Fossile Energie Deutschlands Alternativen zu Russlands Gas

Die riesigen Schiefergasreserven Europas anzuzapfen zerstört die Umwelt und ist teuer. Gelingt es jetzt mit neuen schonenden Verfahren die Lagerstätten zu erschließen – und unabhängig vom russischen Gas zu werden?

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Das Fracking-Verfahren hat viele Gegner.

Mitten in der Einsamkeit Nordpolens rumpelten fast zwei Dutzend Trucks im vergangenen November über Landstraßen. Auf den Ladeflächen hatten sie Pumpen, Chemikalien und Tonnen von Keramikkügelchen. Ihr Ziel: ein umzäuntes Gelände, groß wie ein Fußballfeld, umgeben von Wiesen und Wäldern, nahe dem 300-Seelen-Dorf Lewino, 50 Kilometer nordwestlich von Danzig.

Zuvor hatten die Laster schon mehr als 1,2 Millionen Liter Wasser herangekarrt, das nun in grauen Tanks auf dem Gelände ruhte. Rund 40 Arbeiter in roten Overalls und Schutzhelmen befestigten Schläuche an den Trucks, verlegten Rohre zu einem Bohrloch und prüften Ventile. Dann pressten sie mit Pumpen das Wasser, vermischt mit den Chemikalien und den Keramikkügelchen, in den Boden.

Was hinter „Fracking“ steckt

Die Mixtur sprengte Risse in eine knapp 50 Meter dicke Schicht Tongestein, die dreieinhalb Kilometer tief unter der Erde liegt – das berühmt-berüchtigte Fracking. Auftraggeber war das irische Unternehmen San Leon Energy, das die Bohrrechte hier im Baltischen Becken nahe Lewino besitzt. Die Firma ist eine Art Rohstoffmaulwurf, der unkonventionelle Öl- und Gasfelder in Europa und Nordafrika aufspürt; der bekannte US-Investor George Soros hält rund ein Fünftel der Anteile.

Die Gasmenge, die aus dem Bohrloch strömte, ließ die Ingenieure jubeln. „Es war die bisher erfolgreichste Schiefergasbohrung in Polen“, sagt Joel Price, Technikchef von San Leon, „vielleicht sogar in ganz Europa.“ Noch in diesem Sommer wollen seine Experten in 3500 Meter Tiefe eine knapp zwei Kilometer lange, waagerechte Bohrung in das meist als Schiefergestein bezeichnete Sediment treiben.

Vorbild sind die USA, wo das Fracking einen Rohstoffboom historischen Ausmaßes ermöglicht hat. Neben San Leon haben im Baltischen Becken die US-Konzerne BNK Petroleum und ConocoPhillips gerade Bohrungen beendet. Sie werten nun die Ergebnisse aus. Läuft alles nach Plan, könnten sie ab 2015 kommerziell Schiefergas fördern.

Für die europäische Energieversorgung wäre das eine Zäsur, denn es könnte einen Run auch auf andere Schiefergasfelder des Kontinents auslösen: Nicht nur in Polen, auch in der Ukraine, in England, Spanien und Rumänien gibt es Pläne, diese unkonventionellen Erdgasvorkommen zu erschließen. Geologen schätzen die Schiefergasressourcen zwischen Kiew und Madrid auf 15 Billionen Kubikmeter – genug, um den Gasbedarf des Kontinents für 30 Jahre komplett zu decken.

In Deutschland und den Niederlanden ringen die Gesetzgeber noch darum, ob sie die Förderung erlauben sollen. Ein Erfolg in Polen könnte die Befürworter des Verfahrens stärken.

