Digitale Revolution Das zweite Maschinenzeitalter bricht an

Die nächste digitale Revolution wird unser aller Leben verändern. Und fest steht: Die Digitalisierung birgt heikle Herausforderungen.

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Mit der Dampfmaschine begann die Industrielle Revolution. Heute wird sie von den schnellen Entwicklungen der Industrie 4.0 auf die nächste Stufe gebracht Quelle: dpa

Was sind die Errungenschaften der Menschheitsgeschichte? Wie jeder schnell merkt, der sich diese Frage stellt, ist sie nicht so leicht zu beantworten. Wann beginnt die "Menschheitsgeschichte" eigentlich?

Schwer zu beantworten ist unsere Eingangsfrage aber auch deshalb, weil nicht von vornherein klar ist, welche Kriterien wir anlegen sollten: Welche Entwicklungen sind denn wirklich bedeutend?

Die meisten von uns würden vermutlich sagen, ein Vorfall oder Schritt, der den Lauf der Welt verändert – der die Kurve der Menschheitsgeschichte umlenkt.

Einschneidendes Erlebnis

Viele tausend Jahre tendierte die Kurve der menschlichen Entwicklung langsam aufwärts – quälend langsam, fast schon unmerklich. Tiere und Bauernhöfe, Kriege und Imperien, Philosophien und Religionen übten allesamt nur geringen Einfluss aus. Doch vor reichlich 200 Jahren ereignete sich plötzlich etwas Einschneidendes, das die Kurve der Menschheitsgeschichte – der Bevölkerung und ihrer sozialen Entwicklung – um fast 90 Grad knickte.

Der Knick fällt mit einer Entwicklung zusammen, über die wir schon viel gehört haben: die industrielle Revolution, also das Zusammenspiel mehrerer nahezu zeitgleicher Entwicklungen im Maschinenbau, in der Chemie, in der Metallurgie und anderen Disziplinen.

Mit Dampf fing alles an

Dabei können wir sogar ganz genau sagen, welche Technik die wichtigste war – nämlich die Dampfmaschine, und zwar die von James Watt und seinen Kollegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte und verbesserte.

Vor Watt waren Dampfmaschinen äußerst ineffizient. Sie schöpften nur rund ein Prozent der von der verbrannten Kohle freigesetzten Energie ab. Watts brillante Spielereien zwischen 1765 und 1776 steigerten diesen Wert um mehr als das Dreifache.

Die industrielle Revolution ist natürlich nicht allein die Geschichte der Dampfkraft, doch mit Dampf fing alles an. Mehr als je zuvor konnten wir die Grenzen menschlicher und tierischer Muskelkraft überwinden und nach Belieben enorme Mengen nutzbarer Energie erzeugen.

Stufen der industriellen Entwicklung

Das ermöglichte Fabriken und Massenproduktion, Eisenbahnen und Massentransport – in anderen Worten, das moderne Leben. Die industrielle Revolution läutete das erste Maschinenzeitalter der Menschheit ein. Zum ersten Mal beruhte unsere Weiterentwicklung vor allem anderen auf technischer Innovation. Und in diese Zeit fielen die am tiefsten greifenden Umwälzungen, die die Welt je erlebt hat.

Das Maschinenzeitalter bricht an

Nun bricht das zweite Maschinenzeitalter an. Computer und andere digitale Errungenschaften haben auf unsere geistigen Kräfte – die Fähigkeit, mithilfe unseres Gehirns unsere Umwelt zu verstehen und zu gestalten – die gleiche Wirkung wie die Dampfmaschine und ihre Ableger auf die Muskelkraft.

Sie ermöglichen uns, frühere Einschränkungen zu überwinden, und führen uns auf Neuland. Wie genau sich diese Umwälzung vollziehen wird, liegt noch im Dunklen, doch ob das neue Maschinenzeitalter die Kurve ebenso drastisch verformt wie Watts Dampfmaschine oder nicht, eine große Sache ist sie allemal.

Um es vorab schon auf den Punkt zu bringen: Die Geisteskraft ist für Fortschritt und Entwicklung – für unsere physische und intellektuelle Fähigkeit, mit uns und der Welt erfolgreich zurechtzukommen – mindestens ebenso wichtig wie die physische Kraft. Ein so kräftiger und ungekannter Impuls für die Geisteskraft sollte der Menschheit daher einen enormen Schub verleihen – genauso wie früher einmal ihr physisches Pendant.

