Medizin Impfung gegen Krebs

Innovative Medikamente sind erstmals in der Lage, die Abwehrkräfte des Körpers gegen Tumorzellen in Stellung zu bringen. Diese Krebsimpfungen und Immuntherapien, die gerade auf den Markt kommen, könnten die Volkskrankheit beherrschbar machen.

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Als Harpreet Singh Anfang Juni nach Chicago reiste, war er ein gefragter Mann. Der Forschungschef der Tübinger Immatics Biotechnologies besuchte die weltgrößte Krebskonferenz ASCO – und der 37-Jährige hatte eine kleine medizinische Sensation im Gepäck: eine Impfung gegen Krebs. Seine Therapie ist in der Lage, die körpereigenen Abwehrkräfte des Immunsystems so umzuprogrammieren, dass sie die Krebszellen suchen und selbstständig vernichten. Das erleichtert den Kampf gegen Krebs enorm.

An solchen Therapien haben Forscher jahrelang gearbeitet. Die meiste Zeit erfolglos. Nun aber gelingt es einer wachsenden Zahl von Unternehmen, die Vision einer Krebsimpfung wahr werden zu lassen. Die ersten Präparate sind auf dem Markt und erweitern das bisherige Waffenarsenal gegen die tödliche Krankheit, die jedes Jahr in Deutschland 440 000 Menschen befällt, Tendenz steigend.

Unsichtbare Krebszellen enttarnen

Um die körpereigenen Abwehrkräfte zu mobilisieren, verfolgen die Forscher mit ihren Immuntherapien drei Strategien: Sie enttarnen die fürs Immunsystem meist unsichtbaren Krebszellen, tunen Antikörper mit neuen Eigenschaften, damit sie schlagkräftiger werden, und lösen Blockaden des Immunsystems, die Tumorzellen mithilfe von Signalstoffen gezielt setzen.

Schon vor über 20 Jahren hatten Wissenschaftler erstmals die Idee einer völlig neuen und andersgearteten Krebsbehandlung: Statt den Körper mit nebenwirkungsreichen Strahlen und Chemikalien zu traktieren oder das Krebsgeschwür herauszuschneiden, wollten sie die Abwehrzellen des menschlichen Immunsystems gezielt und ohne Nebenwirkungen auf Tumore hetzen. Diese Abwehrtruppen des körpereigenen Sicherheits- und Kontrolldienstes würden in Zukunft tödliche Krebszellen erkennen und vernichten, die sonst für das Immunsystem unsichtbar sind. Die Forscher wollten die Krebszellen für die Körperpolizei sichtbar machen.

Wende kam vor einem Jahr

Doch nach anfänglichen Erfolgen gab es vor allem Rückschläge. Das Therapiekonzept, an dem unzählige Universitäts- und Unternehmensforscher arbeiten, drohte zum Milliardengrab zu werden.

Die Wende vom Flop zur Erfolgsgeschichte läutete Provenge, eine Impfung gegen Prostatakrebs, vor gut einem Jahr ein: Die US-Gesundheitsbehörde FDA ließ die vom US-Unternehmen Dendreon aus Seattle entwickelte Krebsimpfung im April 2009 zu. Damit erreicht Provenge als weltweit erstes Immuntherapeutikum den Markt und die Patienten.

Kaum zwölf Monate später folgte im März mit der FDA-Zulassung von Yervoy aus dem Hause Bristol-Myers Squibb (BMS) ein weiteres Krebsmedikament, das die Abwehrkräfte des Körpers entfesseln soll. Es lässt Patienten mit dem bisher quasi unheilbaren schwarzen Hautkrebs länger leben. Damit ist es dem Unternehmen gelungen, das seit Jahrzehnten erste wirksame Präparat gegen die gefürchtete Krankheit zu entwickeln.

Seither ist auch bei Analysten die Skepsis gewichen; sie sind geradezu begeistert und schätzen das Marktpotenzial der jeweiligen Präparate mitunter bei weit über einer Milliarde Euro Jahresumsatz ein.

Und das ist erst der Anfang: Im Gefolge der beiden Pionier-Präparate wartet eine ganze Flut ähnlicher neuer Krebsimpfungen und Immunverstärker. Dabei sind nicht nur die internationalen Pharmakonzerne wie GlaxoSmithKline oder BMS aktiv auf dem Feld. Die überwiegende Zahl der neuen Hoffnungsträger stammt aus Deutschland, einer traditionellen Hochburg der Immunforschung – etwa von der Darmstädter Merck Serono, den Münchner Firmen Micromet und Trion Pharma oder der Regensburger Antisense Pharma.

