Sterile Welt Keimtötende Produkte boomen trotz teils fraglichem Nutzen

Keimtötende Socken, Hemden, Tastaturen und Waschmaschinen erleben einen Boom. Fast im Wochentakt bringen Hersteller neue antibakterielle Produkte auf den Markt. Doch einige sind von höchst zweifelhaftem Nutzen.

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Eine Petrischale mit einer Quelle: AP

Michael Kohne kennt keine Krise. Die Geschäfte des Chefs des Textilfaserherstellers Smartfiber in Rudolstadt bei Jena laufen bestens. Dreieinhalb Jahre nach seiner Gründung rechnet das 32-köpfige Unternehmen erstmals mit einem Gewinn, bei einem Umsatz von 2,5 Millionen Euro. Industrie und Verbraucher können von den Smartfiber-Produkten nicht genug bekommen. Denn in Rudolstadt rauscht antimikrobielle Ware vom Band. In den High-Tech-Fasern stecken Silberionen, die Bakterien und Krankheitserreger abtöten.

Europäische Verbraucher holen auf

Kohnes jüngster Clou: eine antimikrobielle Plastikkugel. Legt man den tennisballgroßen Bluemagic-Ball mit der Wäsche in die Maschine „dann ist auch die Waschmaschine rein und der Bakterienfilm weg“, so Kohnes Versprechen. Die antibakterielle Wirkung halte selbst im Schrank noch bis zu zehn Wochen lang.

Rund 170.000 magische Bälle hat er schon verkauft. Ohne Werbung zu schalten, sagt Kohne, „ein Riesenerfolg“. Und er hat noch mehr Wundermittel parat: ein antibakterielles Wischtuch etwa, das monatelang benutzt werden könne, ohne es zu waschen, und schon bald will er eine Einlegesohle gegen Fußpilz auf den Markt bringen.

Die Furcht vor der Mikroben-Invasion beschert nicht nur dem Faserspezialisten aus Rudolstadt volle Auftragsbücher: Quer durch alle Warengruppen wächst die Zahl der Produkte, die mit keimtötenden Substanzen versetzt sind, ähnlich rasant wie Bakterienkulturen in Nährlösung. Das Marktwachstum werde getrieben von der Vorstellung der Verbraucher, „dass Produkte mit Bioziden eine Krankheitsausbreitung verhindern“, urteilt das Tübinger Beratungshaus Helmut Kaiser Consultancy in einer aktuellen Studie zu antimikrobiellen Produkten.

Angstmacherei mit Keimen

Die Mikrobe – der Eindruck drängt sich auf – lauert immer und überall. Die Erkenntnis bescherte der Keimfrei-Branche zunächst in den USA und Japan einen Boom. Doch nun holen Europas Verbraucher auf. Die Sorge vor Krankheitserregern aller Art – ob Salmonellen oder Legionellen – scheint hochinfektiös.

Längst reicht die Palette von bakterienreduzierender Unterwäsche über antibakterielle Computertastaturen bis zu bakterienabweisendem Kinderspielzeug und Babyflaschen sowie – selbstredend – Besteck und Geschirr. Sogar Küchen und Bäder können schon bakterientötend ausgestattet werden. Der Schweizer Hersteller Sanitized, einer von zahlreichen Produzenten antimikrobieller Textilfasern, wirbt gar für Hemden, Matratzen und Handtücher, die von Bakterien befreien und wie ein „eingebautes Deodorant“ wirken sollen.

Persil Waschmittel der Firma Quelle: AP

In nur fünf Jahren haben die silberhaltigen Bakterienkiller ihr weltweites Marktvolumen mehr als verzehnfacht – auf geschätzte 770 Millionen Dollar im kommenden Jahr. Das ist nur ein Bruchteil des antimikrobiellen Gesamtmarktes, der auch Produkte umfasst, die mit Bioziden behandelt sind, Chemikalien, die Mikroben töten. Der Umsatz mit keimtötenden Kunststoffen etwa werde sich alleine in Westeuropa von rund 1,9 Milliarden Dollar vor zwei Jahren bis 2015 auf 3,65 Milliarden Dollar nahezu verdoppeln, schätzen die Helmut-Kaiser-Berater.

