Als der frisch ernannte Bundesumweltminister Peter Altmaier Anfang Juni vergangenen Jahres ins niedersächsische Wolfenbüttel reist, ist ihm die Tragweite einer der ersten Amtshandlungen wahrscheinlich allenfalls in Umrissen klar. Vordergründig betrachtet, setzt er mit dem Druck auf einen roten Knopf symbolisch ein Bohrgestänge in Gang, das die vor 30 Jahren versiegelte Kammer 17 des Atommülllagers Asse anbohren soll. Tatsächlich aber stürzt er die Bundesrepublik mit der Erkundungsbohrung in eines ihrer kühnsten technischen Abenteuer.
Ob es gut ausgeht, vermag heute niemand zu sagen. Gewiss ist hingegen schon, dass es für die Steuerzahler mit geschätzten Kosten von vorerst vier Milliarden Euro teuer wird – und viel länger dauert als erwartet. Dabei könnte es sich zu einem Lehrstück entwickeln, welche Fehler die Politik bei der gerade beschlossenen neuen Suche nach einem deutschen Atomendlager unbedingt vermeiden sollte.
Die lange Suche nach einem Atommüllendlager
Am 11. November 1976 bringt der niedersächsische Wirtschafts- und Finanzminister Walther Leisler Kiep (CDU) laut eigenen Aufzeichnungen Gorleben ins Spiel. Zuvor waren die Salzstöcke Wahn, Lutterloh und Lichtenhorst (alle Niedersachsen) favorisiert worden.
Die niedersächsische Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU) beschließt, in Gorleben an der Grenze zur damaligen DDR ein nukleares Entsorgungszentrum zu gründen. Ein transparentes Auswahlverfahren fehlt - die Hoffnung ist auch, dass der arme Kreis Lüchow-Dannenberg durch Investitionen der Atomindustrie einen Aufschwung erfährt.
Tiefbohrungen beginnen, um den Salzstock auf seine Eignung als Atommüllendlager zu erkunden.
Die Bauarbeiten für das oberirdische Zwischenlager Gorleben starten. Es liegt nur einige hundert Meter entfernt vom Salzstock.
Die Erkundung des Salzstocks unter Tage beginnt. SPD und Grüne werfen der Regierung von CDU-Kanzler Helmut Kohl vor, politischen Einfluss bei der Durchsetzung von Gorleben genommen zu haben. 2010 wird dazu ein Bundestags-Untersuchungsausschuss eingerichtet.
Von massiven Protesten begleitet, trifft im oberirdischen Zwischenlager der erste Castor-Behälter mit Atommüll ein.
Nach dem Regierungswechsel richtet Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) den Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AK End) ein. Er soll Ideen für ein neues Suchverfahren entwickeln.
Im Atomkonsens vereinbart die rot-grüne Bundesregierung mit den Stromversorgern den Ausstieg aus der Kernenergie. Die Erkundung in Gorleben wird bis spätestens 2010 ausgesetzt.
Trittin legt einen Entwurf für ein Standortauswahlgesetz vor: In einem bundesweiten Verfahren sollen neben Gorleben auch andere Standorte untersucht werden. Die Neuwahl lässt den Plan scheitern.
Nach der Wahl vereinbart die große Koalition, das Problem „zügig und ergebnisorientiert“ zu lösen. Während die Union an Gorleben festhält, fordert Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ein neues Auswahlverfahren. Es gibt keinen Fortschritt.
Norbert Röttgen (CDU), Bundesumweltminister in der seit 2009 amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung, teilt die Aufhebung des Erkundungsstopps mit. Gorleben habe weiter „oberste Priorität“.
Am 30. Juni 2011 beschließt der Bundestag den Atomausstieg bis 2022. Über Gorleben hinaus sollen andere Endlager-Optionen geprüft werden. Bayern und Baden-Württemberg zeigen sich offen für eine neue Suche.
Bei zwei Spitzentreffen von Bund und Ländern gibt es Fortschritte. Eine Einigung scheint zum Greifen nahe.
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird für den CDU-Spitzenkandidaten Röttgen zum Debakel. Er wird von Kanzlerin Angela Merkel entlassen. Nachfolger wird Peter Altmaier (CDU).
SPD und Grüne werfen Altmaier vor, eine Lösung zu verzögern - aber beide Parteien lähmen selbst den Prozess, weil sie uneinig sind, was den künftigen Umgang mit Gorleben betrifft.
Am 27. September 2012 weist Merkel vor dem Gorleben-Untersuchungsausschuss Vorwürfe zurück, sie habe in ihrer Zeit als Umweltministerin in den 1990er Jahren versucht, Gorleben als Endlager durchzudrücken.
Am 20. Januar 2013 gewinnt Rot-Grün die Landtagswahl in Niedersachsen, SPD und Grüne in Hannover wollen ein Aus für Gorleben durchsetzen.
