Die beiden Damen hatten sich schon früh auf den Weg gemacht. Am Ostseeufer der deutsch-polnischen Insel Usedom wollten sie im April Bernstein sammeln. Im nassen Sand entdeckten sie mehrere Klumpen, die den beliebten Steinen sehr ähnlich sahen.
Ein gefährlicher Irrtum. Denn auf dem Heimweg schlugen plötzlich Flammen aus ihren Handtaschen. Beide hatten statt zu Bernstein zu Phosphorklumpen gegriffen, die Bernstein so ähnlich sehen, dass selbst Experten Mühe haben, den Unterschied zu erkennen. Phosphor wurde im Krieg für Brandbomben genutzt: Ist die Oberfläche des Stoffes trocken, entzündet sich das Kampfmittel und beginnt mit einer Temperatur von 1.300 Grad zu brennen. Eine der beiden Frauen erlitt übelste Verbrennungen.
Die beiden Damen wurden Opfer einer Altlast aus dem Zweiten Weltkrieg. Kurz vor und nach dessen Ende versenkten deutsche und ausländische Schiffe gigantische Mengen an Giftgasgranaten, Brandbomben und sonstige Munition in Nord- und Ostsee. Neuerdings gefährdet die Altlast nicht mehr nur Bernsteinsammlerinnen: Sie stellt auch Ingenieure von Offshore-Windparks vor enorme Probleme.
Im schlimmsten Fall könnten ihnen die in den Meeresboden gerammten Windmühlen um die Ohren fliegen. Denn allein im deutschen Teil der Ostsee landeten 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe und 300.000 Tonnen konventionelle Munition. In der Nordsee verschwanden 90 Tonnen chemische Kampfstoffe und 1,3 Millionen Tonnen konventionelle Sprengkörper.
Gefahr beim Fischen
Aufgespülte Minen und Granaten explodieren immer wieder in den Netzen von Fischern. 400 Menschen starben, die meisten in den Nachkriegsjahren, und mehr als 600 wurden bis heute allein in den deutschen Abschnitten von Nord- und Ostsee verletzt, hat der Meeresbiologe und Experte für explosive Altlasten, Stefan Nehring, errechnet.
Welche Offshore-Windparks den Netzanschluss bekommen oder warten müssen
Der Windpark von Projektierer BARD wird als einiger der wenigen termingerecht ans Netz gehen.
Leistung: 400 Megawatt
Der verhältnismäßig kleine Windpark von Projektierer EWE/Enova soll termingerecht ans Netz angeschlossen werden können.
Leistung: 108 Megawatt
MEG 1 ist einer von drei Windreich-Projekten. Der Windpark soll termingerecht seinen Netzanschluss bekommen.
Leistung: 400 Megawatt
Der Windpark ist bereits in Bau und geht dank eines Interimsanschlusses termingerecht ans Netz.
Projektierer: Windreich
Leistung: 400 Megawatt
Ebenfalls dank Interimsanschluss geht der dritte Windreich-Park "Deutsche Bucht" termingerecht ans Netz.
Leistung: 273 Megawatt
Der Park von Projektierer BARD bekommt einen Interimsanschluss. Geht aber mit ca. 12 Monaten Verspätung ans Netz.
Leistung: 400 Megawatt
Der Windpark von Trianel befindet sich im Bau. Auf den Netzanschluss müssen die Betreiber rund 6 Monate warten.
Leistung: 400 Megawatt
Der Vattenfall-Windpark muss sechs Monate auf seinen Netzanschluss warten.
Leistung: 288 Megawatt.
Die Mühlen von Projektierer wpd gehen ebenfalls mit rund sechs Monaten Verspätung ans Netz.
Leistung: 288 Megawatt
Der Park von Projektierer Dong muss ein halbes Jahr auf den Netzanschluss warten.
Leistung: 277 Megawatt
Der Windpark befindet sich im Bau.
Verzögerung beim Netzanschluss: rund 12 Monate
Projektierer: Wind MW
Leistung: 288 Megawatt
Verzögerung beim Netzanschluss: ca. 12 Monate
Projektierer: Energiekontor
Leistung: 111 Megawatt
Der Windpark befindet sich im Bau.