Freund oder Feind?

In Tübingen ist sogar eine regelrechte Hochburg entstanden: Dort haben Mitarbeiter des Tübinger Immunologie-Professors Hans-Georg Rammensee gemeinsam mit ihm gleich zwei Unternehmen gegründet, die sich mit Krebsimpfungen beschäftigen: neben Immatics auch das Unternehmen CureVac. An beiden ist SAP-Mitgründer Dietmar Hopp beteiligt.

Die beiden Unternehmen sitzen in angrenzenden Laborräumen in einem Technologiepark, der sich auf einem Höhenzug im Norden Tübingens nicht weit von den naturwissenschaftlichen Fakultäten erstreckt. Von ihrem grauen Neubau haben die Forscher einen weiten Blick über Tübingen und auf die Schwäbische Alb.

Trotz idealer Forschungsbedingungen hat es aber auch in Tübingen von der Immatics-Gründung im Jahr 2000 bis heute gedauert, bis die erste Krebsimpfung Furore machte und nun in die letzte klinische Prüfungsphase vor der Zulassung kommt.

Jahrelang haben die Forscher unterschätzt, dass eine Impfung gegen Krebs anderen Regeln folgt als eine Immuntherapie gegen Krankheiten wie Grippe, Pocken und Masern. Es ist einfacher, die Abwehrzellen auf krank machende Viren oder Bakterien einzuschwören als auf Krebszellen. In einem Fall handelt es sich um Fremdlinge, die ohnehin von den Immunzellen kritisch beäugt werden.

Bei Tumoren jedoch handelt es sich um Zellen des eigenen Körpers, die im Laufe des Lebens Schäden im Erbgut angesammelt haben, sogenannte Gendefekte. Davon ist vor allem ein Selbstmordprogramm betroffen, das defekte Zellen normalerweise in den Tod schickt. Bei Krebszellen ist es abgeschaltet. Die Folge ist, dass sie sich hemmungslos teilen und ungebremst wuchern. Für die Abwehrtruppen des Immunsystems sehen die todbringenden Krebszellen deshalb immer noch vertraut aus. Sie werden nicht attackiert und vernichtet. Überspitzt dargestellt ist es so, als wolle man dem Körper mit einer Impfung beibringen, das rechte Ohr abzustoßen, das linke aber nicht.

Überdies sind Krebszellen auch sehr gewieft darin, sich aktiv für das Immunsystem unsichtbar zu machen und sich im übertragenen Sinne eine Tarnkappe überzustülpen. Sie setzen dabei gezielt verschiedenste Mechanismen des Immunsystems außer Kraft.

Genau an dieser Stelle setzen Singh und seine Immatics-Forscher mit ihrer mehrfach preisgekrönten therapeutischen Krebsimpfung an. Wie bei einer vorbeugenden Impfung gegen Grippe oder andere Krankheitserreger macht die Krebsimpfung das Immunsystem aufmerksam auf den Feind. Zusammen mit seinen ehemaligen Kommilitonen war es Singh gelungen, einzelne charakteristische Eiweißbruchstücke von der Oberfläche der Krebszellen abzulösen, sie in einem speziellen Gerät zu analysieren und im Labor nachzubauen. Anhand dieser Oberflächen-Moleküle, die tumorassoziierte Peptide (Tumap) genannt werden, unterscheidet die körpereigene Immunabwehr normalerweise Freund und Feind.

Impfung verwandelt Abwehrzellen in Tumor-Killerzellen

Um aus einer bis dahin noch friedlichen Abwehrzelle wie einer T-Zelle eine gegen den Tumor programmierte Killerzelle zu machen, braucht es allerdings noch ein zweites Signal, das sogenannte ko-stimulatorische Signal. Und genau dieses Signal kommt bei Tumorzellen nicht vor, sie unterdrücken dessen Bildung, damit sie nicht erkannt werden.

Die Krebsimpfung von Immatics enthält deshalb nicht nur die Krebs-Erkennungsmoleküle. Zu dem Cocktail mischen die Forscher einen weiteren Hilfsstoff. Er bringt einige der Immunzellen dazu, das fehlende Signal selbst zu produzieren. Die eigentliche Impfung funktioniert dann so: Ein Patient, dessen Nierentumor entfernt wurde, erhält den Impfcocktail in die Haut gespritzt. Dort treffen Peptide und Hilfsstoff auf einen bestimmten Typ von Abwehrzellen, die dendritischen Zellen. Sie halten die Peptide an ihrer Oberfläche fest und erzeugen das fehlende zweite Signal. Dann wandern sie in die Lymphknoten, wo sie T-Zellen aktivieren und in Killerzellen verwandeln. „Sie erhalten die Lizenz zum Töten“, wie Singh sagt.

