Der Chemiker und Umweltforscher Friedrich Schmidt-Bleek ist ein friedlicher älterer Herr mit weißem Haupthaar. Doch wenn die Diskussion auf das Thema Nachhaltigkeit kommt, gerät sein Temperament in Wallung: Es wird ihm dort schlicht zu viel Unsinn erzählt.
Zum Beispiel über die vermeintlichen ökologischen Vorzüge von Autos, die gleich zwei Antriebe unter ihrer Haube haben: Einen Elektromotor für das Fahren in der Stadt und einen Verbrennungsmotor für weite Strecken. Solche Hybrid-Pkw würden als wichtiger Beitrag zur grünen Mobilität angepriesen. Doch das sei falsch, wettert Schmidt-Bleek. Zwar bliesen die Hybrid-Fahrzeuge tatsächlich weniger CO2 in die Luft als reine Benziner und Diesel. Doch das sei nur die halbe Wahrheit. Denn wegen des Einbaus zweier Antriebe steige der Materialeinsatz je Kilometerleistung absolut enorm – und damit der Naturverbrauch. Seine Schlussfolgerung: „Der CO2-Fußabdruck ist kein verlässliches Maß für eine ehrliche grüne Verbesserung der Wirtschaft.“
Nicht nur beim Hybrid entpuppt sich so manche als ökologischer Fortschritt verkaufte Heilsvorstellung als Illusionstheater. Nicht alle gehen in ihrer Kritik so weit wie Wolfgang Haber. Der Biologe hat in Deutschland die Grundlagen der Ökologie mitentwickelt und beriet in den Achtziger- und Neunzigerjahren verschiedene Bundesregierungen in Umweltfragen. Heute sagt er: „Humanitäre und ökologische Ziele nachhaltiger Entwicklung lassen sich nicht miteinander versöhnen.“ Doch einig sind sich die Kritiker in der Forderung, endlich verlässliche Maßstäbe für die Messung von Nachhaltigkeit zu entwickeln. Schon allein um die Zahl der grünen Irrtümer und der falschen politischen Schlussfolgerungen daraus einzudämmen.
Denn vieles was gut gemeint ist, schadet unserem Planeten eher, als ihm zu nützen. Die Liste der Irrtümer ist lang.
Mythos vom grünen Landleben
Dazu gehört der Mythos vom grünen Landleben. Laut Umfragen will jeder fünfte deutsche Großstadtbewohner in kleinere Städte oder gleich ins Dorf ziehen. Vor allem die begüterten Umweltbewegten unter ihnen hoffen, mit dem Umzug einen Beitrag zu Rettung der Natur leisten zu können.
Doch es ist viel einfacher, in den Metropolen ein ökologisch korrektes Leben zu führen. Das hat eine groß angelegte Studie der US-Wissenschaftler Luís Bettencourt und Geoffrey West ergeben. Danach benötigt eine Metropole mit acht Millionen Einwohnern 15 Prozent weniger Straßen, Rohre, Kabel und sonstige Infrastruktur als zwei Großstädte mit je vier Millionen Einwohnern. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die London School of Economics. Nach ihren Berechnungen belastet jeder New Yorker das Klima jährlich mit zehn Tonnen CO2 – ein Durchschnittsamerikaner dagegen mit 25 Tonnen.
Viel Irrglaube
So entpuppt sich vieles als Irrglauben, was zunächst nach einer simplen Gleichung klingt: Wer auf einem Biohof einkauft, handelt verantwortungsvoll, unterstützt die Wirtschaft der Region, kauft unbehandeltes Gemüse und schützt irgendwie auch das Klima, heißt es. Doch die Realität ist komplizierter: Wer den weit entfernten Hofladen mit dem Auto ansteuert, schadet dem Klima mehr als derjenige, der zum Supermarkt um die Ecke läuft. Der Apfel aus der Region wiederum hat nur dann eine bessere Energiebilanz als das Pendant aus Neuseeland, wenn er nicht wochenlang im Strom fressenden Kühlhaus gelagert wurde.
Ohnehin belastet der Einkauf per Auto die Umwelt viel stärker als bisher vermutet, fanden jüngst Wissenschaftler der Universität Gießen heraus. 280 Gramm CO2 werden dabei pro Kilogramm gekaufter Ware frei – bisherige Berechnungen gingen von 107 Gramm aus. Städte schneiden auch hier besser ab, weil dort viel mehr Menschen ihre Einkäufe zu Fuß oder per Fahrrad erledigen. Und wer dabei zu Tiefkühlprodukten statt zu frischem Gemüse greift, braucht sich laut Freiburger Öko-Institut nicht zu schämen: Viel entscheidender als Transport und Lagerung ist die Art der Zubereitung für die Ökobilanz: Lässt der Käufer die frischen Bohnen lange vor sich hin garen, verbraucht das mehr Strom als das Aufwärmen der tiefgekühlten Bohnen.
Nachhaltigkeit bleibt oft Spekulation
Vor ähnlich komplexen und verwirrenden Zusammenhängen stehen die Unternehmen. Schlimmer noch: Ob eine angeblich nachhaltige Strategie tatsächlich ökologisch ist, bleibt mangels Datenbasis und Überprüfbarkeit oft Spekulation. Das findet jedenfalls Dirk Vallbracht, Nachhaltigkeitsexperte der DNV Zertifizierungs- und Umweltgutachten GmbH in Essen. „Die Entwicklung aussagekräftiger Indikatoren und Messgrößen steht erst am Anfang“, sagt er.