Umso mehr, als die Debatte um Fracking in Europa eine besondere Brisanz durch die Ukraine-Krise bekommt, die seit Monaten schwelt. Denn rund ein Drittel seines Erdgases bezieht Europa aus Russland – und schon länger fürchten Politiker in Brüssel und dem Rest der Europäischen Union, Präsident Wladimir Putin könnte als Reaktion auf Wirtschaftssanktionen Europas den Gashahn zudrehen. Die Versorgung wäre auch dann gefährdet, wenn Extremisten im Zuge des Konfliktes Pipelines durch die Ukraine angriffen und den Transport russischen Gases Richtung Westen blockierten.

Unternehmen suchen nach sauberem Fracking

Erschlösse aber Europa seine Schiefergasreserven, wäre die EU in den Machtspielen um den wertvollen Energieträger nicht mehr erpressbar – frack you, Putin! Und es wäre auch weniger auf Flüssiggas angewiesen, das per Tanker aus Nordafrika oder dem Nahen und Mittleren Osten kommt. Auch alles andere als politisch stabile Regionen.

Zudem könnte das europäische Schiefergaspotenzial nicht nur russische Importe rund 100 Jahre lang ersetzen. In den USA hat der Schiefergasboom zudem durch niedrige Energiepreise Hunderttausende neuer Jobs geschaffen. Zusätzlich verdrängt das Erdgas dort die schmutzigere Kohle aus den Kraftwerken. Auch Europa könnte seine Klimabilanz mit dem vergleichsweise umweltfreundlichen Energieträger aufpolieren.

Versorgungssicherheit, Klimaschutz, Wirtschaftswachstum – die europäischen Schiefergasvorkommen stellen ein gewaltiges Versprechen dar.

Flüssiggas: Fakten über die Fracking-Alternative

Ob es sich einlösen lässt, ist noch nicht sicher. „Wie viel des Gases sich an die Oberfläche holen lässt, weiß derzeit niemand genau“, sagt Alexandra Vetter, Schiefergasexpertin am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Dafür habe es zu wenige Probebohrungen gegeben. Die Explorationsmaulwürfe in Nordpolen machen gerade erst den Anfang.

Aber nicht nur die geologischen Bedingungen bieten Anlass für reichlich Fragen. Auch die möglichen Folgen des Frackings für die Umwelt sind noch nicht absehbar.

Das Verfahren verbraucht nicht nur immense Mengen Wasser. Mit ihm pumpen die Rohstoffjäger auch Chemikalien in den Boden – und mit dem Gas kommen Giftstoffe aus dem Erdreich an die Oberfläche.

Immerhin versuchen die Unternehmen, die Risiken für die Natur zu reduzieren. In Deutschland ist das allen voran der Ableger des US-Ölriesen ExxonMobil. Dessen Vertreter verweisen darauf, dass schon seit 1961 in deutschem Sandstein gefrackt werde, rund 320 Mal bisher. Allerdings: Um das extrem dichte Schiefergestein aufzusprengen, ist sechs Mal mehr Wasser nötig als in den Tight-Gas-Lagerstätten aus porösem Sandstein. Entsprechend mehr Lkws müssen Wasser heranschaffen und abtransportieren, wenn es zurück an die Oberfläche kommt.

Weltweit lagern riesige Mengen Erdgas in schwierig zu erreichenden Gesteinsschichten. Neue Fördertechniken ermöglichen es jetzt, sie wirtschaftlich zu erschließen.

Um die Fördermethode umweltverträglicher zu machen, haben Chemiker im Auftrag von ExxonMobil in den vergangenen Monaten versucht, die giftigen Substanzen im Fracking-Gemisch zu ersetzen. Bisher sorgten rund 25 mögliche chemische Zusätze unter anderem dafür, die Flüssigkeit anzudicken, damit sie sich leichter ins Bohrloch bringen lässt. Mit ihrer Hilfe flutschen zudem Sand oder Keramikkügelchen besser in die Risse im Schiefer und halten diese so offen. Andere Zusätze lösen dieses Gel später wieder auf.

