Medizin Die Macht der Placebos

Scheinmedikamente wirken oft genauso gut wie echte Pillen, manchmal sogar besser. Warum das so ist, finden Wissenschaftler gerade erst heraus – und entwickeln Ideen für neue Placebo-Therapien.

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Placebos Quelle: Anna Schneider für WirtschaftsWoche

Den 31-jährigen Martin Janus aus Hannover quälten höllische Schmerzen im Gesicht. Als er seinem Hausarzt das Problem schilderte, verschrieb der ihm – ohne recht zuzuhören – ein Antibiotikum. Das half selbst Tage später noch nicht. „Ich fühlte mich alleingelassen“, sagt Janus, der in der Verwaltung der Medizinischen Hochschule Hannover arbeitet. Die Schmerzen wurden schließlich so schlimm, dass Janus sich in die Notaufnahme schleppte.

Die Diagnose: Er litt an einer schmerzhaften Gesichtsrose, einer Viruserkrankung. Sofort schickten ihn die Ärzte zur Schmerzambulanz des Klinikums. Dort nahm sich der Schmerzspezialist Michael Bernateck viel Zeit für ihn. Er hörte genau zu und erarbeitete eine individuelle Therapie für Janus.

Der fühlte sich schon auf dem Weg zur Apotheke besser: „Die Schmerzen ließen nach, obwohl ich noch keine einzige Pille geschluckt hatte“, sagt er. Janus wusste, dass das eigentlich unmöglich war. Doch er rief Bernateck an, um ihm davon zu erzählen – und um sich zu bedanken.

Placebo-Forschung boomt

Doch der Arzt war weniger erstaunt als sein Patient: „Dass scheinbar Unwirksames wie die schlichte Zuwendung zum Patienten und dessen Aussicht auf eine Therapie wirken kann, ist in der Medizin seit Jahrzehnten bekannt.“ Nur hat sich bisher kaum jemand ernsthaft für diesen Placebo-Effekt interessiert. Was Scheinmedikamente und die Hoffnung auf Heilung in unserem Körper anstellen, war lange nahezu unerforscht.

Das ändert sich gerade. Mehr denn je beschäftigen sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt mit der Placebo-Forschung. Und seit die Pharmaindustrie zunehmend Probleme hat zu beweisen, dass ihre computerdesignten oder im Genlabor entwickelten Wirkstoffe besser sind als Scheinmedikamente, wollen auch sie es wissen: Was geht in unserem Körper vor, wenn bunte Pillen ohne Wirkstoff eine bessere Wirkung erzielen als Substanzen, an denen für Millionensummen jahrelang geforscht wurde? 

Selbst Schulmediziner setzen auf Placebos

Wissenschaftler verstehen unter dem Placebo-Effekt sämtliche Wirkungen von Zuckerpillen, Kochsalzspritzen und vielen alternativ-medizinischen Therapien, die nicht auf einen medizinischen Wirkstoff zurückzuführen sind. Heilsame – und auch schädliche – Effekte und Reaktionen also, die es aus streng wissenschaftlicher Sicht gar nicht geben dürfte.

Selbst Schulmediziner setzen zunehmend auf Placebos, wie verschiedene Umfragen weltweit belegen. Erst im August veröffentliche Margrit Fässler vom Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich ihre Ergebnisse. Sie hatte 233 Haus- und Kinderärzte im Kanton Zürich befragt: Zwei Drittel von ihnen gaben an, dass sie Placebos verabreichen.

Wie neueste Studien zeigen, geht die Placebo-Wirkung weit über pure Einbildung oder psychische Effekte hinaus. Sie beruht auf dem Glauben der Menschen an die Kompetenz ihres Arztes, seiner Worte, Mittel und Methoden. Und oftmals reicht allein die Erwartung aus, um eine tatsächliche Wirkung zu erzielen, von der Schmerzlinderung bis zur Krankheitsabwehr. Sogar Scheinoperationen zeigen Wirkung.

„Erst jetzt verstehen wir langsam, wie Scheinbehandlungen wirken. Dieses Wissen sollten wir für therapeutische Strategien und als unterstützende Maßnahme nutzen“, fordert Manfred Schedlowski, Psychologe und Placebo-Forscher an der Universität Duisburg-Essen: „Wenn wir das nicht tun, verschenken wir 20 bis 50 Prozent des Wirkungspotenzials unserer Therapien.“

Begonnen hatte alles mit einer Zufallsbeobachtung des amerikanischen Militärarztes Henry Beecher. Der musste während des Zweiten Weltkriegs in Italien Soldaten behandeln, die schwer verletzt ins Feldlazarett gebracht wurden. Als das schmerzstillende Morphin zur Neige ging, spritzte eine Krankenschwester den Verletzten in ihrer Not eine Kochsalzlösung. Sie erzählte ihnen aber, es sei ein hochwirksames Schmerzmittel. Was Beecher verblüffte: Die Kochsalzspritze wirkte fast ebenso gut wie das Morphin.

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