Mikroben überleben länger

Ein Treiber der wachsenden Bakterienangst sind ausgerechnet die modernen Waschmittel. Die sind dank neuer Rezepturen zwar in der Lage, Wäsche auch bei niedrigen Temperaturen um etwa 30 Grad sauber zu waschen. Mikrobiologen aber bestätigen: Im lauwarmen Wasser überleben weit mehr Mikroben als bei höheren Temperaturen oder gar in der Kochwäsche.

Den Herstellern antibakterieller Produkte kommt die Renaissance eines jahrtausendealten Verfahrens zur Keimvernichtung daher wie gerufen. Schon vor über 3000 Jahren nämlich wurde Wasser in Silbergefäßen aufbewahrt. Und zu Großmutters Zeiten wurde die Milch mit Silbermünzen länger haltbar gemacht. Sie setzen laufend Silberionen frei, die den Stoffwechsel der Mikroben blockieren.

Seit den Siebzigerjahren wächst die Zahl der Patentanmeldungen für antimikrobielle Silberartikel in Europa. Doch erst seit der Jahrtausendwende hat sich der Zuwachs stark beschleunigt. „Silber, das ist der große Trend“, sagt Raphael Huppermans, deutscher Vertriebsmanager beim auf antimikrobielle Textilfasern spezialisierten Hersteller Rhovyl aus Frankreich.

Mit Silber gegen Fußpilz

16 von 28 frei stehenden Kühlgeräten der Firma Bosch tragen bereits das Anhängsel „AntiBacteria“. Knapp jede dritte in Deutschland vertriebene Samsung-Waschmaschine werde bereits mit Silberaktiv System verkauft, teilt der Konzern mit. „Früher wurde bei hohen Temperaturen gewaschen. Da hatte man kein Problem. Heute kommt es vor, dass sich im Gerät Bakterien und Pilze ausbreiten und die anfangen zu riechen“, erläutert Samsung-Labormanager Wyneken Fimmen.

Alleine 622 silberhaltige Biozidprodukte sind inzwischen in Deutschland gemeldet. Als Salz oder in fein verteilter Form, teils 1000-mal dünner als ein Menschenhaar, wird Silber gegen Fußpilz in Socken eingewebt oder als Nanopartikel Lebensmittelverpackungen beigemischt oder in Wandfarben als Schimmelhemmer eingesetzt. Teils werden die Fasern getränkt, teils metallische Silberteilchen hineingemischt, die dann an der Oberfläche haften – und fortan die Zahl der Keime in der Umgebung minimieren.

Fleisch schneiden Quelle: dpa

Nicht alle Produkte sind so selbsterklärend, wie die antimikrobielle Türklinke, die bakterientötende Klobrille oder die Zahnbürste. In der Werbung für seinen antibakteriellen Brauseschlauch etwa erklärt der Badausstatter Hansgrohe daher: „Einige Mikroorganismen können für unsere Gesundheit ausgesprochen gefährlich werden.“ Der Schlauch soll gegen „Kolibakterien, Salmonellen und weitverbreitete Legionellen – Verursacher der gefährlichen Legionärskrankheit“ vorgehen, heißt es im Produktkatalog.

Beim Umweltbundesamt in Bad Elster sieht man derlei Versprechen skeptisch. Hochwertige Duscharmaturen würden einer mikrobiologischen Prüfung unterzogen, erläutert der UBA-Biologe Benedikt Schaefer. „Den Test bestehen die Armaturen auch ohne Silberung.“ Hätte der Silbereinsatz nennenswerte Vorteile, so Wissenschaftler Schaefer, „würden wir das als Behörde gern vorschreiben“.