Im Labor entwickelten die Chemiker eine Mixtur, die viele Zusätze überflüssig machen soll. Nur noch zwei Additive will ExxonMobil künftig für Schiefergasprojekte in Deutschland einsetzen. Und die beiden sind laut EU-Klassifizierung weder giftig noch gesundheitsgefährdend. Damit wäre die Grundwassergefahr gebannt – und das Fracking im Sandstein schmutziger als sein Pendant im Schiefergestein.

Umdenken der Skeptiker

Laut ExxonMobil besteht der in Labortests untersuchte Frackcocktail zum einen aus Cholinchlorid, das Hühnerzüchter auch als Masthilfe einsetzen. Der zweite Zusatz mit dem komplizierten Namen Butyldiglycol kommt in Lacken und Haushaltsreinigern vor und kann die Augen reizen. Ob das Spargemisch im Schiefer funktioniert, könnten aber nur Pilotprojekte zeigen, heißt es bei ExxonMobil.

Experten wie Hans-Joachim Kümpel, Leiter der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover, sprechen sich schon länger für wissenschaftlich begleitete Pilotbohrungen in Deutschland aus. Nun kommt sogar Unterstützung von bisherigen Kritikern des Verfahrens: Aus dem Umweltbundesamt (UBA) ist zu hören, die Behörde halte ein generelles Verbot von Schiefergasfracking mit der neuen ExxonMobil-Mixtur nicht mehr für nötig. Das Unternehmen müsse aber auch die Rückläufe aus dem Boden aufbereiten, eine salzige Brühe, die neben Frackmitteln krebserregende Benzole, Schwermetalle und radioaktive Substanzen enthalten kann. Die wäre nach Ansicht von Experten, die das UBA beauftragt hat, machbar.

von Sebastian Matthes, Dieter Dürand

Freilich, das neue Verfahren überzeugt nicht alle. Greenpeace kritisiert: Selbst wenn das Frackgemisch ungefährlich wäre, seien die rücklaufenden Flüssigkeiten zu umwelt- und gesundheitsschädlich. Sie könnten bei Unfällen austreten. Bedenklich bleibe der hohe Wasserverbrauch.

Aber auch für dieses Problem gibt es mittlerweile eine Lösung. So hat das Chemie-Start-up TouGas aus Frankfurt am Main ein Gel entwickelt, um statt mit Trinkwasser – nur darin lösten sich bisher die Chemikalien optimal – mit Salzwasser zu fracken. Damit lässt sich das Wasser immer wieder im Kreislauf in die Schiefergasfelder pressen. Ob die Europäer das Produkt jemals im großen Stil einsetzen, wagt TouGas-Chef Tore Land nicht vorauszusagen. Derzeit kommen seine Kunden vor allem aus Kanada und den USA, aber zunehmend auch aus China und der Golfregion. „Dort hat der nächste Schiefergasboom schon begonnen“, so Land.

Technisch förderbare Schiefergasvorkommen europäischer Staaten und Stand der Förderung Quelle: EIA, BGS, PGI, BGR, USGS

In Europa werde das noch länger dauern, warnen einige Experten. Für eine nennenswerte Schiefergasproduktion fehle es an Bohrausrüstung und Daten, wo eine Erkundung lohne, sagt Alexander Weiss, Senior-Partner und Energiespezialist bei McKinsey Deutschland. Zudem hätten Landbesitzer kaum Interesse an Bohrungen unter ihren Grundstücken, weil sie nicht die Rechte an den Rohstoffen besäßen. „Damit verdienen sie auch nicht an der Förderung“, erklärt Weiss.

All das wird zumindest anfangs die Preise nach oben treiben. Bis zu 15 Millionen Euro könnte eine Schiefergasbohrung in Europa kosten, schätzt Quentin Philippe, Energieexperte bei der Boston Consulting Group in London – mehr als doppelt so viel wie in den USA. Aber selbst dann könnte Schiefergas mit einem Preis von rund 28 Cent pro Kubikmeter mit Erdgas aus Russland konkurrieren, glaubt Alexander Gusev, der am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam zu Schiefergas forscht. Gäbe es erst einmal genug Bohrfirmen, würden die Preise sinken.