Verzögerung beim Netzanschluss: mehr als 12 Monate
Projektierer: RWE
Leistung: 295 Megawatt
Der Windpark befindet sich im Bau.
Verzögerung beim Netzanschluss: mehr als 12 Monate
Projektierer: EnBW
Leistung: 288 Megawatt
Verzögerung beim Netzanschluss: mehr als 12 Monate
Projektierer: E.On
Leistung: 288 Megawatt
Das macht den Windkraftanlagenbauern Sorgen. Sie lassen daher spezielle Räumkommandos anrücken, die die gefährliche Fracht beseitigen sollen. Doch die kommen viel langsamer voran als erhofft. Sie stoßen auf bislang unbekannte Munitionsdepots und stehen zugleich vor schwer lösbaren Umweltproblemen. Daher ist absehbar, dass die Mission viel teurer wird als anfangs geplant. Nicht einmal Experten sehen sich derzeit in der Lage, die Mehrkosten abzuschätzen.
Der Netzbetreiber 50Hertz, der die Windparks in der Ostsee ans Festlandnetz anschließt, rechnet pro Leitung mit Baukosten „im mittleren dreistelligen Millionenbereich“. Nach den bisherigen Erfahrungen gehen zwei bis vier Prozent davon für die Bergung von Munition drauf, also ein einstelliger Millionen-Euro-Betrag.
Granaten unter Gaspipelines
Doch da fangen die Probleme auch schon an. Die Unterwasserroboter, die mit Radar- und Sonarscannern ausgestattet sind, stoßen neuerdings auf immer mehr verdächtige Objekte am Meeresgrund. Aber nur diejenigen, die nicht von Sand und Schlick verhüllt sind, lassen sich identifizieren und – sofern es Granaten sind – mit Roboter-Greifarmen bergen.
Verdächtige Objekte müssen die Experten via Fernsteuerung mit einem Wasserstrahl freilegen. Gelingt das nicht, müssen Taucher ausrücken. Bomben, Torpedos und vor allem Seeminen sind ohnehin zu groß, um geborgen zu werden. Sie werden an Ort und Stelle gesprengt – mit fatalen Folgen für die Tierwelt.
Die Druckwellen töten unzählige Fische, Robben und Wale „noch in einer Entfernung von vier Kilometern“, sagt der Meereszoologe und Gutachter Sven Koschinski. Außerdem vergiften Rückstände des Sprengstoffs das Meer. Diese Gifte gelangen über die Nahrungskette auch in Speisefische, warnt Hermann Kruse vom Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler der Universität Kiel, der eine Karte mit den Meeres-Munitionsdepots entwickelt hat.
Die Energiewende und der Sand im Getriebe
Der Netzausbau ist weit hinter dem Plan zurück. Die Betreiber der teuren Offshore-Windsparks in Nord- und Ostsee sind verärgert, dass es immer neue Verzögerungen gibt, beim Energiesparen gibt es kaum Fortschritte, die Debatte über die Ökostromförderung entwickelt sich zum Dauerbrenner - die Liste ließe sich fortsetzen. Die Regierung muss an zahlreichen Stellschrauben drehen, ein abgestimmtes Konzept ist in vielen Bereichen aber noch nicht erkennbar.
Der Ausbau der erneuerbaren Energie liegt nicht nur im Plan, er übertrifft sogar die Erwartungen. Im ersten Halbjahr 2012 machte Ökostrom erstmals mehr als 25 Prozent am deutschen Strommix aus, insgesamt wurden knapp 68 Milliarden Kilowattstunden ins Stromnetz eingespeist. Die Windkraft hat mit 9,2 Prozent den größten Anteil, vor der Bioenergie mit 5,7 Prozent. Der Anteil der Solarenergie hat sich binnen Jahresfrist fast verdoppelt und liegt nun mit 5,3 Prozent auf dem dritten Platz, vor der Wasserkraft mit vier Prozent.