Gesundheitsrisiko ist nicht einschätzbar

Genau das aber, monieren Kritiker des Keimfrei-Booms, wie etwa Fachleute des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) in Berlin, sei schlicht „überflüssig“. Gewöhnliches Putzen schütze viel besser vor Lebensmittelvergiftungen – und reiche aus, so die Experten der dem Bundesverbraucherschutzministerium angegliederten Behörde. Silberteilchen in der Kunststoffauskleidung von Kühlschränken etwa halten sie für nutzlos und stellen deren desinfizierende Wirkung infrage.

„Viele Hersteller argumentieren wider besseren Wissens“, zürnt auch Armin Schuster, Mikrobiologe und Infektionsexperte am Universitätsklinikum in Freiburg. Denn Silberoberflächen alleine könnten gar keine Lebensmittelinfektionen verhindern. „Selbst wenn Sie das Fleisch roh darauf legen, bleiben die Keime im verdorbenen Fleisch immer noch drin.“ Das BfR warnt sogar ausdrücklich vor antimikrobiellen Nanoteilchen in Geschirr, Schneidbrettern und ähnlichen Gegenständen, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen. Ob von Nanopartikeln ein Gesundheitsrisiko ausgehe, sei mangels Daten noch gar nicht abzuschätzen.

Falsche Botschaften

Wissenschaftler beobachten den Keimfrei-Trend mit Sorge. „Den Konsumenten wird eine völlig falsche Botschaft vermittelt“, sagt Mikrobiologe Schuster. Dem Verbraucher werde eine allgemeine Bakteriengefahr vorgegaukelt. Dagegen seien die meisten Mikroorganismen gar nicht krank machend. „Sie sind für Menschen nicht nur harmlos, sondern teils auch gut“, so der Freiburger Wissenschaftler.

Die menschliche Haut etwa wird von verschiedenen Bakterien besiedelt, die hochwirksame Antibiotika produzieren, die wiederum vor Krankheitserregern schützen. Sie wirken so schnell und so zuverlässig wie keine handelsübliche Arznei. Umso bedenklicher ist, wenn diese schützende Flora durch antimikrobielle Textilien dezimiert wird.

Kinder im Sandkasten. Quelle: dpa

Wie sensibel das Gleichgewicht ist, haben Berliner Wissenschaftler um die Mikrobiologin Christine Lang beobachtet. Sie fanden auf gesunder Haut überwiegend das Bakterium Staphylococcus epidermis. Wird das zurückgedrängt, macht sich der Konkurrent Staphylococcus aureus breit und ermöglicht, dass Entzündungen aufflammen und Pickel sprießen. „Man wird davon wegkommen müssen, Mikroorganismen immer als Krankheitskeime zu sehen“, sagt Lang.

Zumal sich übertriebene Hygiene rächen kann: Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen oder früh in den Kindergarten gehen, leiden später seltener an Allergien, belegen etliche Studien. Laut der sogenannten Hygiene-Hypothese sei das Folge frühen Kontakts mit bestimmten Mikroben, die das Immunsystem auf wirklich krankmachende Erreger trainieren. Das verhindere, dass die Immunabwehr später fehlgeleitet wird und auf harmlose Substanzen wie Pollen allergisch reagiert.

Mutierte Bakterien

Schlimmer noch. Die keimfreien Produkte könnten Bakterien mutieren lassen, die dem Menschen anschließend weit ernsthafter gefährlich werden. Speziell der Einsatz von Chemikalien wie der keimtötenden Substanz Triclosan bei der Mikrobenjagd sei nicht nur überflüssig, sondern bedenklich, lautet das Urteil der Kritiker.

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Produkte auf den Markt gekommen, bei denen Tricolsan zum Einsatz kommt, darunter Müllbeutel, Schuhsohlen und Unterwäsche. 90 Produkte mit der Chemikalie sind bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund gelistet.