Am 24. März 2013 gelingt Altmaier ein vorläufiger Durchbruch: Bis 2015 soll eine aus 24 Personen bestehende Enquetekommission Grundlagen und Vergleichskriterien für die Suche erarbeiten. Gorleben soll im Topf bleiben - Niedersachsen setzt aber auf ein rasches Ausscheiden. In einem Suchgesetz soll festgelegt werden, dass am Ende zwischen den beiden besten Optionen entschieden wird. Atommülltransporte in das Zwischenlager Gorleben soll es vorerst nicht mehr geben.
Vor knapp einem Jahr war die Euphorie noch groß. Altmaier und seine Fachleute glaubten, mit dem Start zur Bergung von 126 000 Fässern mit schwach- und mittelradioaktivem Abfall – plus einer unbekannten Menge weiterer Giftstoffe wie Arsen und Quecksilber – eine tickende Zeitbombe entschärfen zu können.
Immerhin ist das ehemalige Salzbergwerk Asse II, in dem der strahlende Müll lagert, extrem einsturzgefährdet. Was die atomare Fracht anrichtet, wenn herabstürzende Salzbrocken die Fässer zerdrücken, ob zum Beispiel das Grundwasser weiträumig radioaktiv verseucht wird, darüber streiten die Experten bis heute. Die Bevölkerung in der Region mag jedenfalls nicht als Versuchskaninchen dafür herhalten. Die Politik beugte sich dem Protest und unterstellte Asse II 2009 dem Atomrecht. Inzwischen hat der Bundestag die Rückholung der Fässer und die Stilllegung des Lagers gesetzlich fixiert. Doch schon der erste Bohrversuch zeigt, dass sich die Natur nicht an Pläne hält. Das Gestänge, das Altmaier in Gang gesetzt hatte, kam nie ans Ziel.
Fehlerhafte Pläne erschweren die Arbeit
Neun Monate lange tastete sich der Bohrtrupp in 750 Meter Tiefe vorsichtig durch das Gestein voran; Tag für Tag nur einige Dutzend Zentimeter weit in Richtung der Kammer 17. Aus ihr sollten probeweise die ersten gut 4300 Atomfässer geborgen werden, die dort hinter einer 20 Meter dicken Barriere vor sich hinrotten. Das eigentliche Ziel war, ihren Inhalt zu analysieren. Alle paar Minuten mussten die Männer den Bohrer stoppen und messen, ob sich in den Hohlräumen womöglich explosive Gase gebildet haben. Am Ende des Experiments dann die ernüchternde Erkenntnis: Kammer 17 war nicht da, wo die Messspezialisten sie vermutet hatten.
Nicht dass sie schlecht gearbeitet hätten. Vielmehr sind die Pläne, soweit überhaupt vorhanden, fehlerhaft. Und ganz offenbar hat sich die Kammer unter dem Druck des Bergs im Laufe der Jahre um einige Meter verschoben.
Suche nach den Fässern mit Atommüll
Seither ist klar: Die Suche ist vorläufig gescheitert; das Bergungskonzept muss gründlich überarbeitet werden. Der ursprüngliche Zeitplan ist Makulatur. Gerade erst hat die zweite Probebohrung begonnen; auch sie eine Reise ins Ungewisse.
Ursprünglich wollte das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das seit 2009 für die Asse zuständig ist, die Sanierung bis 2025 abgeschlossen haben. Jetzt heißt es, die Bergung des Atommülls könne frühestens 2036 beginnen. Wirklich festlegen mag sich BfS-Chef Wolfram König aber nicht und spricht von einem Wettlauf mit der Zeit. „Die Anlage ist instabil. Und wir wissen nicht, ob wir es morgen, in einem oder in fünf Jahren mit einem großen Wassereintritt zu tun haben, der die Rückholung unmöglich macht“, sagte er jüngst der „Süddeutschen Zeitung“.
126.000 Fässer Atommüll verschwunden
Schuld daran ist der Berg. Er ist so unruhig, dass viele Experten glauben, er werde in naher Zukunft zusammenbrechen und den dort lagernden Atommüll für immer unter sich begraben. Doch selbst wenn er durchhält, bleibt die Bergung ein Himmelfahrtskommando. Dass niemand weiß, wo genau die 126.000 Fässer mit radioaktivem Müll vor sich hinrotten, ist eins der fünf größten Hindernisse für die Realisierung des tollkühnen Rückholplans. Problem Nummer zwei: Viele der Fässer aus Stahl sind zerstört. Die Fässer, die in den riesigen Stapeln zuunterst liegen, sind, wie Experten befürchten, zerquetscht und vom Rost zerfressen. Der ausgetretene radioaktive Abfall hat Restwasser verseucht, das noch aus der Zeit stammt, als in der Grube Salz gefördert und durch Behandlung mit Wasser in Stein- und Kalisalz getrennt wurde. Verfahren, um derartigen radioaktiven Matsch zu bergen, gibt es nicht. Nach heutigem Stand der Technik wäre viel Handarbeit nötig.
