Für deutsches Ingenieurdenken ist allein der Gedanke pure Provokation: Statt Produkte mit immer neuen Funktionen und technischen Finessen hochzurüsten – und dabei zugleich die Entwicklungs- und Fertigungskosten in die Höhe zu treiben –, muss Innovation künftig als „Mehr aus Weniger“ definiert sein.
Mit dieser These befeuert der renommierte US-Innovationsforscher Navi Radjou aktuell die Diskussionen in den Vorstandsetagen der High-Tech-Welt. Mit seinen Kollegen Jaideep Prabhu und Simone Ahuja hat er das Buch „Jugaad Innovation“ verfasst. Der Begriff Jugaad steht in der nordindischen Sprache Hindi für Einfallsreichtum und umschreibt die Kunst erfolgreicher Unternehmer in Schwellenländern, den Mangel an Ressourcen und Kapital nicht als Wachstumshemmnis, sondern als Innovationstreiber wirken zu lassen.
Frugale Innovationen
Das Prinzip, so glauben die Autoren, werde im globalen Innovationswettlauf für neue Regeln sorgen: Auf Dauer können westliche Konzerne in den dynamischen Märkten der Schwellenländer nur erfolgreich sein, wenn sie das Konzept der sogenannten frugalen Innovationen übernehmen. Forscher verstehen darunter neue Produkte, die mit minimiertem Ressourcen- und Geldeinsatz entwickelt werden. Sie sind einfach zu bedienen, technisch simpel, billig herzustellen und robust.
Das dabei gewonnene Know-how nützt den Konzernen nicht nur in Entwicklungsländern. Es ist zugleich ein Wettbewerbsvorteil in etablierten Märkten. Auch dort müssen Regierungen sparen und aufgrund steigender Rohstoffpreise Ressourcen aller Art effizienter einsetzen.
Beim Technologiekonzern Siemens ist die Botschaft angekommen: Konzernchef Peter Löscher hat den Gedanken zur Chefsache gemacht. Ihm geht es dabei nicht nur darum, von High-Tech-Produkten Billigversionen für Märkte zu entwickeln, die sich die teuren Originale nicht leisten können. „Die Produkte müssen neu entwickelt werden“, sagt Löscher. Beispiel dafür ist ein neuer Herzschlag-Monitor für Babys. Die zigarettenschachtelgroße Box ermöglicht es mit einfachsten Mitteln, den Puls von Ungeborenen zu analysieren. Bislang war dafür ein Ultraschallgerät nötig, das 4.000 bis 6.000 Dollar kostet. Das neue Siemens-Gerät nutzt kein Ultraschall, sondern feine Mikrofontechnik und ist daher für einen Bruchteil des Geldes zu haben.
Mit Weniger Mehr erreichen
WirtschaftsWoche: Herr Radjou, was können wir von Unternehmern in Schwellenländern lernen?
Navi Radjou: Wie man unter widrigen Bedingungen mit weniger mehr erreicht. Wir nennen das frugale Innovation. Die dortigen Unternehmer sind täglich mit Mangel konfrontiert, sei es finanzieller Art oder durch fehlende oder anfällige Infrastruktur. Dadurch sind sie sehr erfinderisch, müssen mit winzigen Budgets Produkte ersinnen und oft auch noch gleichzeitig innovative Geschäftsmodelle dafür erfinden.
Zum Beispiel?
Wie der indische Chirurg Devi Shetty, der die Kosten für Herzoperationen mittels günstiger Technologie und Standardisierung bei gleichzeitig hohem Niveau gesenkt hat. Oder der Energieunternehmer Harish Hande, der Solarmodule an Ladenbesitzer in indischen Dörfern verleast, die den erzeugten Strom über Akkus an ihre Kunden verkaufen können.
Not macht erfinderisch.
Genau. Shetty wollte sich nicht damit zufriedengeben, dass sich viele Inder keine Herzoperation leisten konnten. Hande wollte nicht akzeptieren, dass Solarenergie für die Landbevölkerung unerschwinglich sein soll. Diese Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, bis an die Grenzen auf der Suche nach Lösungen zu gehen, fehlen westlichen Firmen oft, oder es gibt Widerstände gegen sie. Vor allem haben die Unternehmer in Entwicklungsländern eine Gabe, die im Westen mehr und mehr verloren geht.
Und zwar?
Sie können Produkte und Dienstleistungen schaffen, die tatsächliche Probleme lösen.
Das würde jeder westliche Unternehmer auch von sich behaupten.
Kann sein. Aber in der westlichen Welt – besonders hier im Silicon Valley – laufen wir Gefahr, das zu verlernen. Oft wird ein Produkt ersonnen und danach ein Markt dafür gesucht, wofür oft Unsummen von Geldern ausgegeben werden. Diesen Luxus kann sich ein Unternehmer in Indien oder Brasilien nicht erlauben.
