Energieversorgung Was sich seit Fukushima verändert hat

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Deutschland

Atomkraftgegner protestieren vor dem Brandenburger Tor Quelle: dpa

Berlin

Die deutsche Hauptstadt ist 8759 Kilometer von Fukushima entfernt – doch ist die politische Distanzlosigkeit zum Reaktorunglück nirgends größer als hier. Die Vernunftversorgung des schwarz-gelben Bundeskabinetts ist unter dem Eindruck der Fernsehbilder im März 2011 lahmgelegt. Die Angst vor einem Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg geht um. Die Kanzlerin weiß, dass die meisten Deutschen der Atomkraft skeptisch gegenüberstehen. Und vielleicht ist Angela Merkel als gläubige Naturwissenschaftlerin ja wirklich fassungslos, dass das Atomkraftwerk eines Hochtechnologielandes in die Brüche gehen kann.

Lerneffekt in Deutschland

Wie auch immer – Merkel legt in einer Mischung aus Kalkül und Panik den Schalter um. Sie revidiert die „Revolution in der Energieversorgung“, die sie erst vor wenigen Wochen verkündet hat, und kippt die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke.

Anteile an der Stromversorgung in Prozent Quelle: IEA, BDEW, DECC

Seither haben die Deutschen viel gelernt: Dass die Lichter nicht sofort ausgehen, wenn ein paar Kernkraftwerke weniger laufen. Oder dass Rationalität in der Atomfrage bei den „Technologiefeinden“ lag, weil die Folgen eines Unfalls unbeherrschbar sind. Der Aufstieg der Grünen zur dritten politischen Kraft in Deutschland ist eine Folge des Lernprozesses. Dazu trägt auch ein Politikstil der Redlichkeit bei, wie er den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auszeichnet: Seine Initiative, selbstverständlich auch im Ländle nach einem Endlager für Atommüll zu suchen, hat eine sachgerechte Argumentation in dieser Frage überhaupt erst ermöglicht.

An den politischen Glaubwürdigkeitsschäden des Turn-arounds ändert das nichts. Lustvoll lässt die Regierung die Energiekonzerne nicht nur wie Dinosaurier aus einer energiepolitischen Vorzeit erscheinen; sie scheut sich auch nicht, ihnen schamlos in die Kasse zu greifen (Brennelementesteuer), während Umweltminister Norbert Röttgen Polit-Pirouetten dreht und flugs das Megarisiko Klimawandel gegen das Megarisiko Atomtod austauscht.

Erschüttertes Vertrauen

Kurzum: Das Vertrauen in die Politik ist seit Fukushima erschüttert – und eine sachgerechte Debatte vorerst unmöglich. Kann die Kernkraft helfen, globale Klimaziele zu erreichen? Gehen mit dem forcierten Ausbau der regenerativen Energien Wettbewerbsnachteile für die deutsche Industrie einher? Das sind nur zwei von vielen Fragen, die nicht mal mehr diskutiert werden, seit die Politik Fakten geschaffen hat, ohne sich um die Details zu kümmern.

Und die Details haben es in sich. Mit der Förderung der Fotovoltaik päppelt die Politik solvente Eigenheimbesitzer. Der Aufbau der Offshore-Windparks in der Nordsee lahmt. Die Hochspannungsleitungen, die den Strom in den energiehungrigen Süden bringen sollen, müssen erst noch gebaut werden. Und daran, dass in der neuen Energiewelt alte, ölbetriebene Meiler hochgefahren werden müssen, weil die Stromversorgung hakt, werden sich die Deutschen erst noch gewöhnen müssen.

Fazit: Von einer Energiepolitik aus einem Guss, die an der Sache orientiert ist und klima-, atom- und industriepolitische Interessen berücksichtigt, ist die Regierung ein Jahr nach Fukushima weiter entfernt als zuvor.

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