Ein Mann will sein Glück erzwingen: Er heißt Willi Balz und ist Gründer, Chef und Alleinaktionär der Windreich AG in Wolfschlugen bei Stuttgart. Dort lebt er zwar weit weg von Deutschlands Küsten. Doch der knorrige, 52-jährige Unternehmer plant, gleich 22 Meereswindparks in der Nordsee zu errichten – mehr als die vier Stromriesen E.On, RWE, EnBW und Vattenfall zusammen. Dafür sucht Balz jede Menge zahlungskräftige Investoren. Immerhin kostet ein Windpark je nach Größe bis zu 1,8 Milliarden Euro. Doch die Geldgeber stellen immer kritischere Fragen: Sind die Ausbaupläne noch realistisch? Haben sich die Akteure nicht übernommen? Ist der Offshore-Traum in Deutschland nicht längst geplatzt?
Selbst Balz kann sich der Realität nicht entziehen. Seit Wochen muss er hilflos mitansehen, dass der pünktliche Anschluss seines dritten Windparks Deutsche Bucht an das Stromnetz immer noch nicht gesichert ist. Dabei hatte der zuständige Stromtransporteur Tennet die Netzanbindung schon im Oktober 2011 zugesagt.
Entwicklung der größten Windkraftanlagenbauer
Die Experten der Beratungsgesellschaft Oliver Wyman haben zusammengetragen, wie hoch die Zahl der neu installierten Leistung der jeweiligen Windkraftanlagenbauer weltweit war und wie das Unternehmen in den Jahren 2008 bis 2011 gewachsen ist. Dazu wurde die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (Compound Annual Growth Rate, abgekürzt CAGR) herangezogen.
Neuinstallation 2011 in Megawatt: 3.042
Wachstum 2008-2011 (CAGR): 173%
Neuinstallation 2011: 1.500
Wachstum 2008-2011: 105%
Neuinstallationen 2011: 3.600 MW
Wachstum 2008-2011: 46%
Neuinstallation 2011: 3.700 MW
Wachstum 2008-2011: 37%
Neuinstallation 2011*: 3.116 MW
Wachstum 2008-2011: 20%
*inklusive REpower Systems
Neuinstallation 2011: 2.591 MW
Wachstum 2008-2011: 11%
Neuinstallation 2011: 1.100 MW
Wachstum 2008-2011: 2%
Neuinstallation 2011: 3.308 Megawatt
Wachstum 2008-2011: 2%
Neuinstallation 2011: 3.203 MW
Wachstum 2008-2011: 0 %
Neuinstallationen 2011: 5.217 MW
Wachstum 2008-2011: - 1%
Neuinstallationen 2011: 970 MW
Wachstum 2008-2011: - 3%
Neuinstallationen 2011: 3.170 MW
Wachstum 2008-2011: -3%
Neuinstallationen 2011: 651 MW
Wachstum 2008-2011: - 20%
Jetzt will Balz Tennet zum Handeln zwingen. Weil das Unternehmen die Steckdose im Meer nicht rechtzeitig ausgeschrieben und bestellt hat, beantragte Balz nun ein Missbrauchsverfahren gegen den Netzbetreiber – ein bisher einmaliger Vorgang. Hat Balz Erfolg, droht Tennet ein saftiges Bußgeld. Seine Investoren wird das vielleicht kurzzeitig beruhigen. Die immer größeren Probleme aber löst es nicht.
Denn die Rückschläge für die Windstromerzeuger häufen sich: Der Ausbau der Meereswindparks auf See kommt nicht voran; die Anlagen sind teurer als gedacht; und die Gefahr einer Stromlücke in der deutschen Energieversorgung wächst.
Die Folgen des Durcheinanders: Geldgeber ziehen sich zurück oder steigen erst gar nicht in die Finanzierung von Meereswindparks ein – wie etwa das Emissionshaus Voigt & Collegen aus Düsseldorf: „Die Risiken sind für Privatanleger unkalkulierbar“, sagt Geschäftsführer Hermann Klughardt, der mehr als 30 Solarkraftwerke in Spanien und Italien im Portfolio hat.
Als Hoffnung bleibt, dass sich die Branche schnell professionalisiert, vor allem aber, dass neue Technologien die Stromerzeugung auf See doch noch wirtschaftlich machen – und den Bau neuer Parks beschleunigen.
Beunruhigender Ausblick
Dabei hatte sich die schwarz-gelbe Koalition in Berlin in ihrem Energiekonzept alles so schön zurechtgelegt: 2020 sollten sich Windräder mit einer Leistung von 10.000 Megawatt (MW) in Nord- und Ostsee drehen – zehn Jahre danach sollten sie eine Leistung bringen wie 25 große Kohlekraftwerke. Offshore-Strom sollte dann eine der wichtigsten Säulen der Energieversorgung werden. Die Pläne sind Makulatur.
Ein Wunder müsste geschehen, um die Ziele noch zu erreichen. Mit den Testfeldern Alpha Ventus in der Nord- und Baltic Sea 1 in der Ostsee sowie den 24 von 80 bereits angeschlossenen Windrotoren des Nordsee-Parks Bard Offshore 1 sind nicht einmal 200 MW am Netz. Und laut einer Prognose des Bremer Beratungsunternehmens wind:research für die WirtschaftsWoche wird sich die Lücke sobald nicht schließen. Wahrscheinlich fehlen 2020 gut 3000 MW Offshore-Leistung. Bis 2030 verdoppelt sich die Lücke sogar auf fast 6000 MW.