Erstaunlicher Fortschritt

Jahrelang haben wir uns mit den Auswirkungen digitaler Technik wie Rechnern, Software und Kommunikationsnetzen in der Überzeugung beschäftigt, ihre Möglichkeiten und Grenzen einigermaßen zu durchblicken. Doch in den letzten Jahren sind wir immer wieder überrascht worden.

Die ersten Computer stellten Diagnosen für Krankheiten, hörten und sprachen und verfassten lesbare Prosa, während Roboter durch Lagerhäuser schwirrten und Autos mit minimaler oder ganz ohne Einmischung des Fahrers unterwegs waren.

Die digitale Technik war in vielen dieser Disziplinen lange Zeit geradezu lachhaft unzulänglich gewesen – und plötzlich war sie richtig gut. Wie kam das? Und was bedeutete dieser so erstaunliche Fortschritt, der gleichzeitig als so selbstverständlich aufgefasst wurde?

Wir beschlossen, gemeinsam zu versuchen, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Wir fingen so an, wie es die meisten Wirtschaftswissenschaftler tun: Wir lasen jede Menge Abhandlungen und Bücher, analysierten Daten und diskutierten Ideen und Hypothesen.

Das war notwendig und sinnvoll, doch dazugelernt haben wir erst, als wir unseren Elfenbeinturm verließen – und da wurde es richtig spannend. Wir sprachen mit Erfindern, Investoren, Unternehmern, Ingenieuren, Wissenschaftlern und vielen anderen, die Technologien entwickeln und einsetzen.

PC war 1982 "Maschine des Jahres"

Ihrer Offenheit und Großzügigkeit verdanken wir diverse futuristische Erfahrungen im unglaublichen Umfeld der digitalen Innovation von heute. Wir sind in einem fahrerlosen Auto gefahren, haben zugeschaut, wie ein Computer Mannschaften aus Harvard- und MIT-Studenten bei "Jeopardy!" schlug, haben einen Industrieroboter trainiert, indem wir ihn buchstäblich bei der Hand nahmen und durch eine Reihe von Schritten führten, hatten eine wunderschöne Metallschale in der Hand, die von einem 3D-Drucker hergestellt worden war, und erlebten zahllose weitere atemberaubende Begegnungen mit Technologie.

Durch diese Aktivitäten gelangten wir zu drei übergreifenden Schlussfolgerungen.

Erstens leben wir in einer Zeit des verblüffenden Fortschritts digitaler Technologien – also solcher, die im Kern auf Hardware, Software und Netzwerken beruhen. Diese Technologien sind keinesfalls neu. Unternehmen kaufen bereits seit über 50 Jahren Computer, und die Zeitschrift Time erklärte den PC schon 1982 zur „Maschine des Jahres“.

Doch ebenso wie die Dampfmaschine erst nach Generationen so weit war, dass sie die industrielle Revolution auslösen konnte, brauchten auch unsere digitalen Maschinen Zeit, um sich weiterzuentwickeln.

Die Geschichte von Apple
24.02.1955Steve Jobs wird in San Francisco geboren und von seiner Mutter Joanne Simpson zur Adoption freigegeben. Paul und Clara Jobs adoptieren das Baby. Quelle: dpa
1972Steve Jobs entdeckt am liberalen Reed College in Portland seine Liebe zu Design. Quelle: reuters
1974Der 19jährige Jobs heuert bei der Computerfirma Atari an, um Geld für eine Reise nach Indien zu verdienen. Auf seiner späteren Reise wird er zum Buddhisten und Veganer. Quelle: dpa
Steve Jobs (rechts) und Steve Wozniak Quelle: dpa
Apple II Quelle: AP
Jobs Quelle: AP
1982 - 19841982 holt Jobs den deutschen Designer Hartmut Esslinger und sein Team nach Kalifornien, um das Aussehen der Apple Computer neu zu definieren. Der Apple Macintosh von 1984 ist seitdem ein Stück Designgeschichte. Quelle: dpa

Eine neue Ära bricht an

Zweitens sind wir überzeugt, dass der von der Digitaltechnik herbeigeführte Wandel durch und durch positiv ist. Für uns bricht eine Ära an, die nicht nur anders wird: Sie wird besser, weil wir neben der Vielfalt auch das Volumen unseres Konsums steigern können.