Der Anstieg der erneuerbaren Energien kann für die Stromkunden teuer werden. Wenn mehr Ökostrom produziert wird, steigt auch die Umlage zur Förderung der Energie aus Sonne, Wind oder Wasserkraft, die über den Strompreis gezahlt wird. Diese ist im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) festgelegt und liegt aktuell bei 3,59 Cent pro Kilowattstunde. Das bedeutet für einen Durchschnittshaushalt rund 125 Euro Zusatzkosten pro Jahr. Der Aufschlag dürfte sich nun deutlich erhöhen. Spekuliert wird bereits über einen Anstieg auf 5,3 Cent zum Jahreswechsel, was die Kosten für einen Durchschnittshaushalt auf 185 Euro hochtreiben würde.
Das ist noch offen. Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) warnt immer wieder, dass hohe Strompreise die Wettbewerbsfähigkeit gefährden könnten. Er fordert deshalb eine Reform der Förderung. Die Regierung hat jedoch erst 2011 eine Reform des EEG auf den Weg gebracht, die Anfang 2012 in Kraft trat und bei der Solarförderung nochmals verändert wurde. Außerdem ist der Strompreis viel stärker gestiegen als die Ökoenergieförderung. Umweltschützer halten mangelhaftes Energiesparen und pauschale Befreiungen für die stromintensive Industrie für die eigentlichen Preistreiber.
Neben dem Ausbau der Windkraftanlagen an Land gilt der Ausbau der Offshore-Windenergie, also der Windkraftanlagen im Meer, als wichtiger Pfeiler der Energiewende. Bis zum Jahr 2020 sollen vor den Küsten Windenergieanlagen mit einer Kapazität von 10 000 Megawatt zur deutschen Stromerzeugung beitragen. Das sind ungefähr 2000 Windkraftwerke. Gegenwärtig arbeiten in der Nordsee aber erst 28 Anlagen mit 140 Megawatt Leistung. Dazu kommen noch 21 kleinere Windkraftwerke in der Ostsee - macht zusammen gerade einmal 180 bis 190 Megawatt.
Das größte Problem ist nach wie vor die Anbindung der Anlagen in Nord- und Ostsee an das Festlands-Stromnetz. Zudem reichen die Leitungen an Land nicht für den Weitertransport des Windstroms in den Süden Deutschlands. Die Stromerzeuger sehen wegen der Verzögerungen beim Netzanschluss inzwischen die ganze Energiewende in Gefahr. Sie verlangen dringend Klarheit, wer dafür haftet, wenn die Windparks stehen, aber nicht ans Netz gehen können. Wirtschaftsminister Rösler und Umweltminister Peter Altmaier (CDU) haben vorgeschlagen, dass die Verbraucher die Kosten für Verzögerungen über den Strompreis mittragen sollen. Rösler hofft auf eine endgültige Regelung noch im Sommer.
Für die Energiewende werden laut Bundesregierung 3800 Kilometer an neuen Stromautobahnen benötigt. Weitere 4400 Kilometer des bestehenden Netzes sollen fit gemacht werden für die schwankende Einspeisung von Wind- und Sonnenenergie. Die Netzbetreiber haben einen Entwurf für einen Netzentwicklungsplan vorgelegt, bis Mitte August soll eine zweite Version fertig sein. Die Bundesnetzagentur verlangt nun, der Ausbau müsse viel schneller gehen. Rösler fordert deshalb bereits, vorübergehend Umweltstandards außer Kraft zu setzen, so dass zum Beispiel bei Klagen gegen den Bau von Leitungen eine Gerichtsinstanz ausreicht.
Auf dem Pulverfass
Kruses Erkenntnis: Der Müll liegt fast überall. Denn viele Seeleute haben die gefährliche Fracht aus Angst, sie könne explodieren, vorzeitig über Bord gekippt. Das haben bereits die Erbauer der beiden Erdgaspipelines zwischen Russland und Lubmin bei Greifswald erfahren: Rund 75 Granaten und andere explosive Altlasten haben sie geborgen. Dass es nicht mehr sind, wundert Nehring: „Es müssten ein paar Tausend verdächtige Objekte sein“, sagt er. Hat er recht, verläuft die Pipeline auf einer Art Pulverfass, weil im Sand unter den Objekten noch unzählige Granaten lagern.
