Lernen Fitness fürs Gehirn

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Wie und wo das Gehirn Informationen speichert (Klicken Sie bitte auf das Lupen-Symbol, um die Grafik zu vergrößern)

In diesem Punkt ist er sich mit Scheich einig – beide warnen davor, Hirnjogging mit Lernen gleichzusetzen. Denn beim Lernen spielten sich im Gehirn ganz andere Vorgänge ab. Grundsätzlich gelte: Je besser ein Stoff schon beherrscht wird, desto geringer ist die Gehirnaktivität. Neue Aufgaben hingegen regen vorher brachliegende Nervenzellen, die Neurone, dazu an, aktiv zu werden. Durch Wiederholung kristallisieren sich einige Experten-Neurone heraus. Steht die Aufgabe erneut an, werden nur noch die jetzt spezialisierten Neurone angeschaltet. Scheich illustriert den Lernprozess mit der Situation in einer Autowerkstatt: „Ein unerfahrener Lehrling wird verschiedene Schraubenschlüssel ausprobieren, bis er den richtigen zum Lösen der Mutter gefunden hat; der Meister greift gezielt zum einzigen Schlüssel, der passt.“

Der Lernvorgang an sich beruht auf der Kommunikation von Milliarden Nervenzellen. Diese Neuronen sind über winzige Kontaktstellen, die Synapsen, miteinander verbunden. Wie stark und dauerhaft diese Synapsen ausgebildet werden – das ist das eigentliche Geheimnis des Lernens. Bei der Geburt hat jede Hirnnervenzelle gut 2500 Synapsen, die darauf warten, durch Sinneseindrücke wie Berührung, Laute, Wörter und Bilder verändert zu werden. Bis zum dritten Lebensjahr steigt die Zahl der Synapsen auf 15.000 pro Zelle an und verdoppelt sich bis zum 20. Lebensjahr auf 30.000. Dann warten im menschlichen Gehirn mehr als 100 Milliarden Nervenzellen darauf, aktiviert zu werden. Beim Lernen werden jene Verbindungen verstärkt, die immer wieder benutzt werden. Das Hirn lernt also durch Wiederholung. Je vielfältiger Lerninhalte dabei präsentiert werden, desto größer ist die Chance, dass das Gelernte behalten wird.

Wie dieser Prozess verbessert werden kann, untersucht Scheich seit mehreren Jahren an Rennmäusen wie auch an menschlichen Probanden. Dabei entdeckte er die zentrale Rolle, die das interne Belohnungssystem des Gehirns beim Lernen spielt. Sobald ein Problem gelöst ist, überflutet es die Zellen mit der Wohlfühl-Substanz Dopamin. Sie erzeugen ein Glücksgefühl, das zum Weiterlernen motiviert und zugleich die Übertragung des Wissens vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis fördert.

Neue Lernstrategien

Neuro-Wissenschaftler auf der ganzen Welt forschen intensiv an der detaillierten Entschlüsselung dieses Transfers. Während der Mensch den Kurzzeitspeicher gezielt füllen kann, etwa durch Lernen, „ist das, was im Langzeitgedächtnis abgelegt wird, unserem Willen entzogen“, sagt Scheich. Deshalb sei das Auswendiglernen unverzichtbar: „Immer wenn etwas im Kurzzeitgedächtnis aufgerufen wird, tröpfelt ein Stückchen davon in den Langzeitspeicher.“

Deshalb ist Wiederholen so wichtig. Der richtige Rhythmus steigert dabei den Lernerfolg noch, denn die Übertragung in den Langzeitspeicher erfolgt in Wellen. Wie das genau funktioniert, hat Scheichs Team erst vor wenigen Monaten herausgefunden: Die Forscher entdeckten im Gehirn von Rennmäusen ein bestimmtes Protein, das den Speicherprozess moduliert und das in ganz bestimmten zeitlichen Abständen aktiv wird. Wie diese zeitlichen Muster beim Menschen aussehen, kann Scheich noch nicht sagen. Bis Ergebnisse vorliegen empfiehlt er, an der bisherigen Formel festzuhalten: Tagtägliches Lernen zu festen Zeiten und den neuen Stoff am besten kurz vor dem Schlafengehen wiederholen. Und dann wirklich das Licht ausknipsen. Fernsehen zum Beispiel würde die Aufnahme ins Langzeitgedächtnis stören.