So formuliert – im spröden Jargon der Wirtschaftswissenschaftler – klingt das wenig einladend. Wer will denn schon immer mehr konsumieren? Dabei „konsumieren“ wir ja auch Informationen aus Büchern und von Freunden, Unterhaltung durch Superstars und Amateure, Erkenntnisse von Lehrern und Akademikern und zahllose andere immaterielle Dinge. Technik kann uns diesbezüglich größere Auswahl und mehr Freiheit bringen.

Werden diese Dinge digitalisiert – in Bits verwandelt, die auf einem Rechner gespeichert und über ein Netz versendet werden können –, erhalten sie diverse eigenartige und wundersame Eigenschaften. Sie unterliegen anderen wirtschaftlichen Grundsätzen, unter denen der Überfluss die Norm ist, nicht der Mangel.

Digitalisierung verbessert die physische Welt

Digitale Güter sind anders als physische, und dieser Unterschied ist von großer Bedeutung. Natürlich sind physische Güter nach wie vor wesentlich. Die meisten von uns hätten gern mehr davon, in größerer Auswahl und besserer Qualität. Vielleicht wollen wir ja gar nicht mehr essen, aber auf jeden Fall besser oder anders. Die Digitalisierung verbessert die physische Welt, und diese Verbesserungen werden immer bedeutsamer. 

Unsere dritte Schlussfolgerung ist weniger optimistisch: Die Digitalisierung bringt heikle Herausforderungen mit sich. Das sollte uns an sich weder überraschen noch beunruhigen. Selbst die vorteilhaftesten Entwicklungen haben unangenehme Folgen, die wir in den Griff bekommen müssen. Mit der industriellen Revolution gingen Rußschwaden über London und die grauenhafte Ausbeutung der Arbeitskraft von Kindern einher.

Wo Maschinen menschliche Arbeitskraft ersetzen
1. BankkassiererWann haben Sie eigentlich das letzte Mal Geld am Schalter bei einem Bankkassierer abgehoben? Richtig, das ist lange her. Mittlerweile können Überweisungen, Auszahlungen und die Abfrage des Kontostands bequem am Automaten erledigt werden. Lediglich bei komplizierten Überweisungen oder spezielle Fragen zieht es die Kunden noch zu den Bankkassierern an den Schalter. Laut Mark Gilder von der Citibank können „mindestens  85 Prozent der Transaktionen, die am Schalter gemacht werden können, auch durch den Automaten übernommen werden.“ Und das ist noch nicht das Ende: Citibank experimentiert derzeit mit videobasierten Schaltern in Asien. Quelle: AP
2. KassiererWer in einem großen Supermarkt einkaufen geht, kann sie kaum übersehen: Die Selbstzahl-Schalter. Anstatt sich an der Kasse anzustellen, greifen viele Kunden schon jetzt auf die Möglichkeit der Zahlung am Automaten zurück. Selbst die Produkte aus dem Einkaufswagen einscannen und am Automaten bar oder mit der EC-Karte bezahlen. Rund 430.000 solcher Automaten sind weltweit bereits in Betrieb – mehr als das Vierfache als noch im Jahr 2008. Auch wenn Supermärkte wie Big Y und Albertson’s (USA) und auch Ikea nach Kundenbeschwerden ihre Selbstzahl-Automaten wieder zurückzogen geht der Trend doch eindeutig in Richtung elektronischer Bezahlung. Quelle: dpa
3. RezeptionistLange waren Rezeptionisten das "Gesicht" der Hotels und erste Anlaufstelle für die Gäste. Bald könnten auch sie durch virtuelle Arbeitskräfte ersetzt werden. In Japan wurde sogar schon mit Robotern experimentiert. Ob das den Kunden gefällt, ist jedoch eine andere Frage. Mit einem Automaten zu telefonieren, geht den meisten auf die Nerven, bei einem Roboter einzuchecken, macht ihnen Angst. Viele bevorzugen nach wie vor das persönliche Gespräch. Deswegen gute Nachricht für Rezeptionisten: Die Anzahl an Arbeitsplätzen in der Branche steigt derzeit um etwa 14 Prozent. Quelle: AP
4. TelefonistMenschen, die in einer lange Reihe vor Telefonen sitzen und Kundenanfragen bearbeiten, dieses Bild könnte bald schon der Vergangenheit angehören. Anrufbeantworter und computergenerierte Antwortprogramme ersetzen in diesem Bereich zunehmend die menschliche Arbeitskraft. Insbesondere Telefonumfragen, Tickethotlines und Informationsdienste von Firmen greifen bereits auf computergesteuerte Telefonannahmen zurück. Per Tastenkombination kann der Anrufer sich dann durch ein Menü klicken und auswählen, welche Informationen er abrufen möchte. Quelle: AP
5. PostboteDie E-Mail-Branche stellt Postunternehmen zunehmend vor finanzielle Probleme. Handgeschriebene Briefe werden immer seltener, wer sich etwas zu sagen hat, sei es privat oder im Job, der tut das meist per E-Mail. Immer weniger Briefe werden daher ausgetragen. Das Bureau of Labor Statistics sagt Postboten bis 2022 einen Arbeitsplatzrückgang von 28 Prozent voraus. Quelle: dpa
6. Reisebürokaufmann/-frauEs gab Zeiten, da existierte weder Expedia noch Orbitz. Um einen Flug zu buchen, musste man ins Reisebüro und sich von Reisekaufleuten beraten lassen. Heutzutage wird das für viele überflüssig. Anstelle von Katalogen und persönlicher Beratung vergleich sie im Internet die Preise und buchen ihren Urlaub direkt online. Das spart den Gang zum Reisebüro und kann bequem von zu Hause erledigt werden. Das  Bureau of Labor Statistics sagt der Branche daher einen Rückgang von gut zwölf Prozent bis 2022 voraus. Quelle: AP
8. MaschinenschreiberKönnen Sie sich vorstellen, wie der Geschäftsführer seine Sekretärin bittet auf der Schreibmaschine „einen Brief auf zusetzen?“ Das ist heute längst aus der Mode geraten. In Zeiten bloggender, twitternder Chefs und stimmenaufzeichnender Software, sind Maschinenschreiber längst überflüssig. In den nächsten acht Jahren wird die Anzahl der Arbeitskräfte in diesem Bereich laut Bureau of Labor Statistics noch um weitere sechs Prozent zurückgehen.   Quelle: dpa

