Prognosebörsen sagen die Zukunft voraus Orakel aus dem Internet

Die Masse ist intelligenter als der Einzelne. Dieser Theorie folgend liefern Internetbörsen Vorhersagen für Wahlergebnisse oder Fußballresultate. Auch für Unternehmen werden die Instrumente immer wertvoller. Häufig übertreffen sie sogar die herkömmlichen Methoden der Markt- und Meinungsforschung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Zur Fußball-WM lief auch auf Handelsblatt.com eine Prognosebörse. Foto: dpa

DÜSSELDORF. Prognosebörsen sind künstliche Aktienmärkte, an denen mit Erwartungen auf zukünftige Ereignisse gehandelt wird. Die teilnehmenden Händler bringen ihre Einschätzungen durch An- und Verkauf von Wertpapieren zum Ausdruck. Die spätere Auszahlung hängt vom tatsächlichen Ausgang des zukünftigen Ereignisses ab. Die gesamte Palette individueller Meinungen spiegelt sich jederzeit im Preis für die gehandelten Wertpapiere wider", sagt Thomas Langer, Inhaber des Lehrstuhls für BWL und Finanzierung an der Uni Münster. Diese „Informationseffizienz“ des Marktes mache die Prognosebörsen zum Teil genauer sind als andere Vorhersageinstrumente wie Umfragen oder Abstimmungen. Im Gegensatz zu aufwändigen Befragungen sind sie zudem besonders billig, schließlich lassen sie sich ohne großen Aufwand im Internet betreiben. Prognosebörsen könnten künftig bei der Bewertung von neuen Produkten nützlich sein. Schon vor dem Marktstart werden Prototypen in einer Internetbörse gezeigt; dort bewerten Interessenten, welche Chancen das neue Produkt auf dem Markt haben wird. Bei Hewlett-Packard wurden virtuelle Börsen bereits zur Vorhersage von Absatzzahlen eingesetzt, bei Siemens Österreich zur Abschätzung der Laufzeit von Softwareprojekten. "Mitarbeiter prognostizieren zukünftige Druckerumsätze oder die Termintreue von Aufträgen und erzielten dabei Ergebnisse, die präziser waren als die ursprünglichen Planzahlen", sagt Langer. Eine weitere interessante Anwendung sind die von Goldman Sachs und der Deutsche Bank betriebenen Economic Derivatives, die im größeren Stil von Banken, Versicherungen und institutionelle Investoren gehandelt werden und sich auf die Prognose makroökonomischer Indikatoren beziehen (z.B. Einkaufsmanagerindizes, Einzelhandelsumsätze oder Arbeitsmarktzahlen).

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Prognosebörsen waren bei der Bundestagswahl 2005 besser als Meinungsumfragen

Auch der Ausgang von Wahlen können die virtuellen Börsen vorhergesagen. Glaubt ein Händler, dass die CDU einen Stimmenanteil von 38 Prozent erreichen wird, so würde er seine CDU-Aktien bei einem Preis von mehr als 38 verkaufen und bei Preisen unter 38 kaufen. Die Marktpreise geben zu jedem Zeitpunkt die Einschätzung aller Marktteilnehmer bezüglich des Wahlausgangs wider. Das ist ein Vorteil gegenüber klassischen Instrumenten der Marktforschung: „Die Plattform ist immer verfügbar und bietet kontinuierlich aktuelle Ergebnisse. 24 Stunden, sieben Tage in der Woche“, sagt Christof Weinhardt, Leiter des Karlsruher Instituts für Informationswirtschaft. Eine Befragung von Experten, Wählern oder Konsumenten liefere dagegen nur ein punktuelles Ergebnis. Dies zeigte sich bei einem Experiment der Karlsruher Forscher zur Bundestagswahl 2005: die virtuelle Börse Political Stock Market erzielte genauere Ergebnisse als sämtliche Meinungsumfragen. Während die Umfragen durchschnittlich ein Ergebnis von 40 Prozent für die CDU voraussagten, lag der Political Stock Market mit 38,5 Prozent deutlich näher am amtlichen Endergebnis von 35,2 Prozent. Doch was halten die echten Marktforscher von der neuen Methode? „Für die Wahlforschung sind diese Modelle interessant“, sagt Frank Knapp vom Bundesverband Deutscher Markt- und Sozialforscher. Stärker als Meinungsumfragen appellierten Börsen an den eigenen Nutzen der Befragten, dies mache die Ergebnisse zuverlässiger. Allerdings zeige die Prognosebörse nicht mehr als einen Trend auf. „Wie und warum die Ergebnisse zustandekommen, stellt die Börse nicht dar“, sagt Knapp. Die Forschung nach den Motiven sei allerdings oftmals entscheidender als das Ergebnis selbst. „Für die Marktforschung werden Prognosebörsen daher meist nur eine sekundäre Quelle darstellen.“