Die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforscher, Kognitionswissenschaftler und Didakten lassen sich zu acht Ratschlägen zusammenfassen:

Genau überlegen, was man wirklich lernen will und eine passende Lernstrategie dazu entwickeln. Den Lernstoff in beherrschbare Portionen aufteilen. Realistische Teilziele setzen und sich für deren Einhaltung belohnen. Regelmäßiges Lernen bringt mehr als eine Megasitzung pro Woche. Erwachsene lernen zwar langsamer als Kinder, dafür können sie leichter an Bekanntem anknüpfen. Deshalb: Gezielt Brücken vom alten zum neuen Wissen bauen. Den Stoff auf verschiedene Weise wiederholen. Ein gute Übung zum Behalten ist es, das Gelernte anderen zu erklären. Sich eine angenehme Lernumgebung schaffen. Neues bleibt besser haften, wenn es mit Gefühlen verbunden ist. So erlernt sich die Fremdsprache leichter mit packender Lektüre, einer Brieffreundschaft oder einem Urlaub in dem betreffenden Land.

Gegenwärtig wird eifrig erforscht, wie dieses Wissen den Unterricht an Schulen befruchten kann. Pionier in Deutschland ist Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm. Mit Unterstützung des Baden-Württembergischen Kultusministeriums gründete er 2004 das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen, das sich mit dem neuen Fachgebiet Neurodidaktik beschäftigt. Zu den Methoden zählt das Aufzeichnen der Hirnstromkurven der Schüler während des Unterrichts. Unter dem Titel „Das Denken verstehen“ hat das Bundesforschungsministerium im Herbst 2005 zudem ein drei Millionen Euro schweres Forschungsprogramm aufgelegt, das in 14 Projekten die Zusammenarbeit von Neurowissenschaftlern und Lehr-Lern-Forschern unterstützt.

Hofffnungen in die Neurodidaktik

Der Nachholbedarf an Schulen ist groß. Denn bei der Qualität des Unterrichts, das haben die Pisa-Studien aufgedeckt, ist Deutschland echtes Notstandsgebiet. Dies wiegt umso schwerer, weil Deutschland einer aktuellen OECD-Studie zufolge weniger Geld als viele andere Länder in Bildung investiert. 2005 waren es 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gegenüber 5,4 Prozent 1995. Der Effekt: Der Anteil der Menschen, die eine akademische Ausbildung beginnen, ist und bleibt niedrig. So niedrig, dass Deutschland unter 27 Staaten den viertletzten Platz belegt – vor Slowenien, Griechenland und der Türkei. Spitzenreiter sind Island, Australien, Neuseeland und Finnland. Die Sparsamkeit führt dazu, dass Deutschland allmählich der wissenschaftliche und technische Nachwuchs ausgeht.

Gerade deshalb setzt die deutsche Bildungspolitik so große Hoffnungen in die Neurodidaktik: Das Geld soll mit ihrer Hilfe größtmögliche Wirkung entfalten.

Besserung ist dringend notwendig. Die Wirtschaft beklagt immer lauter das rückläufige Niveau der Schulabgänger. Wächst an den Schulen und Universitäten eine „Generation Doof“ heran, wie die Buchautoren Anne Weiss und Stefan Bonner behaupten? Ihr Resümee: „Sie kapituliert vor dem sich auftürmenden Wissensgebirgsmassiv der modernen Wissensgesellschaft, schaltet auf Durchzug und erhebt ihre Unwissenheit zum Kult.“

Weiss und Bonner, beide Anfang 30, zählen sich selbst zu dieser Generation. Sie hätten zwar viel gelernt – aber nur wenig davon helfe ihnen heute im Leben und im Beruf weiter, stellen sie rückblickend kritisch fest: „Wer wirklich im Bilde sein will, muss in der Lage sein, aus dem unbegrenzten Wissensmeer jene Puzzleteile herauszufischen und zusammenzusetzen, die ein stimmiges Gesamtbild ergeben und nicht bloß einen unscharfen Bildsalat.“

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