Was werden die modernen Parallelen dazu sein? Rasche und immer schnellere Digitalisierung dürfte eher wirtschaftliche als ökologische Verzerrungen mit sich bringen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass Computer leistungsfähiger werden und Unternehmen für bestimmte Tätigkeiten weniger Mitarbeiter brauchen.

Die beste Zeit für Spezialisten

Der technische Fortschritt in seiner rapiden Weiterentwicklung wird den einen oder anderen hinter sich lassen – möglicherweise auch viele.

Es gab nie eine bessere Zeit für Arbeitskräfte mit speziellen Kompetenzen oder der richtigen Ausbildung, denn solche Menschen können die Technik nutzen, um Wert zu generieren und abzuschöpfen. Für Arbeitnehmer mit „gewöhnlichen“ Kompetenzen und Fähigkeiten gab es dagegen kaum eine schlechtere Zeit, denn Computer, Roboter und andere digitale Technik erwerben solche Kompetenzen und Fähigkeiten mit beispielloser Geschwindigkeit.

Im Lauf der Zeit kamen die Menschen in England und anderen Ländern zu der Überzeugung, dass manche Aspekte der industriellen Revolution nicht hinnehmbar waren, und schufen Abhilfe. (Dazu trugen demokratische Regierungen und technischer Fortschritt gleichermaßen bei.)

Heute gibt es in Großbritannien keine Kinderarbeit mehr, und in London enthält die Luft weniger Rauch und Schwefeldioxid denn je – oder zumindest seit Ende des 16. Jahrhunderts.

Auch die Herausforderungen durch die digitale Revolution lassen sich meistern. Doch zunächst müssen wir uns darüber klar werden, worin sie eigentlich bestehen. Wir müssen die voraussichtlich negativen Konsequenzen des zweiten Maschinenzeitalters unbedingt beim Namen nennen und einen Dialog darüber anstoßen, wie wir sie abfedern können. Wir sind zuversichtlich, dass sie überwindbar sind, doch von allein werden sie sich kaum ausräumen.

Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird“ (Plassen Verlag, Oktober 2014)

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