Insbesondere Siemens und Alstom wetteifern hier um die technische Vormachtstellung. Schon vor der Jahrtausendwende setzte Siemens mit Triebzügen Maßstäbe. Statt eine Lok vor den Zug zu spannen, wird etwa der ICE 3 über die Achsen jedes zweiten Wagens angetrieben. Diese Triebzüge sind die wichtigste Innovation im Schnellzuggeschäft. Andere Hersteller ziehen nach.

So setzt Alstom beim neuen AGV ab 2011 auf angetriebene Jakobsdrehgestelle, die direkt unter dem Übergang von zwei Waggons montiert werden. Der neue Superzug kommt dadurch mit weniger Achsen aus: Ein AGV mit drei Wagen benötigt nur vier Drehgestelle statt acht wie bei Siemens. Die Vorteile des AGV: weniger Gewicht, robuster, laufruhiger im Geradeausbetrieb. Die Nachteile: Die Zuglänge lässt sich nur mühsam variieren, da der Abbau der Jakobsdrehgestelle lange dauert. Außerdem passen weniger Passagiere in die Züge, weil die Waggons direkt über den Achsen enden und nicht überhängen können. „Es gibt keine beste Lösung“, sagt Experte Hecht, „sondern es hängt von den Bedingungen ab.“

Für die Deutsche Bahn sind solche Überlegungen besonders wichtig. Derzeit läuft eine Ausschreibung unter dem Titel „ICx“ für die Hochgeschwindigkeitsflotte der Zukunft. Der Milliardenauftrag soll Ende des Jahres vergeben werden.

So sollen 2013 rund 100 Intercity-Züge ersetzt werden. Die neuen Züge sollen für Geschwindigkeiten bis zu 230 Kilometer pro Stunde ausgelegt sein. 200 neue ICE-Züge der vierten Generation sollen dann im Jahr 2018 die erste und zweite ICE-Generation ablösen. Tempolimit: bis 280 Kilometer pro Stunde. Interessanterweise ähneln die Züge dann in ihrer Frontpartie wieder den bulligeren alten ICE-1-Zügen, da sie die neuen Crashtests, wie einen simulierten Aufprall auf einen Lkw bei geringer Geschwindigkeit, besser bestehen.

Transrapid vor dem Aus

Unter Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn war Geschwindigkeit das wichtigste Thema beim Ausbau des Schienennetzes. Das hat sich geändert. Und selbst der Magnetschwebezug Transrapid fällt als letzte Hoffnung der Tempo-Fans aus. Die revolutionäre Technik gilt als nicht mehr realisierbar. 30 Jahre wurde getestet, mehr als eine Milliarde Euro an Staatsgeldern wurden investiert. Doch Innovationen im Schienenverkehr stoßen auf „unüberwindbare Widerstände“, wenn sie „mit einem Netzwechsel verbunden“ sind, sagt Michael Beitelschmidt, Leiter des Instituts für Bahntechnik der Universität Dresden.

Befürworter der Magnetschwebebahn hoffen vor allem auf Brasilien: Angeblich existieren Pläne, zur Fußballweltmeisterschaft 2014 die Städte Rio de Janeiro und São Paulo mit einer Transrapid-Strecke zu verbinden. Doch wie ernst das Thema genommen wird, zeigt das Beispiel einer hochkarätigen brasilianischen Delegation, die sich für einen Besuch auf der Teststrecke im Emsland ankündigte: Sie sagte kurzfristig ab.

Chinesen wollen die Züge selbst bauen

Selbst China hat sich vom Transrapid verabschiedet. Die 30 Kilometer lange Verbindung in Shanghai dürfte die einzige Transrapidstrecke weltweit bleiben.

Stattdessen setzt China auf den Ausbau des Rad-Schiene-Systems. Davon profitieren auch ausländische Konzerne wie Bombardier und Siemens. Noch. Auf lange Sicht werden für sie tendenziell weniger Aufträge herausspringen. Beim Eisenbahnbau macht es China wie in allen anderen Schlüsselbranchen auch: Durch den Zwang zum Joint Venture sichern sich die chinesischen Partner die Technologie aus dem Ausland, irgendwann bauen sie die Züge selbst.

So liefern die Münchner 100 Velaro-Züge zusammen mit dem Partnerunternehmen Tangshan Locomotive im Norden Chinas, wo die Endmontage stattfindet. Als Siemens zur Eröffnung der Neubaustrecke von Peking nach Tianjin kurz vor den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr ausländische Journalisten zu einer Fahrt im neuen Zug einladen wollte, war das Eisenbahnministerium verstimmt.

Nach außen, so die Vorgabe des Regimes, müsse es so aussehen, als seien die Züge chinesischer Bauart. Die Beamten machten bei Siemens Druck, bis der Konzern die Journalisten wieder auslud.

Hochgeschwindigkeitsverkehr ist eben auch ein hoch politisches Geschäft.

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