Traditionelle chinesische Medizin "Gefrorene Schulter"

Alternative Heilverfahren aus Fernost werden auch in Deutschland immer populärer. Als bei einem schmerzhaften Rückenleiden unseres China-Korrespondenten Matthias Kamp die westliche Medizin nicht weiterkam, testete er die chinesische Heilkunst. Ein Selbstversuch.

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Matthias Kamp bei Doktor Zhu Daifu

Vorsichtig hebt Zhu Daifu meinen rechten Arm in die Höhe und hält ihn vor seine Brust. Dann lässt der bald 70-Jährige chinesische Arzt seine linke Hand einige Sekunden auf meinem Rücken ruhen, und die Diagnose steht fest: „Gefrorene Schulter“, murmelt Dr. Zhu und lächelt dabei zufrieden.

Seit Tagen durchzieht ein stechender Schmerz die obere rechte Hälfte meines Rückens. Jetzt weiß ich also, was es ist: eine „gefrorene Schulter“. Ich kann den Kopf kaum bewegen, kann keinen Bleistift, keine Zahnbürste halten, keine Computermaus bewegen, denn der Schmerz zieht bis hinunter in den rechten Arm, der allmählich taub zu werden scheint. Sitzen geht nicht, Liegen schon gar nicht. Lediglich Stehen und langsames Gehen bringen ein wenig Linderung. Völlig übernächtigt gehe ich zunächst zu einem britischen Arzt in Pekings angesehener SOS Clinic. Dort lassen sich hauptsächlich in China lebende Ausländer behandeln.

Schmerztabletten mit minimalem Erfolg

Für seine Diagnose braucht Jon Craig, der einst bei den in Deutschland stationierten britischen Truppen gearbeitet hat, kaum länger als Dr. Zhu. Der hagere Brite – immerhin Chief Medical Officer der Klinik – lässt mich den Kopf in den Nacken, dann zur Seite legen. Anschließend drücke ich den Kopf auf die Brust. „Eine Bandscheibe ist verrutscht und drückt gegen einen Nerv“, erklärt mir Craig knapp, „die findet aber innerhalb von sechs Wochen ganz von alleine zurück in ihre alte Position“ – und schickt mich mit einem Entzündungshemmer und Schmerztabletten nach Hause.

Dort versuche ich mir in den darauffolgenden Tagen mit der linken Hand die Zähne zu putzen, schreibe – ebenfalls mit der linken Hand – ein paar E-Mails. Nachts gehe ich in Küche und Wohnzimmer auf und ab – und schlucke ansonsten fleißig Craigs Pillen. Mit leider nur minimalem Erfolg, sogar die Schmerztabletten helfen kaum.

Nach drei weiteren fast unerträglichen Tagen nehme ich schließlich den Rat eines Freundes an und wende mich an einen chinesischen Arzt. Zhu Daifus Praxis liegt in einer Seitengasse, einem der malerischen Hutongs, am Rande von Pekings Zentrum für traditionelle chinesische Medizin. Zwei Steinlöwen bewachen den Eingang zu dem Gebäude. Nebenan drängen sich Patienten in einer Praxis für Akupunktur. Zwei Türen weiter bietet ein Händler Nadeln für eben dieses Heilverfahren an.

Zhu Daifu sitzt in einem spartanisch eingerichteten Zimmer im zweiten Stock des leicht muffigen Baus. Nachdem er seine Diagnose gestellt hat – die Ursache sei vermutlich zu dichtes und zu langes Sitzen unter der Klimaanlage –, beugt er sich über seinen breiten Schreibtisch und diktiert seiner Assistentin eine lange Reihe chinesischer Begriffe. Die junge Chinesin kritzelt die Schriftzeichen auf ein dünnes, pergamentpapierartiges Zettelchen. Ginseng ist darunter, Zimtzweige und Puerariae, eine Wurzel, die angeblich die Energie wieder „an die Oberfläche bringt“, wie Dr. Zhu versichert. Insgesamt 18 Substanzen weist die Liste am Ende auf.

Mit dem Zettel laufe ich hinunter in den ersten Stock, wo eine Apothekerin die Kräuter und geriebenen Wurzeln in einer Papiertüte mischt und anschließend einen dickflüssigen Sud daraus kocht. Das braune Gebräu (Dr. Zhu: „Sieht doch aus wie Cola, oder?“) verteilt die Apothekerin anschließend auf 14 Plastikbeutelchen, die sie an der Oberkante zuschweißt. Zhu Daifu trägt mir auf, jeden Tag zwei Portionen mit etwas heißem Wasser zu mischen und zu trinken und schickt mich sodann in ein Zimmer nebenan zu seinem Assistenten.

Bei der Behandlung

Der heißt wie sein Chef ebenfalls Zhu. Der Assistent beginnt an einzelnen Stellen meines Rückens herumzudrücken. Zhu zieht dann meinen rechten Arm senkrecht Richtung Zimmerdecke, reibt die Schulter mit einem weißen Tuch und drückt die Spitze seines Ellenbogens in meinen Nacken. Es knackt, kracht und grummelt in mir. Nach etwa 20 Minuten ist die Behandlung zu Ende, und die beiden Zhus schicken mich nach Hause. Als ich den Gang hinunter Richtung Ausgang laufe, merke ich es zum ersten Mal: Der ganz schlimme Schmerz ist weg. Zwar geht noch ein Ziehen durch Schulter und Arm. Doch ich kann meinen kopf nun besser bewegen. Zuhause werde ich das erste Mal seit Tagen wieder mit der rechten Hand schreiben.

Abends genehmige ich mir das erste Plastikbeutelchen mit Zhus „Cola“. Der Geschmack hat allerdings nicht im entferntesten irgendetwas mit der amerikanischen Brause gemeinsam. Die Medizin ist vor allem eines: bitter. Die kleinen Beutel liegen nun in meiner Küche, und ich trinke brav jeden Morgen und jeden Abend eine Tasse. Auch habe ich inzwischen zwei weitere Behandlungen bei Zhu Nummer Zwei hinter mir, das Ergebnis ist bestechend: Jeden Tag werden die Bewegungen etwas einfacher, und der Schmerz zieht sich allmählich aus Rücken und Arm zurück. Zwei weitere Behandlungen folgen noch, die braunen Beutelchen gehen allmählich zur Neige – bald dürfte die gefrorene Schulter aufgetaut sein.

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