Allerdings, bisher ist all das nur Theorie. Erst die Praxis kann beweisen, wie hoch der Ertrag europäischer Schiefergasfelder tatsächlich ist – und das bestimmt am Ende auch den Preis. Damit entwickelt sich Polen aktuell zu einer Art Testlabor. Hier wird sich zeigen, ob sich Gas durch Fracking in ausreichender Menge und zu akzeptablen Kosten gewinnen lässt.

Hürden für Energieversorger zu hoch

Nahe Danzig, wo San Leon, BNK und ConocoPhillips bohren, zeigt sich außerdem, wie langwierig es ist, Schiefergasfelder zu erschließen: San Leon erhielt die Erkundungsrechte bei Lewino schon 2009. Nach Untersuchungen der Erdschichten mit winzigen künstlichen Erdstößen erfolgten erste Fracks erst im Sommer 2013.

Und dann mussten die Techniker und Chemiker erst drei Chemiecocktails ausprobieren, bis sie im November Erfolg hatten. Denn die Fracking-Risse verklebten im Tongestein nach kurzer Zeit wieder. Das Gas floss nur kurz. Mit einer höheren Konzentration an Keramikkugeln klappte es schließlich, die Risse offen zu halten. „Den Code eines Feldes knacken“, nennen Experten das Verfahren aus Versuch und Irrtum. Für die von San Leon geplanten horizontalen Bohrungen werden daher ebenfalls mehrere Dutzend Anläufe nötig sein.

Manchen sind diese Hürden zu groß. Branchenriesen wie ExxonMobil, Total und Eni haben ihre Bohrtürme in Polen wieder abgebaut. Sie hatten sie auf den teils 1000 Quadratkilometer großen Pachtflächen an die falschen Stellen gesetzt. Die Ergebnisse waren enttäuschend.

Aber auch San Leon hat noch nicht alle Rätsel des Baltischen Beckens gelöst: Zwischen die Schiefergas führenden Schichten, auf die es das Unternehmen abgesehen hat, zwängt sich eine acht Meter dicke Tonschicht. Soll die Förderung wirtschaftlich sein, muss das Unternehmen auch diese Barriere dauerhaft durchbrechen, sodass Gas aus beiden Reservoirs zusammen an die Erdoberfläche strömen kann.

„Solche Herausforderungen hält jedes Schiefergasfeld bereit, und alle sind anders“, sagt der Geologe Pawel Poprawa von der Technischen Universität Krakau. Um gesicherte Ergebnisse zur möglichen Fördermenge in Polen zu erhalten, sind Hunderte weitere Testbohrungen nötig, glaubt er. Bis heute sind nur rund 60 erfolgt.

Neben dem wehrhaften Tongestein warteten noch weitere Probleme auf die Unternehmen, erklärt Poprawa. So sei der Gasgehalt im polnischen Schiefergestein niedriger als in den besten US-Feldern. Die Schichten seien insgesamt dünner und enthielten deshalb weniger des fossilen Rohstoffs. Darüber hinaus lägen sie teils 1000 Meter tiefer, was die Bohrungen teurer mache. Für den Geologen bedeutet all das trotzdem nicht, dass die Förderung in Polen unmöglich sei. „Sie ist nur aufwendiger als in den USA.“

Und so wollen zahlreiche Unternehmen in den kommenden Monaten weitere europäische Schiefergaslager erschließen. In der Ukraine etwa möchte die staatliche Mineralienbehörde in Kürze 18 neue Explorationslizenzen vergeben.

Kein Wunder, denn die Regierung in Kiew würde lieber heute als morgen auf russisches Gas verzichten. Dauert die Krise in dem Land weiter an, könnten bald auch Politiker in anderen europäischen Hauptstädten so denken. Eine Alternative zu Russland gibt es schließlich – sie liegt direkt unter ihren Füßen.

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