Doch ohne verbindliche, für alle gültigen Regeln sind Umweltbilanzen kaum vergleichbar. Ein Unternehmen, das bei der Berechnungen seiner CO2-Emissionen auch die Nutzung seines Produkts berücksichtigt, steht schlechter da als der Konkurrent, der nur die Herstellung erfasst.
Einbeziehung aller Faktoren
Wie sehr die vollständige Einbeziehung aller Faktoren über den Lebenszyklus eines Produkts das Bild verändert, zeigt eine aktuelle Studie der Technischen Universität Dresden über die Folgekosten des Autoverkehrs in allen 27 EU-Ländern. Würden auch die Schäden eingerechnet, die Unfälle, Luftverschmutzung und Lärm verursachen, müsste jedes Auto 20.000 Euro mehr kosten, um die Schäden abzudecken. Wen wundert es, dass die Autoindustrie die Schätzung als unrealistisch abtut.
Die Sache ist also verzwickt. Doch gerade beim Bestreben, die Welt zu retten, gilt das ökonomische Grundgesetz: Setze die verfügbaren Mittel so ein, dass sie den größten Nutzen stiften. Soll heißen: Verschwende das Geld nicht mit sinnlosen Aktionen.
Hunger bekämpfen
Der dänische Wissenschaftler Björn Lomborg leitet daraus eine These ab, die so manchen Zeitgenossen provoziert. Er hält es für wirkungsvoller, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen statt des Klimawandels. Jeder dort investierte Euro, rechnet er vor, verhindert 20 Cent an Schaden. Würde der gleiche Euro ausgegeben, um unterernährte Menschen mit Zink, Vitaminen und Eisen zu versorgen, entstünde ein Nutzen von 22 Euro: Er würden Leben gerettet und Gesundheitsausgaben eingespart.
Ähnlich groß ist die Diskrepanz in der Frage, welche grüne Energiequelle den CO2-Ausstoß am effizientesten bremst. Die Münchner Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) kommt zu einem klaren Resultat: Bei der Fotovoltaik fallen durchschnittliche Vermeidungskosten von 846 Euro je Tonne Kohlendioxid an; bei Windkraft-Anlagen sind es lediglich 124 Euro.
Es ist nicht alles grün, was sich als ökologisch ausgibt
Wohin die Forscher auch schauen, entpuppen sich vermeintliche Gewissheiten als Mythen: Biorinder, die auf gerodeten Urwaldflächen in Brasilien grasen, schaden der Umwelt weit mehr als Tiere, die im deutschen Stall gemästet werden. Der Grund: Der Regenwald ist ein wichtiger CO2-Speicher. Strom und Sprit aus Biomasse führen unter Umständen zu noch mehr Raubbau an der Natur als die Ausbeutung des Erdöls. Für die jährlich mehr als 550.000 Tonnen Palmöl, die Deutschland für Biosprit-Projekte einkauft, roden Subunternehmen in Ländern wie Indonesien riesige Flächen Regenwald. Die meterdicken Bäume müssen schnell wachsenden Palmölplantagen weichen.
Es ist eben längst nicht alles grün, was sich als ökologisch ausgibt.
Wie aber kommen wir zu einem verlässlichen und transparenten Maßstab für die Umweltnutzung? Die bisherigen Konzepte, beklagt Umweltforscher Schmidt-Bleek, führten allesamt in die Irre. Schlimmer noch: Die Begriffe „grün“ und „nachhaltig“ verkämen zusehends zu werbungsdienenden Schlagworten“, kritisiert der Wissenschaftler. „In Wirklichkeit entfernt sich die Welt von der Zukunftsfähigkeit“. Sein Vorschlag: Er will die Menge an natürlichen Ressourcen, die für die Herstellung und den Gebrauch eines Produkts eingesetzt werden, als „richtungssicheres ökologisches Maß“ einführen – kurz: den Materialfußabdruck berechnen. Nur wenn Ressourcenverbrauch und die Regenerationsfähigkeit der Erde im Gleichgewicht sind, nimmt die Ökosphäre keinen dauerhaften Schaden, so seine These.
Ressourcenintensität und Ressourcenproduktivität
Ressourcenintensität und Ressourcenproduktivität, schreibt er in der aktuellen Ausgabe der WirtschaftsWoche Green Economy (Hier geht´s zum kostenpflichtigen Download), sind Schlüsselkomponenten für Nachhaltigkeitsmessungen, weil sie die Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung beschreiben. Ihre Stärke sei, dass sie als Maß für wirtschaftliche als auch Umweltkosten dienen. “Das wirklich grüne Ziel unseres Wirtschaftssystems muss es werden“, fordert Schmidt-Bleek, den absoluten Verbrauch an Material pro erzeugtem Nutzen zu senken, dafür aber aus dem eingesetzten Material einen zumindest zehnfach größeren Nutzen zu erzeugen.“
Vordenker Haber bleibt skeptisch, ob solche Ansätze wirklich den Weg in eine grüne Wohlfühl-Ökonomie ebnen . In seinem Buch „Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie“ zweifelt er an, ob sich humanitäre und ökologische Ziele nachhaltiger Entwicklung miteinander versöhnen lassen. Sein Fazit: „Wir werden der Tatsache ins Auge blicken müssen, das der Mensch niemals im paradiesischen Einklang mit der Natur leben wird. Es geht nur um bessere und schlechtere Kompromisse.“
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