Medizin Die Macht der Placebos

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Eine Patientin beim Arzt. Für viele Versicherte letzte Chance zum Wechsel in den Basistarif Quelle: dpa

Dennoch weiß der erfahrene Arzt, dass die Therapie seinen Patienten hilft. Vor allem wohl deshalb, weil er sich Zeit für sie nimmt und sich tatsächlich auch an ihnen zu schaffen macht, glaubt Kissling: „Wenn ich eine Sprechstundenhilfe bitten würde, die Quaddeln zu setzen, wäre die Wirkung sicher nur halb so groß.“

Seinen richtigen Namen möchte Kissling allerdings nicht gedruckt sehen. Unter Ärzten ist das Thema Placebo nämlich umstritten. Der Grund: Eigentlich sollte kein Arzt einen Patienten täuschen, auch wenn es zu seinem Besten ist, so das berufsständische Ethos. Rechtlich würde es erst dann zum Problem, wenn eine Placebo-Therapie nicht wirkt, der Patient klagt – und dabei auffliegt, dass der Arzt dem Patienten eine offenkundig wirkungslose Therapie verordnet hat. Das macht die Nutzung von Placebos problematisch. Denn nach bisheriger Einschätzung wirkt ein Placebo nur dann, wenn man demPatienten nicht verrät, dass es eines ist.

Placebos werden heimlich verabreicht

Doch möglicherweise müssen Ärzte ihre Patienten gar nicht täuschen. Erste Studien weisen drauf hin, dass Placebos auch dann funktionieren, wenn man die Patienten darüber aufklärt, dass sie frei von Wirkstoff sind. Gleichzeitig müssen die Studienleiter aber die Zuversicht vermitteln, dass sie trotzdem wirken. In einer US-Untersuchung an Kindern mit Zappelphilipp-Syndrom wurde die Strategie mit Eltern und Kindern ganz offen besprochen. Der Effekt stellte sich trotzdem ein: Die Medikamentengabe konnte bei den meisten Kindern auf null gedrosselt werden. Sie schlucken jetzt Zuckerpillen und können sich trotzdem konzentrieren.

Bisher ist es allerdings üblich, Placebos eher heimlich zu verabreichen, wie eine aktuelle Studie des Schmerztherapeuten Bernateck aus Hannover belegt. Er wollte von Ärzten und Pflegern der Medizinischen Hochschule wissen, wie oft sie Placebos wie Zuckerpillen oder Kochsalzspritzen einsetzen. Sie sind in der Krankenhausapotheke einer forschenden Universitätsklinik mühelos zu bekommen.

Das Ergebnis überraschte ihn: 43 Prozent des Personals setzte sie ein bis zwei Mal im Jahr ein, 23 Prozent von ihnen sogar ein bis zwei Mal pro Monat. Und sieben Prozent taten es ein bis zwei Mal in der Woche. Als Grund gaben die meisten an, sie seien überzeugt, die Placebos würden diesen Patienten genauso gut helfen.

„Dramatische Verbesserungen“

Alternativmediziner müssen ihre Patienten nicht einmal täuschen: Sie können behaupten, dass sie an die Wirksamkeit ihrer Bachblütentropfen, magischen Pulver oder homöophatischer Verdünnungen glauben – auch wenn „in dem ganzen Glas kein einziges Molekül mehr ist“, wie der im britischen Exeter lehrende Edzard Ernst lästert. Der aus Deutschland stammende Mediziner leitet den dortigen Lehrstuhl für Komplementärmedizin und hat bereits zahlreiche Bücher verfasst.

Die Wirkung alternativer Verfahren führt Ernst vor allem auf den Placebo-Effekt zurück, der auf der Hinwendung zum Kranken und seiner individuellen Beratung beruht. Denn wenn es einen gravierenden Unterschied zwischen Schul- und Alternativmedizinern gibt, dann ist es die Zeit, die sie sich für ihre Kranken nehmen.

Das weiß auch Placebo-Forscher Enck: „Im Schnitt hat ein Arzt drei Minuten Zeit für den Patienten.“ Und in dieser Zeit habe der Kranke ihn nicht mal alleine: „Die Sprechstundenhilfe platzt herein, ein Telefonat kommt dazwischen, oder der Arzt kritzelt nebenher irgendetwas auf einen Zettel.“ Da seien „dramatische Verbesserungen“ zu erzielen, ohne sich auf ethisches Glatteis zu bewegen, sagt Enck.

Deshalb schult Enck seine Studenten gezielt im kommunikativen Umgang mit Patienten, was in vielen Ländern längst üblich ist. In Tübingen stehen dafür etwa 80 Laien-Schauspieler bereit. „Mit denen können die Mediziner von morgen proben“, sagt Enck – und ihren Auftritt auf der Bühne der Heilkunst einstudieren.

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