Risiko Warum wir uns ohne Mut nicht weiterentwickeln

Wachstum, Fortschritt und Karrieren gibt es nur, wenn Menschen bereit sind, Risiken einzugehen. Weshalb wir so unterschiedlich darauf reagieren und wie wir lernen, Gefahren besser von Chancen zu unterscheiden. Ein Plädoyer für mehr Wagemut.

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Bungee-Springer suchen den Nervenkitzel Quelle: Clemens Emmler/Laif

Katrin Keller setzte alles auf eine Karte: Mitten in die aufziehende Wirtschaftskrise hinein gab die 33-jährige Betriebswirtin 2008 ihren gut dotierten Geschäftsführer-Posten bei einer Berliner Immobiliengesellschaft auf und gründete mit dem IT-Fachmann Alexander Alscher das Gesundheitsportal Samedi. Dort können Patienten Arzttermine bequem im Internet buchen, ohne in Telefonwarteschleifen zu hängen oder auf Sprechstundenzeiten zu achten. Wenn sich ein Termin verschiebt, werden sie per SMS informiert – stundenlanges Warten entfällt.

Statt in einem noblen Bürogebäude arbeitet Gründerin Keller nun in einem düsteren Berliner Hinterhof – und ist glücklich. Knapp 1000 Ärzte, Therapeuten und Heilpraktiker haben sich dem Netzwerk angeschlossen. Inzwischen bereitet der Erfolg sogar Probleme: „Wir suchen dringend neue Mitarbeiter für Software-Entwicklung, Verwaltung und Vertrieb“, sagt Keller – und findet keine. In unsicheren Zeiten wie diesen wagt kaum jemand den Wechsel. Schon gar nicht zu einem kleinen Startup.

Die Weltwirtschaftskrise hat nicht nur ganze Volkswirtschaften ruiniert, sie hat sich tief in die Psyche der Menschen gefressen. Irgendwo zwischen Subprime-Krise und verzweifelten Bankenrettungen muss uns die Lust auf das Risiko abhandengekommen sein. Jobwechsel, Innovationen und Wachstum: Alles steht still. Die Gesellschaft ist wie gelähmt, die Menschen klammern sich ans Erreichte und hoffen, dass das Unwetter da draußen bald vorüberzieht. Was für den Einzelnen sogar sinnvoll sein kann, ist für eine Volkswirtschaft schädlich: Motor aller Entwicklung ist die Bereitschaft, sich auf Wagnisse einzulassen.

Nur wenn Menschen sich wieder trauen, neue Herausforderungen anzunehmen – sei es bei einem neuen Arbeitgeber, oder ihre Ideen und Erfindungen auf den Markt zu bringen –, kann es Wachstum, Innovationen und Fortschritt geben. Ex-Bundespräsident Walter Scheel brachte das einmal auf eine einprägsame Formel: „Nichts geschieht ohne Risiko, aber ohne Risiko geschieht nichts.“

Risiko bedeutet nicht immer auch Gefahr

Doch wo genau verläuft die Grenze zwischen Risiko und Gefahr? Warum suchen manche Menschen das Risiko, warum meiden es andere? Wie kommt die so unterschiedliche Risikoeinschätzung zustande?

Die Naturwissenschaftler haben es gut: Sie pressen das Risiko in mathematische Formeln. Für Ingenieure etwa, die die Sicherheit von Brücken oder Staudämmen berechnen, zählen nur zwei Werte: die mögliche Schadensgröße und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit. Forscher sprechen vom Risiko als berechenbarer „potenzieller Gefahr“. Für den großen Rest jedoch ist Risiko oft gleichbedeutend mit Gefahr. Mit der Angst, einen schweren Fehler zu begehen – und letztlich zu scheitern.