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Die Idee von der „Intelligenz der Masse“

Mit Wunschdenken habe die Prognosebörse nichts zu tun: „Nicht die persönliche Meinung eines Händlers ist gefragt, vielmehr wird er für eine möglichst realistische Einschätzung der Situation belohnt“, sagt der Karlsruher Forscher Christof Weinhardt. Dahinter steckt die Idee von der „Intelligenz der Masse“. Schon vor hundert Jahren entdeckte der Wissenschaftler Francis Galton dieses Phänomen auf einer westenglischen Viehmesse. Besucher der Messe wurden aufgerufen, das Gewicht eines Ochsen zu schätzen. Dabei fiel Galton auf, dass der Durchschnitt aller Schätzungen nur haarscharf vom wirklichen Gewicht entfernt lag: Der Mittelwert lag bei 1197 Pfund, das tatsächliche Gewicht des Ochsen bei 1198 Pfund. Die Masse hatte genauer geschätzt als jeder einzelne Viehexperte. Später entwickelte der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek die Theorie von der Informationseffizienz des Marktes weiter. Nach Hayek wird die Fülle verstreuter Informationen am besten durch den Wettbewerb des Marktes gebündelt; Marktpreise geben jederzeit alle für den Markt relevanten Informationen wider. Unter den virtuellen Börsen machte der Iowa Electronic Market im Jahr 1988 den Anfang. Seitdem können Interessenten dort mit echtem Geld auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen oder seit einigen Jahren auch auf Zinsentscheidungen der US-Notenbank setzen. Den Durchbruch von Prognosebörsen ermöglicht heute erst das Internet – zu jeder Zeit und an jedem Ort können beliebig viele Menschen an virtuellen Märkten teilnehmen. Längst etabliert sind virtuelle Aktienmärkte wie tradesports.com oder newsfutures.com. Dort wetten Interessierte auf alle möglichen Ereignisse – von der Entwicklung der Finanzmärkte über den Ausgang der Formel-1-Weltmeisterschaft bis hin zum nächsten Hurrikan im Golf von Mexiko. Steigt der Aktienkurs bestimmter Ereignisse, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das vorhergesagte Ereignis in Realität eintritt. Im Wesentlichen kommen bei solchen Prognosemärkten zwei unterschiedliche Wertpapiertypen zum Einsatz: zum einen so genannten. „Winner-takes-all“-Wertpapiere, die eine im Voraus fixierte Auszahlungssumme versprechen, sofern das entsprechende Ereignis eintritt (z.B. Kandidat XY gewinnt die nächste Präsidentschaftswahl). Zum anderen existieren Index-Wertpapiere, deren Auszahlungsbetrag meist proportional an eine Zielgröße gekoppelt ist (z.B. 1 Cent pro prozentualem Stimmenanteil, den die Z-Partei bei der nächsten Bundestagswahl erreicht). Möglich ist auch die Vorhersage von Ergebnissen im Sport. Handelsblatt.com startete in diesem Jahr eine Prognosebörse zur Fußballweltmeisterschaft. 2000 Fußballfans aus aller Welt handelten virtuelle Aktien der Nationalmannschaften. Die Mehrheit der Teilnehmer schätzte, dass Brasilien Weltmeister wird. Unfehlbar ist auch die Börse nicht.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%