Experten befürchten zudem, und das ist das dritte Hindernis, dass die Strahlenbelastung für die Menschen, die den Atommüll unter Tage einsammeln müssen, weitaus größer ist als die, die die Bewohner der Region ertragen müssten, wenn das Lager einfach sich selbst überlassen bliebe. Selbst das eher atomkritische Freiburger Öko-Institut ist sich nicht sicher, ob Bergung die bessere Lösung ist. Michael Siemann, einst Fachbereichsleiter im BfS, hält es für nahezu unmöglich, den Atommüll zu bergen: „Ich bin fassungslos, dass in der Politik davon nichts angekommen ist“, so Siemann in einem Fernsehinterview.
Schächte sind marode
Das vierte Hindernis ist der alte Förderschacht. Klaus-Jürgen Brammer, Atommüllexperte bei der Essener Gesellschaft für Nuklearservice, bezeichnet ihn als „völlig marode“. Eine Sanierung ist so gut wie ausgeschlossen. Schon allein deshalb, weil sein Förderkorb viel zu klein ist, um die für die Rückholung benötigten Roboter und Baumaschinen ins Innere des Berges zu hieven. Ebenso wenig wäre er groß genug dimensioniert, um den ausgegrabenen Nuklearabfall nach oben zu holen.
Also muss BfS-Chef Köhler einen völlig neuen, viel größeren Schacht ausheben lassen. Der Bauplatz befindet sich mitten in einem Naturschutzgebiet rund 1000 Meter vom jetzigen Schacht entfernt. Von diesem neuen Bergwerk aus, das – wenn alles gut geht – in 15 bis 20 Jahren fertig sein könnte, sollen Spezialisten eine Verbindung zu den Kammern graben, in denen die 126.000 Fässer schlummern.
Ferngesteuerte Roboter, so die Vorstellung, werden sie packen und auf fahrerlose Transporter laden, die sie zu einer Verladestation nahe der Schachtsohle karren. Dort verstauen Maschinen sie in strahlensichere Behälter. Erst dann holt der Förderkorb sie ans Tageslicht.
Beunruhigende Perspektive
Dort begänne Teil zwei des komplexen Sicherungsverfahrens: Pressen verdichten die Fässer in einer sogenannten Konditionierungsanlage zu handlichen Ballen. Sie werden dicht an dicht in Betonbehälter gedrückt; flüssiger Beton füllt die Hohlräume aus. Derart präpariert landen die Betonbehälter in riesigen Containern, deren Wände die radioaktive Strahlung für Jahrhunderte abschirmen sollen. Um die Container aufzubewahren, plant das BfS den Bau eines gigantischen Zwischenlagers in dem Naturschutzgebiet – 20 Fußballfelder groß.
Doch noch existieren Verpackungsanlage, ferngesteuerte Bagger und Roboter sowie das Zwischenlager nur als Ideenskizzen. Ob sie technisch zu bezahlbaren Kosten realisierbar sind, hat noch niemand ausgerechnet – Hindernis Nummer fünf.
Wegen all dieser Unwägbarkeiten bei der Operation Wahnsinn drängt sich die Frage der Alternativen auf. Manche Experten plädieren dafür, die Hohlräume, wie im ursprünglichen Stilllegungsplan vorgesehen, mit Sorelbeton auszufüllen. Dieser Spezialwerkstoff ist resistent gegenüber Salzen. Die Methode, argumentieren sie, würde den Berg stabilisieren. Und die mühsame Suche nach den Fässern entfiele.
Doch ob dies wirklich funktioniert, ist unter Fachleuten nicht minder umstritten als die Rückholung. Und wiederum ist unklar, ob der marode Förderkorb die gewaltigen Mengen an Material befördern kann, die für die Verfüllung nötig wären.
Das viel größere Problem jedoch: Die Wassereinbrüche aus dem Deckgebirge – derzeit 10.000 Liter pro Tag – können sich schlagartig vervielfachen. Dann müsste die Grube womöglich sofort evakuiert werden. Zum Schluss würde sie absaufen, wie Bergleute das Einströmen von Wasser nennen. 30 Jahre später, so steht es in einem Gutachten des Öko-Instituts, würde schwach radioaktives Salzwasser aus der Grube herausgepresst, das – ohne Gegenmaßnahmen – die Gegend am Austrittsort verstrahlte, wenn auch nur leicht.
Rundum keine beruhigenden Perspektiven. So könnte am Ende der wirkliche Wert des ungelösten Asse-Desasters in drei wichtigen Lehren für die im April erst neu begonnene Suche nach einem atomaren Endlager bestehen.
Die erste Erkenntnis lautet: Es kommen nur Salzstöcke infrage, in denen das Salz nicht wandert. Daher verbietet es sich, die Standorte nach politischer Opportunität statt nach deren geologischer Eignung auszuwählen, so die zweite Lehre. Die dritte nennt BfS-Chef König: Das Endlager findet sich nur im gesellschaftlichen Konsens.
Die Asse, mahnt er, sei wie ein Bilderbuch voll Warnungen: „Wir können es aufschlagen und sehen, wie es nicht geht.“