Dabei ist es sogar lebensnotwendig, Risiken einzugehen, schon von frühster Kindheit an. Wenn etwa ein Krabbelkind die ersten Schritte wagt, fällt es laufend auf die Nase. Doch die Evolution hat uns darauf getrimmt, uns davon „nicht entmutigen zu lassen“, sagt die Psychologin Britta Renner von der Universität Konstanz: „Menschen sind von Natur aus Neugierwesen, sie können gar nicht anders, als ihre Umgebung zu erkunden und ständig neue, mitunter gefährliche Dinge auszuprobieren.“

Gerade am Anfang des Lebens sind Menschen mit gewaltiger Neugier ausgestattet. Dennoch gibt es große, angeborene Unterschiede: Während sich ein Kind nur vorsichtig an den abschüssigen Rand des Ententeichs wagt, traut sich ein anderes im selben Alter gefährlich weit auf steilste Klippen vor. Forscher würden es als „Sensation Seeker“ bezeichnen.

In einem Labor in Frankfurt Quelle: dpa/dpaweb

Die ererbte Veranlagung jedoch auf einzelne Gene herunterzubrechen „ist bisher nicht gelungen“, sagt Evolutionsbiologe Axel Meyer vom Wissenschaftskolleg Berlin, „die Mechanismen sind zu komplex“. Zu unterschiedlich sind auch die individuellen Bewertungsmuster der einzelnen Risiken: So findet Kletterer Ralf Dujmovits, der als erster Deutscher alle 14 Achttausender der Welt bestiegen hat, Motorradfahren und Aktiengeschäfte riskant – Alpinsport dagegen nicht. Ein anderer hat vielleicht Angst vor hohen Bergen und Motorradtouren, fühlt sich aber bei Börsengeschäften sicher.

Auch persönliche Erfahrungen im Umgang mit Risiken machen uns wagemutiger oder ängstlicher. Zu diesem Schluss kommt der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube, Autor des Buches „Gefährliche Sicherheit“. Die Erziehung im familiären und kulturellen Umfeld spiele eine große Rolle, etwa was die Eltern vorleben und ob sie ihre Kinder dazu motivieren, eigenverantwortlich Risiken einzugehen.

Die größte Herausforderung ist jedoch, Risiken realistisch einzuschätzen. „Die Welt wird komplexer, und wir können immer weniger im Detail verstehen“, sagt Psychologin Renner. Wer durchsteigt schon das Kleingedruckte im Versicherungsvertrag? Wer weiß, ob die Handystrahlung schädlich ist oder nicht? Wer kann sicher vorhersagen, ob uns nun Inflation oder Deflation droht?

Deshalb lassen wir uns bei den meisten Entscheidungen von Menschen beraten, die mehr von dem Thema verstehen als wir selbst. Das machen wir umso lieber, je größer das Risiko ist, mit unserer Entscheidung falsch zu liegen. Die zunehmende Komplexität spiegelt sich zugleich in der großen Nachfrage nach Ratgeber-Literatur jeglicher Couleur wider.

Risiken einordnen

In der Evolution hat sich noch ein viel simpleres Verfahren der Risikoeinschätzung durchgesetzt: Das sogenannte Herdenverhalten habe sich als „sehr überlebensfördernde Strategie etabliert“, sagt Renner: Wenn alle Antilopen davonrennen, ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendwo ein Löwe lauert. Demnach werden Risiken so eingeschätzt, wie sie die Mehrheit beurteilt, ein evolutionsbiologischer Publikumsjoker gewissermaßen.

In einer global vernetzen Wirtschaftswelt kann das jedoch gründlich daneben gehen, wie sich im Finanzsektor gezeigt hat. Deshalb rät der amerikanische Ökonom Robert Shiller von der Universität Yale – zumindest Investoren – dringend davon ab, sich vom Verhalten der Mehrheit beeindrucken zu lassen. Er empfiehlt stattdessen, unkonventionell und eigenverantwortlich zu handeln: „Halte dich von der Meute fern.“ Shiller beschäftigt sich auch in seinem Buch „Animal Spirits“ mit dem oft irrationalen Verhalten der Menschen im Wirtschaftsleben, dem sogenannten Behaviorismus.

Mit mehr Eigenverantwortung allerdings wächst auch die Herausforderung für die Menschen, zu erkennen, welche Risiken bedrohlich für Leben und Existenz sind und welche nicht? Selbst den Naturwissenschaftlern mit ihren exakten Analysemethoden gelingt das längst nicht immer. Gerade bei menschgemachten Gefahren, die größte Ängste auslösen, lässt sich das Risiko nur schwer berechnen. Um Risiken zu klassifizieren, hat der Stuttgarter Wirtschaftssoziologe und Risikoforscher Ortwin Renn den wichtigsten Risikotypen Figuren aus der griechischen Mythologie zugeordnet.

