Sterile Welt Keimtötende Produkte boomen trotz teils fraglichem Nutzen

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Kinder im Sandkasten. Quelle: dpa

Wie sensibel das Gleichgewicht ist, haben Berliner Wissenschaftler um die Mikrobiologin Christine Lang beobachtet. Sie fanden auf gesunder Haut überwiegend das Bakterium Staphylococcus epidermis. Wird das zurückgedrängt, macht sich der Konkurrent Staphylococcus aureus breit und ermöglicht, dass Entzündungen aufflammen und Pickel sprießen. „Man wird davon wegkommen müssen, Mikroorganismen immer als Krankheitskeime zu sehen“, sagt Lang.

Zumal sich übertriebene Hygiene rächen kann: Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen oder früh in den Kindergarten gehen, leiden später seltener an Allergien, belegen etliche Studien. Laut der sogenannten Hygiene-Hypothese sei das Folge frühen Kontakts mit bestimmten Mikroben, die das Immunsystem auf wirklich krankmachende Erreger trainieren. Das verhindere, dass die Immunabwehr später fehlgeleitet wird und auf harmlose Substanzen wie Pollen allergisch reagiert.

Mutierte Bakterien

Schlimmer noch. Die keimfreien Produkte könnten Bakterien mutieren lassen, die dem Menschen anschließend weit ernsthafter gefährlich werden. Speziell der Einsatz von Chemikalien wie der keimtötenden Substanz Triclosan bei der Mikrobenjagd sei nicht nur überflüssig, sondern bedenklich, lautet das Urteil der Kritiker.

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Produkte auf den Markt gekommen, bei denen Tricolsan zum Einsatz kommt, darunter Müllbeutel, Schuhsohlen und Unterwäsche. 90 Produkte mit der Chemikalie sind bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund gelistet.

Streit um den Einsatz von Triclosan

Der schwelende Streit fand im Juni einen vorläufigen Höhepunkt. Das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung forderte ein Verbot des verbreiteten Biozids in allen Gegenständen mit Lebensmittelkontakt, wie Schneidbrettern oder Plastikdosen. Der Einsatz von Triclosan solle auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden und in Textilien gar nicht vorkommen.

Die keimtötende Chemikalie hat einen schlechten Ruf. Sie kann Allergien auslösen und reichert sich im Fettgewebe sowie der Muttermilch an. Darüber hinaus gibt es Indizien, dass die Substanz Antibiotika-Resistenzen beschleunigt. Denn Triclosan wird meist so gering dosiert, dass einige Bakterien überleben und allmählich nicht nur gegen die Chemikalie, sondern auch andere Antibiotika widerstandsfähig werden. So könnten sie sich mit der Zeit besonders leicht gegen Arzneien wappnen. „Deshalb sehen wir die zunehmende Verbreitung von Bioziden an Stellen, wo sie gar nicht notwendig sind, besonders kritisch“, sagt der Freiburger Mikrobiologe Schuster, der in der Klinik täglich Patienten begegnet, denen Antibiotika nicht mehr helfen können.

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