Das Risiko will man nicht noch einmal eingehen. Die Trassen für Stromkabel zu Offshore-Windparks werden daher gründlicher geräumt. In der Ostsee etwa waren Bergungstrupps mit vier 4,5 Millionen Euro teuren Unterwasserrobotern im Einsatz. Zwischen dem Windpark Baltic 1 und Barhöft nördlich von Stralsund säuberten sie einen 43 Kilometer langen und 50 Meter breiten Streifen. Zwei weitere, ähnlich lange Korridore sind noch in der Planung.
In der Nordsee beackern sie derzeit eine 50-Kilometer-Strecke zwischen dem Windpark Riffgat nordwestlich von Borkum und der Küste im Norden von Emden. Diese Trasse führt mitten durch ein Gebiet, in dem besonders viel Munition liegt. Umweltverbände fürchten, dass dort 2000 Tonnen Altlasten entsorgt werden müssen. Hier liegen einige der gefährlichsten Sprengkörper überhaupt: Seeminen, die wegen ihrer Größe, Sprengkraft und dünnen Hüllen nicht geborgen werden können. Die meisten müssen die Suchtrupps vor Ort hochgehen lassen.
Schneidender Wasserstrahl
Um den Schaden für die Tierwelt zu reduzieren, arbeiten Forscher an immer neuen Techniken: an einem Blasenschleier etwa, der dabei hilft, den Detonationslärm und die Druckwelle nach Sprengungen abzumildern. In 50 bis 100 Meter Abstand zur Mine wird dazu auf dem Meeresboden ein poröser Ringschlauch verlegt.
Während der Sprengung pressen Mitarbeiter von einem Schiff aus Luft in den Schlauch, die sich in Form von kleinen Blasen wie ein Schleier um den Ort der Sprengung legt. Dieser Blasenschleier des Lübecker Unternehmens Hydrotechnik reduziert den Lärm der Explosion um bis zu 90 Prozent.
Mittlerweile setzen Ingenieure die Technik auch ein, um die Lärmbelastung beim Bau von Fundamenten für Offshore-Windanlagen zu reduzieren.
Umweltverbänden reicht das nicht, auch deshalb, weil sich diese Technik nur in der Ostsee einsetzen lässt. In der Nordsee ist die Strömung an vielen Stellen zu stark. Sie fordern, dass Munition-Räumtrupps bessere Technologien nutzen. Wasserstrahl-Schneidegeräte zum Beispiel, mit denen sich die Munition am Meeresboden viel leiser zerlegen lässt. Wasser, das mit extrem hohem Druck durch eine Düse gepresst wird, hat eine Kraft, die der von Schneidbrennern vergleichbar ist.
Teure Technik
Ein weiteres Instrument sind dickwandige, etwa einen Kubikmeter große Kammern, die über die Bomben auf dem Meeresgrund gestülpt werden. Anschließend werden die Altlasten gesprengt. Doch diese Techniken, das bezweifelt kaum ein Experte, würden die Mission Ostsee-Säubern noch viel teurer machen.
Zu den problematischsten Überbleibseln des Zweiten Weltkriegs gehört das Senfgas. Auch vor der Küste Helgolands liegen große Mengen des Gifts.
Die Granaten liegen aber so tief, dass sie laut den Behörden keine Gefahr darstellen. Anders auf der Insel selbst: Niemand weiß, wie viele Blindgänger im Boden und im Uferbereich lagern – Überbleibsel aus den Jahren nach dem Krieg, als Helgoland britischen Bomberpiloten als Übungsplatz diente.
Jetzt sorgt die Energiewende dafür, dass auch hier Munition geräumt wird. Denn der Hafen wird zu einem Logistikzentrum für den Bau von Offshore-Parks umgebaut. In wenigen Jahren werden dort Schiffe stationiert sein, auf denen Wartungs- und Reparaturmannschaften zu den Windparks fahren. Das spart bei jedem Auftrag einige Stunden Anfahrzeit.
Das Spezialunternehmen Eggers aus Tangstedt bei Hamburg baggert 120.000 Kubikmeter Erdreich aus dem Südhafengelände, das sich an den Vorhafen anschließt. Mit Detektoren wird die gigantische Materialmenge auf Bomben und Munitionsreste untersucht. Wie viel die Experten finden werden, weiß niemand. Klar ist nur: So bald wird die explosive Fracht nicht geborgen sein.