Zum Typ Pandora zählt Renn etwa Chemikalien, die sich langsam in der Umwelt anreichern. Sie sind allgegenwärtig und langlebig, ihre Gefährlichkeit ist aber schwer zu ergründen. Elektromagnetische Handystrahlungen gehören dagegen zum Typ Medusa: Es ist unwahrscheinlich, dass ein Schaden eintritt – und wenn, ist er sehr gering, aber alle Menschen sind betroffen. Zu den Kassandra-Risiken zählt der Klimawandel: Extreme Schäden sind sehr wahrscheinlich, aber erst in ferner Zukunft. Der Ruf der Kassandra ist also nötig, um darauf aufmerksam zu machen.

Grippe-Pandemie-Übung in Quelle: AP

Großtechnologien wie die Kernkraft vergleicht Renn mit dem scharf geschliffenen Schwert, das an einem dünnen, aber stabilen Faden über Damokles hing: Die Bedrohungsszenarien sehen besonders verheerend aus, doch nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie eintreten.

Beim Typ Pythia sind selbst Risikoforscher ratlos. Pythia war die Priesterin des Orakels von Delphi und musste die Zukunft vorhersagen, ohne Vorwissen. „In diese Kategorie gehören Risiken mit hoher Ungewissheit bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und einer großen Bandbreite bei potenziellen Schäden“, sagt Renn. Er zählt typischerweise genmanipulierte Nahrung zu diesem Risikotyp, aber auch den Rinderwahn und die Grippe-Pandemie.

Das wirkliche Risiko solcher Phänomene können Laien noch viel weniger einschätzen. Sie bilden sich ihre Meinung eher durch die Art und Weise, wie Gefahrenpotenziale in der Öffentlichkeit dargestellt werden – und welche Emotionen sie wecken. Nanotechnik etwa ruft längst nicht denselben Sturm der Entrüstung hervor wie gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dass die milliardstelmeter kleinen Teilchen heute bereits in Zahnpasten oder Hautlotionen stecken und mitunter eine ähnliche Form wie Asbestfasern aufweisen, ist vielen schlichtweg unbekannt.

Risikoforscher Renn führt das auf die unterschiedlichen Kommunikationsstrategien der Industrie zurück. Während genveränderte Lebensmittel die Urängste der Menschen wecken – etwa vergiftet zu werden – und deshalb abgelehnt werden, haben die meisten Menschen die Nanotechnik als Materialwissenschaft abgespeichert: „Selbstreinigende Kloschüsseln mit Lotuseffekt und irisierende Autolacke berühren uns weniger als gentechnische Veränderungen im Essen“, sagt Renn.

Gute Entscheidungen brauchen einen geübten Denkapparat

Wie unser Gehirn das verarbeitet? Ob wir eben noch bei Tieforange über die Ampel fahren oder bei einem bestimmten Kurs Aktien nachkaufen? Vor allem blitzschnell!

Obwohl es sich um bewusste Entscheidungen handelt, trifft unser Gehirn sie in weniger als drei Sekunden. Dabei greift es auf zuvor erlernte Entscheidungsmuster zurück, sagt der Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel: „Das ist der Rahmen, in dem jede Entscheidung fällt.“ Die Konsequenz der Entscheidung wird registriert und mit dem Entscheidungsweg in unsere biologischen Datenspeicher abgelegt.

Geht es um wirklich existenzielle Entscheidungen über ein potenzielles Risiko, empfiehlt er deshalb, das Gehirn rechtzeitig immer wieder mit der Fragestellung und den potenziellen Chancen und Gefahren zu konfrontieren. Unser Denkapparat neige nämlich zur „Monokausalitis“, sagt Pöppel. Wolle man zu einer guten Entscheidung kommen, sollte man ihn immer wieder mit neuen Aspekten füttern.