Jetzt machen sich Tausende von Killerzellen auf, um nach dem Peptid-Motiv, das sie tragen, zu suchen. Findet die Killerzelle eine Krebszelle im Körper, bringt sie diese um. Auf diese Weise wird die Immunabwehr auf mögliche, noch im Körper verstreute Tumorzellen oder Ableger-Tumore, die Metastasen, gehetzt.

Bisher funktioniert die Nierenkrebs-Impfung recht gut: In mehreren Studien ließ sie Metastasen schrumpfen. Eine Zulassungsstudie, die sogenannte Phase-III-Studie, hat Immatics gerade gestartet. Die Finanzierung dafür ist schon seit vorigem Herbst gesichert, als das Unternehmen mit 54 Millionen Euro die zweitgrößte Biotech-Finanzierungsrunde in Deutschland hinlegte. Und auch gegen Dickdarmkrebs und Hirntumore werden Impfstoffe bereits am Menschen erprobt.

Damit ist Immatics dem US-Unternehmen Dendreon dicht auf den Fersen. Auch deren Prostatakrebs-Impfstoff Provenge funktioniert nach einem ganz ähnlichen Prinzip. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Dendreon den Impf-cocktail für jeden Patienten persönlich herstellt, indem ihm dendritische Zellen entnommen und im Labor scharf gemacht werden. Immatics bietet dagegen eine Art Krebsimpfung von der Stange an.

Das könnte dem deutschen Unternehmen bei einer späteren Vermarktung seiner Krebsimpfungen aber deutliche Vorteile bringen, denn die Konfektionsware wird sehr viel billiger sein als die maßgeschneiderte Variante. Tatsächlich macht sich Kritik an Dendreons Krebsimpfung vor allem am hohen Preis fest: Für einen einzigen Patienten kostet ein Therapiezyklus mit drei Provenge-Spritzen in den USA 93 000 Dollar. Wie teuerdie Immatics-Therapie einmal sein wird, will Singh noch nicht verraten. Aber billiger sei sie in jedem Fall.

Krebsimpfung von der Stange

Sollten die Impfungen eines Tages tatsächlich so weit gediehen sein, dass sie als Vorsorge-Impfung eine Mixtur aus sämtlichen Krebsmotiven enthält, müssen sie aber noch viel preiswerter werden.

Nur ein paar Zimmer entfernt von Singh und seinen Massenspektrometern arbeitet deshalb das zweite Tübinger Krebsimpfungs-Unternehmen CureVac an einer Technologie, die die Sache noch billiger machen kann: Statt fertige Peptid-Moleküle in die Impfmixtur zu mischen, spritzen die CureVac-Forscher eine Art genetische Bauanleitung in den Körper: die Boten- oder Messenger-RNA. Damit ist der Körper in der Lage, die Peptide selber zu bilden und so die Killerzellen selbstständig zu programmieren.

CureVac-Chef Ingmar Hoerr ist stolz darauf, die Produktion des Tumorimpfstoffs in den hellen Laborräumen selbst leisten zu können. Und die gerade in Chicago präsentierten Studienergebnisse des Prostatakrebs-Impfstoffs und des Lungenkrebs-Impfstoffs zeigten bei sogenannten Phase-I/II-Studien am Menschen, dass auch das Spritzen des Erbmoleküls RNA ausreichte, um die gewünschte Immunantwort bei 79 Prozent der Geimpften zu erreichen.

Die beiden Unternehmen aus Tübingen gehen damit ganz neue Wege, um die körpereigenen Abwehrkräfte auf Trab zu bringen. Bisher waren Forscher vor allem auf Antikörper-Moleküle konzentriert, auch die der deutschen Unternehmen Micromet und Trion Pharma aus München.

Natürlicherweise bildet das Immunsystem nämlich Antikörper, um Krankheitserreger oder Giftstoffe zu erkennen. Diese y-förmigen Proteine sind die Spürhunde der Körperpolizei: Haben sie etwas entdeckt, schlagen sie an und rufen Hilfe herbei, etwa die T-Zellen.

Doch Micromet-Forschungschef Patrick Bäuerle weiß, dass Krebszellen sich tarnen, und vor allem, dass sie Stoffe ausschütten, die T-Zellen außer Gefecht setzen können. Der Forscher hat deshalb ein Verfahren entwickelt, mit dem er die T-Zellen wieder scharf schalten kann, sodass sie Krebsgeschwulste förmlich dahinschmelzen lassen.