Aber inwieweit berührt uns das?
Stärker, als wir es wahrnehmen. Denn wir stehen auch im Westen wegen der hohen Schulden vor einer neuen Ära. Rohstoffe und Energie werden teurer, und Regierungen wie Verbraucher müssen sparen. Das verstärkt den Druck auf Unternehmen, ebenfalls Kosten zu senken und schonender mit Ressourcen umzugehen.
Wo sehen Sie das?
Ganz stark im Gesundheitssektor, beispielsweise in den USA. Versicherungen und Krankenhäuser suchen hier nach neuen Heilmethoden, die zwar ebenso erfolgreich sind wie alles Bisherige, die aber weniger kosten. Es geht bei alledem aber nicht nur um Produkte und Geschäftsmodelle, sondern auch um den Einfluss von Ideen. In einer globalisierten Welt können wir uns nicht mehr abschotten.
Ein Auto für Alle
Was meinen Sie damit konkret?
Ein gutes Beispiel ist der indische Geschäftsmann Ratan Tata mit seiner Idee, mit dem Tata Nano das günstigste Automobil der Welt zu konstruieren. Automanagern im Westen war schnell bewusst, dass diese Idee auch Auswirkungen auf ihr Geschäft haben wird. Carlos Goshn, der Chef von Renault-Nissan, hat deshalb die Pläne mit seinem Logan, einem Auto im 10.000-Dollar-Preissegment, vorangetrieben. Goshn war klar, dass er nicht so radikal wie Tata sein kann. Aber er hat mit diesem Beispiel seine Ingenieure herausgefordert und angespornt. Die hätten sonst zu schnell aufgegeben. Tata zeigte, dass es machbar ist.
Nun gilt der Tata Nano nach dem ersten Hype nicht gerade als Erfolgsmodell.
Aber die Idee von seinem supergünstigen Auto ist geblieben. Tata hat mit dem Nano die Automobilbranche verändert. Das Problem war, dass der Nano quasi als das Auto für Arme vermarktet wurde anstatt als smarte Wahl für preisbewusste Käufer. Kaum jemand wollte sich die Blöße geben, dass er sich nur ein Auto für Arme leisten kann.
Einfach nur eine Billigversion von einem westlichen Produkt auf den Markt zu bringen funktioniert also nicht?
Das geht schon deshalb nicht mehr, weil es selbst in Indien in jedem Dorf Fernseher gibt. Die Menschen kennen die Produkte und wollen sich nicht mit billigen Kopien abspeisen lassen. Sie sind sogar sehr markenbewusst. Die Herausforderung ist es, mithilfe der Kreativität von einheimischen Ingenieuren zu vertretbaren Kosten wettbewerbsfähige Produkte zu entwickeln.
Welche Unternehmen sind vorbildlich?
Es gibt erst wenig erfolgreiche Beispiele. Aber ihre Zahl wächst: Renault, Danone, PepsiCo, Procter & Gamble – aber auch SAP und Siemens gehören dazu.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass unter dem Denkmantel der frugalen Innovation die Entwicklungsbudgets gedrückt werden, was zu minderwertigen Produkten führen kann?
Damit würden Unternehmen scheitern. Gerade heutzutage, wo Kunden im Internet ihrem Ärger Luft machen können, würde sich rasch herumsprechen, wenn die Qualität leidet. Unternehmen müssen allerdings schon unterscheiden, was sie unter Qualität verstehen: Ist ein mit Funktionen vollgestopftes Produkt wirklich besser als eins, dessen Funktionen auf das wirklich Wesentliche reduziert worden sind? Manchmal ist gut eben gut genug. Auch das kann man von den Schwellenländern lernen, nämlich wie man ein Produkt von Komplexität befreit. Der Herzmonitor von Siemens ist nicht nur portabel, sondern auch so automatisiert, dass er sich ohne große Schulung einsetzen lässt.
Sie nennen in Ihrem Buch Steve Jobs als einen Unternehmer, der die frugale Innovation verstanden hat. Der hätte Sie aber auf der Stelle gefeuert, wenn Sie ihm mit „Gut ist gut genug“ gekommen wären.
Jobs ist als Perfektionist bekannt. Aber er ist auch für seine Kunst des Weglassens berühmt, wenn dies Produkte vereinfacht hat. Nicht zuletzt hat Jobs mit seiner Idee, Musik für 99 Cent zu verkaufen, den Handel mit Online-Musik etabliert und für viele erschwinglich gemacht. So wie Konsumgüter-Riesen wie Procter & Gamble sich von indischen Geschäftsleuten abgeschaut haben, dass man Shampoo auch in kleineren Portionen verkaufen kann, damit sich die Kunden das leisten können.