„Die Wahrnehmung und Bewertung der Risikoentscheidung an sich wird aber auch durch emotionale Verarbeitungsprozesse gesteuert“, sagt Rüdiger Trimpop, Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologe an der Universität Jena. Wer beispielsweise mit einer Investition sehr zufrieden ist, wird sich in einer ähnlichen Situation wieder so entscheiden. Wer jedoch nach einer solche Entscheidung 1000 Tode gestorben ist, wird einem solchen Wagnis das nächste Mal aus dem Weg gehen – selbst wenn sich das Risiko später ausgezahlt hat.

Rauchen wird als Gesundheitsrisiko unterschätzt Quelle: Picture Alliance/DPA

Das Problem dabei: Wir tun uns schwer damit, Wahrscheinlichkeiten und damit Risiken rational zu bewerten. „Ein Risiko von eins zu Tausend wird ähnlich wahrgenommen wie das Risiko von eins zu einer Million“, sagt Forscher Trimpop. Deshalb haben so viele ein mulmiges Gefühl beim Fliegen. Obwohl die Zahl der Unfalltoten im Straßenverkehr weitaus höher ist als im Flugverkehr. Und obwohl wir das genau wissen, schätzen wir das Risiko eines Flugzeugabsturzes trotzdem deutlich höher ein.

Hinzu kommt: Wir können das Flugzeug nicht selbst steuern, fühlen uns dem Schicksal ausgeliefert. Auch das ist ein typisch menschliches Kriterium, um ein Risiko als hoch zu bewerten. Risiken, die jeder selbst in der Hand hat, werden massiv unterschätzt: riskante Überholmanöver, Rasen, Rauchen oder Übergewicht. Forscher Trimpop hat zudem herausgefunden, dass „Risiken herkömmlicher Techniken wie etwa der Kohlebergbau niedriger bewertet werden als neue Technologien“. Sie sind uns vertraut – und werden damit als beherrschbarer eingestuft.

Ob wir Risiken letztlich akzeptieren, hängt laut Trimpop davon ab, ob Gerechtigkeit bei der Verteilung der Risiken herrscht. Bei einer CO2-Pipeline des Pharma-Unternehmens Bayer im Rheinland fragen sich viele – warum bei uns? Warum vor meiner Tür? Schlimmer noch: Das Kohlenmonoxid sieht und riecht man nicht, das lässt das Problem besonders gefährlich erscheinen.

Mutige Entscheidung und ein Plan B

Forscher schlagen deshalb vor, sich diese irrationalen Bewertungs- und Entscheidungsmuster zu verdeutlichen, um riskante Irrtümer zu vermeiden. Dann sehen wir klarer. So sei es in jedem Fall Erfolg versprechender, beherrschbare Risiken auch einzugehen – und dabei an den Erfolg zu glauben, meint Erziehungswissenschaftler von Cube. Hartnäckigkeit zahle sich dabei aus. Hier passe die alte Fabel von den Fröschen, die verzweifelt in einem Milchtopf schwimmen und nicht mehr herauskommen: Der eine Frosch gibt auf, lässt sich zu Boden sinken und ertrinkt. Der andere strampelt so lange, bis die Milch zur Butter wird und er aus dem Topf springen kann.

Die vielleicht beste Strategie für den Umgang mit Risiken ist ein Plan B. So sieht das Jutta Bauer, die im vorigen Herbst ein Haus im Stadtzentrum von Neuss kaufte, weil die ganze Familie vom Landleben genug hatte. Obwohl kein Käufer für ihr Landhaus in Sicht war, erstanden sie das Stadthaus und vereinbarten mit der Bank für ein Jahr eine Zwischenfinanzierung. „Man muss auch mal was riskieren, das predige ich meinen Kindern immer wieder“, sagt die Werbetexterin.

Acht Monate lang tat sich dann allerdings nichts. Doch Bauer blieb entspannt: „Im dümmsten Fall müssen wir eben aufs Land zurückziehen und das neue Haus verkaufen.“ Das sei mit seiner Lage in einem begehrten Stadtviertel leicht zu veräußern.

Letztlich hat sich die mutige Entscheidung dann doch ausgezahlt: Bauer behielt die Nerven und wurde belohnt. Kurz vor Ablauf der Jahresfrist tauchte der erhoffte Käufer auf. Ob sie das Risiko der Doppelfinanzierung noch mal auf sich nehmen würde? „Warum nicht – hat doch alles prima geklappt.“

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