Dafür gab der Wissenschaftler den Antikörpern eine besondere Struktur: Bäuerle schrumpfte sie auf ihre wesentlichen Bestandteile – die Bindungsregionen am Ende der beiden oberen Y-Arme. Weil die Moleküle so klein sind, bringen sie Killer- und Tumorzellen so nah aneinander, „dass es wieder funkt“, sagt Bäuerle: „Wir sind die Dompteure, die T-Zellen dazu bringen, wieder durch brennende Reifen zu springen.“ In einer gerade ausgewerteten Studie bildete sich bei drei Viertel der Patienten eine besonders aggressive Blutkrebsart vollständig zurück: Es waren keinerlei Krebszellen mehr nachweisbar.

Die Forscher von Trion Pharma haben sich einen anderen Trick einfallen lassen, um die natürlichen Fähigkeiten von Antikörpern zu verbessern: Normalerweise kann ein Antikörper nur einen Feind erkennen und auch nur eine bestimmte Hilfstruppe rekrutieren. Trions Antikörper Removab jedoch ist trifunktional: Er kann zum einen Tumorzellen erkennen, die normalen Antikörpern durchs Suchraster rutschen. Und er kann mehrere Arten von Immunzellen gleichzeitig alarmieren: T-Zellen, Killerzellen und Fresszellen. Einmal aktiviert, stürzen sich diese auf den Feind und vernichten ihn.

Gelöste Blockade

Auch diese Strategie funktioniert gut. Seit 2009 ist Removab in Europa für eine Krebs-Folgeerkrankung, die Bauchwassersucht, zugelassen, an der in Europa etwa 20 000 Menschen leiden. Seither wird Removab auch gegen weitere Tumorarten getestet. Das Erstaunlichste an dem trifunktionalen Antikörper ist allerdings, dass er zugleich wie eine Impfung wirkt: Schon nach drei bis vier Spritzen zeige sich, dass nicht nur die Krebszellen vernichtet wurden, „sondern der Körper auch immun gegen den Tumor wurde“, sagt Trion-Chef Horst Lindhofer. Damit könnte eine sonst notwendige Dauerbehandlung mit zigfachen erneuten Spritzen bis zum Lebensende unnötig werden.

Während sich all diese Therapieansätze darauf konzentrieren, die T-Zellen gezielt in Stellung gegen den bis dahin unerkannten Feind – die Tumorzellen – zu bringen und dessen Tarnkappen zu lüften, verfolgt die Regensburger Antisense Pharma eine andere Strategie. Sie greift an einer Blockade des Immunsystems an, die Krebszellen mithilfe von biochemischen Signalen setzen – als ob sie Bremsklötze an den Abwehrzellen anbringen würden. Dreh- und Angelpunkt ist dabei ein Regulationsmolekül namens TGF-Beta, das die Aktivität der Killerzellen steuert.

Der Weg zum Ziel ist wie bei CureVac ein preiswert zu produzierendes RNA-Molekül. Das sorgt nun allerdings nicht dafür, dass bestimmte Moleküle gebildet werden, die Krebszellen ausfindig machen. Im Gegenteil: Die sogenannte Antisense-RNA ist ein gegensinniges Erbgutmolekül, das sich auf die Bauanleitung des Regulationsmoleküls legt. Damit wird das Ablesen des Bauplans unmöglich, es entsteht kein TGF-Beta: Die Bremsklötze, die die Killerzellen behinderten, werden entfernt.

Auch an diesem Konzept ist bemerkenswert, dass es bereits Ende der Achtzigerjahre entwickelt wurde. Doch nach anfänglichen Erfolgen ließen es viele Unternehmen bald wieder fallen, weil die Entwicklung nur Rückschläge erbrachte.

Karl-Hermann Schlingensiepen, der Gründer und Chef von Antisense Pharma, hielt konsequent daran fest, genauso wie Ulrich Bogdahn, der Chef der Neurologischen Universitätsklinik Regensburg. Die beiden haben in mehreren klinischen Versuchen zeigen können, dass die Antisense-Behandlung mit dem Präparat Trabedersen bei Menschen mit Hirntumoren die Überlebensrate drastisch erhöht und die Tumore zum Teil völlig verschwinden.

Heute sind beide Forscher froh, dass sie durchgehalten haben. Sie meinen einen ganz zentralen Schalter gefunden zu haben, um dem Immunsystem eine viel größere Chance zu geben, die Tumorzellen zu erkennen. Und das, da sind sich die Forscher einig, war trotzdem erst der Anfang.

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