Streitgespräch Ist Wachstum zerstörerisch?

Der Ökonom Karl-Heinz Paqué und der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel streiten über ein tragfähiges Wohlstandsmodell.

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Der Ökonom Karl-Heinz Paqué (links) und der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel im Streitgespräch. Quelle: Christoph Busse für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Miegel, die Zahl der Erdenbewohner steigt, eine Milliarde Menschen hungern. Sind wir zum Wachstum verdammt?

Miegel: Zweifellos brauchen viele Hundert Millionen Menschen Nahrungsmittel, Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser. Sie sind auf Wachstum existenziell angewiesen. Das gilt aber längst nicht mehr für alle. Wir Deutschen beispielsweise benötigen nicht länger von allem mehr.

Sagen Sie das mal einem Niedriglohnbezieher.

Miegel: Auch er gehört heute zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit. Seine Kaufkraft ist so hoch wie die eines durchschnittlichen Einkommenbeziehers in den 1960er Jahren. Schlimm für ihn ist, dass er nicht mit den vielen Wohlhabenden mithalten kann.

Stillstand und Schrumpfung bedeuten Verlust an Lebensstandard. Warum sollten wir den freiwillig in Kauf nehmen?

Miegel: Was heißt freiwillig? Niemand wird uns fragen. Vielmehr werden wir von Jahr zu Jahr deutlicher feststellen, dass unser spektakulär hohes Wohlstandsniveau – es ist zehn Mal so hoch wie vor 100 Jahren – nicht zu halten ist. Denn das Wachstum, das uns diesen Wohlstand beschert hat, zerstört die Grundlagen seines eigenen Erfolgs. Für die heute wohlhabenden Völker kann deshalb die Zukunftsformel nur lauten: So viel Wachstum wie unbedingt nötig – und so wenig wie möglich.

Wachstum der Mega-Metropolen
Platz 10: N.Y.-Newark (USA)Bereits 1960 lebten rund 14 Millionen Menschen im Großram New York- Newark. Laut Prognosen sollen es 2020 über 20 Millionen sein. Das würde einem Wachstum von 44 Prozent entsprechen. (Quelle: UN) Quelle: dapd
Platz 9: Tokio (Japan)Um 122 Prozent soll Japans Hauptstadt zwischen den Jahren 1960 und 2020 wachsen. Schon 1960 lebten in Tokio 16,5 Millionen Menschen - 2020 sollen es aber fast 38 Millionen sein. Zwar reicht es mit dieser Wachstumsprognose nur für einen der hinteren Plätze - allerdings wäre Tokio mit dieser Bevölkerungszahl 2020 die weltweit größte Stadt! Quelle: Reuters
Platz 8: Shanghai (China)Fast 20 Millionen Menschen sollen im Jahr 2020 in Shanghai leben - 1960 belief sich die Zahl der Einwohner noch auf 6 Millionen. Dieser Anstieg würde einem Wachstum von 180 Prozent entsprechen. Quelle: Reuters
Platz 7: Kalkutta (Indien)Knapp 6 Millionen Menschen lebten im Jahre 1960 in Kalkutta. Die Zahl der Einwohner soll bis 2020 um 227 Prozent steigen - dann soll die Stadt laut Prognosen Platz für über 18 Millionen Menschen bieten. Quelle: Reuters
Platz 6: Mexiko-Stadt (Mexiko)Ein Wachstum von 309 Prozent hat Mexiko-Stadt zu erwarten. 4,5 Millionen Menschen lebten hier 1960 - im Jahr 2020 sollen es bereits über 20 Millionen sein. Quelle: dapd
Platz 5: São Paulo (Brasilien)Noch stärker fällt der Wachstum mit 445 Prozent in Brasiliens größter Stadt aus. 2020 sollen in São Paulo fast 22 Millionen Menschen Platz finden - 1960 belief sich die Zahl der Einwohner auf "nur" 4 Millionen. Quelle: Reuters
Platz 4: Mumbai (Indien)Mit stolzen 484 Prozent Wachstum muss eine der wichtigsten Hafenstädte Indiens rechnen. Auch Mumbai fasste im Jahr 1960 nur knapp 4 Millionen Einwohner. Allerdings soll die Stadt 2020 fast 24 Millionen Menschen Platz zum Leben bieten. Quelle: dapd

Herr Paqué, brauchen wir zwei Wachstumsmodelle? Ein Modell für Entwicklungs- und Schwellenländer – und ein Modell für Industrienationen?

Paqué: Ich bin zunächst einmal froh, dass Herr Miegel dem ärmeren Teil der Welt – und damit 80 Prozent der Weltbevölkerung – Wachstum gönnt. Schade nur, dass er es den anderen 20 Prozent vorenthalten will. Warum nur? In den Industrieländern haben wir doch längst qualitatives Wachstum erreicht – ein Wachstum des Wissens, das uns Ressourcen und Umwelt schonende Produktionsverfahren beschert. Da frage ich mich schon, warum

Herr Miegel ausgerechnet bei uns das Wachstum ausbremsen will. Mit den Autos, die vor 30 Jahren über unsere Straßen rollten, werden wir die Erde bestimmt nicht retten.

Miegel: Ich wäre einverstanden, wenn ihre Aussage stimmte, dass Wachstum hierzulande eine bloßes Wachstum des Wissens sei. Zwar gibt es ein solches Wachstum, aber die Masse unseres Wachstums geht nach wie vor einher mit Ressourcenverbrauch und Umweltbeeinträchtigung. Würde die Menschheit so wirtschaften wie wir Deutschen, bräuchte sie 2,6 Erden. Wir sind also wirklich kein Vorbild. Doch weil uns viele nacheifern, verschlechtern sich die Lebensgrundlagen aller dramatisch. Auf diesem Pfad können wir nicht weiter marschieren.

Und auf welchen Pfad müssen wir Ihrer Meinung nach einbiegen?

Miegel: Auf den Pfad zukunftsfähiger Wohlstandsmehrung. Wachstum bedarf einer Art Unbedenklichkeitsbescheinigung. Denn nicht alles, was wächst, ist gut. Vieles ist sogar ausgesprochen schlecht. Die entscheidende

Frage ist daher: Welcher Wohlstand ist möglich, ohne dass Lebensgrundlagen beschädigt oder gar zerstört werden?

Paqué: Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass alles Positive in der Welt durch Wachstum erzielt wird. Und natürlich weiß ich, dass Wachstum die Menschen ab einem bestimmten Niveau nicht unbedingt glücklicher macht. Aber was daraus politisch folgt, ist offen. Die amerikanische Verfassung etwa garantiert den Menschen das „Verfolgen des Glücks“, nicht das Erreichen. In jedem Fall ist unbestreitbar, dass die Produktion in den Industriestaaten heute weniger Ressourcen verschlingt als früher. Auch steht für mich außer Frage, dass künftige Techniken noch schonender mit den vorhandenen Knappheiten umgehen werden. Die einzigen Systeme in der Geschichte, die sich nicht entwickelt haben, sind solche, die Marktsignale ignoriert haben. Der Kommunismus ist dafür das beste Beispiel. Der wollte die Menschen zu ihrem Glück zwingen und hat eine ökologische Katastrophe produziert.

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