Streit um den Einsatz von Triclosan

Der schwelende Streit fand im Juni einen vorläufigen Höhepunkt. Das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung forderte ein Verbot des verbreiteten Biozids in allen Gegenständen mit Lebensmittelkontakt, wie Schneidbrettern oder Plastikdosen. Der Einsatz von Triclosan solle auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden und in Textilien gar nicht vorkommen.

Die keimtötende Chemikalie hat einen schlechten Ruf. Sie kann Allergien auslösen und reichert sich im Fettgewebe sowie der Muttermilch an. Darüber hinaus gibt es Indizien, dass die Substanz Antibiotika-Resistenzen beschleunigt. Denn Triclosan wird meist so gering dosiert, dass einige Bakterien überleben und allmählich nicht nur gegen die Chemikalie, sondern auch andere Antibiotika widerstandsfähig werden. So könnten sie sich mit der Zeit besonders leicht gegen Arzneien wappnen. „Deshalb sehen wir die zunehmende Verbreitung von Bioziden an Stellen, wo sie gar nicht notwendig sind, besonders kritisch“, sagt der Freiburger Mikrobiologe Schuster, der in der Klinik täglich Patienten begegnet, denen Antibiotika nicht mehr helfen können.

Sollte sich der Verdacht erhärten, wäre es am Ende paradoxerweise der ständige Kampf gegen vergleichsweise harmlose Kleinstlebewesen, der sie erst wirklich gefährlich werden ließe. Derart mutierte Mikroben wären dem Menschen allemal haushoch überlegen, weil ihre Mutationsgeschwindigkeit die Innovationszyklen der Industrie weit übersteigt.

Triclosan ist nicht der einzige Keimvernichter, dessen Einsatz Toxikologen monieren. Seit Jahren schon steht beispielsweise Isothiazolinon, eine weitere antimikrobielle Komponente, die manchen Produkten auch als Schutz gegen Schimmel beigefügt wird, in der Kritik. „Einige Isothiazolinone sind als Kontaktallergene bekannt“, heißt es in einer Übersicht des BfR. Aufgrund der möglichen Risiken wie Allergien seien antimikrobielle Textilien daher nicht zu empfehlen, so das Urteil der BfR-Experten. Dennoch ist Isothiazolinon für 17 Produkte auf dem deutschen Markt registriert.

Sinnvoller Umgang mit antibakteriellen Werkstoffen

Denn – bei aller Kritik – gänzlich sinnlos sind die keimtötenden oder biozid wirkenden Werkstoffe nicht. Lebensmittelfabriken etwa müssen strenge Hygienevorgaben einhalten. Andernfalls könnte beispielsweise ein verdorbener Schlegel Tausende Geflügelstücke mit Salmonellen verunreinigen – und ebenso viele Verbraucher gefährden. Täglich werden Maschinen, Fließbänder und Walzen in der Lebensmittelproduktion daher mit scharfen Desinfektionsmitteln abgesprüht.

Mitunter aber setzen sich mehrere Schichten von Mikroorganismen als Biofilm auf den Produktionsanlagen fest. Dann komme man mit Desinfektionsmitteln nicht mehr an die Bakterien im Innersten heran, erklärt der Molekulargenetiker Carsten Harms vom Forschungsdienstleister ttz in Bremerhaven. Bei Milchverarbeitern, in der Fruchtsaft- oder der Fischindustrie könnten keimarme Spezialwerkstoffe daher sinnvoll sein.

Dem pflichtet auch der Freiburger Mikrobiologe Schuster bei: In Milchbetrieben oder auch der Papierindustrie sei der ständige Bewuchs mit Bakterien ein Problem. Keimtötende Technik, die den Bedarf an Desinfektionsmittel verringere, „wäre sicher ein Segen“, findet Schuster. „Verbraucher aber sollten solch antibakterielle Produkte meiden.“

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