Selbst bei den besten der 15 aussichtsreichsten Projekte unter den 29 in Nord- und Ostsee genehmigten Windparks lauern laut wind:research-Geschäftsführer Dirk Briese „nicht zu unterschätzende Restrisiken“.
Stromkunden müssen ran
Es könnte noch schlimmer kommen. Die wind:research-Experten sehen die Gefahr, dass nach 2020 überhaupt keine neuen Windparks mehr ans Netz gehen – wenn die Netzbetreiber vor den Investitionen kapitulieren, die nötig sind, um Meereswindparks ans Festland anzuschließen. Betroffen ist vor allem der niederländische Stromtransporteur Tennet, der fast alle deutschen Nordsee-Windparks verkabeln muss. 5,5 Milliarden Euro hat das Unternehmen für den Ausbau bislang eingeplant. Weitere rund 15 Milliarden braucht Tennet nach eigenen Angaben noch.
Damit jedoch sieht sich das Unternehmen überfordert und ruft nach Hilfe der Bundesregierung. Die zeigt sich offen – schon aus Sorge vor einer Bruchlandung. Und so wird in Berlin über einen Einstieg der staatlichen KfW-Bank ins Netzgeschäft spekuliert. Eine andere Variante wäre, dass der Versicherungskonzern Allianz und der Rückversicherer Munich Re das Tennet-Netz übernehmen.
Auch wenn die Unternehmen zu den Planspielen schweigen: Der Schritt wäre logisch. Immerhin garantiert der Staat den Netzbetreibern für ihre Investitionen eine Rendite von neun Prozent. Kaum eine andere Geldanlage bietet derzeit eine so hohe, zudem garantierte Rendite.
Auch in Haftungsfragen kommt die Regierung den Offshore-Akteuren entgegen – zulasten der Verbraucher: Kommt es zu Problemen beim Anschluss, sollen Stromkunden die Windparkbetreiber über eine sogenannte Haftungsumlage entschädigen, die auf den Strompreis umgelegt wird. So sieht es ein Referentenentwurf des Wirtschafts- und Umweltministeriums vor. Diese Kosten liegen pro Jahr schnell bei 300 Millionen Euro je Windpark, hat der Industrieversicherer Allianz Global Corporate & Speciality (AGCS) ausgerechnet. Das Unternehmen hat weltweit mehr als 30 Offshore-Windprojekte mitversichert.
Kostenfalle Windpark
Kein Wunder, dass Holger Krawinkel, Energieexperte der Verbraucherzentralen, Schlimmes befürchtet: „Nach dem Solarboom droht den Verbrauchern beim Offshore-Wind die nächste Kostenwelle.“
Am Ende wird es vor allem Verlierer geben. Nicht einmal für die Windparkbetreiber selbst dürfte der vermeintliche Boom noch lohnenswert sein. Bard Offshore 1 etwa liegt drei Jahre hinter dem Zeitplan. Die Kosten für das Projekt haben sich von 1,5 auf etwa 3,0 Milliarden Euro verdoppelt. Selbst wenn der Park über eine Laufzeit von 20 Jahren rund 5,4 Milliarden Euro einbringt, bleibt laut wind:research nur ein Minigewinn übrig – wenn überhaupt.
Und überall türmen sich weitere Probleme. Besonders augenfällig wird das in Cuxhaven, wo sich Dutzende der tonnenschweren, über 20 Meter hohen Betonfundamente für Windräder stapeln. Andernorts liegen Türme, an denen später die Rotoren und Gondeln befestigt werden. Massenhaft totes Kapital. Eine ganze Industrie – deren Wertschöpfung in Deutschland wind:research bis 2020 auf 200 Milliarden Euro schätzt – droht auszutrocknen. Viele der Schwierigkeiten haben damit zu tun, dass Deutschland als einziges Land Windparks bis zu 100 Kilometer vor den Küsten baut, dazu noch in Wassertiefen von 50 Metern. So wollte die Politik Bürgerproteste von vornherein vermeiden.
Doch die Vorgabe macht die Anlagen zu den teuersten der Welt: Lange Kabeltrassen und Transportwege treiben die Kosten ebenso wie der aufwendige Bau von Spezialschiffen und für diese Wassertiefen geeigneter Fundamente. Zudem brauchen die Parks eigene Umspannstationen und Serviceplattformen. Reparaturen und Wartungen lassen sich bei diesen Entfernungen nicht von Land aus erledigen.
Deutschland wird als Standort unattraktiv
Bei alledem fehlt es auch an Erfahrung. Das zeigt zum Beispiel Nordsee-Ost, der erste Offshore-Windpark des Essener Energiekonzerns RWE. Der Betriebsbeginn des Meereskraftwerks verschiebt sich um mindestens 15 Monate, weil sich damit sogar Siemens überhoben hat.
Im Glauben, den Bau der mächtigen Stationen zu beherrschen, in denen der Wechselstrom der Windräder für den Transport an Land auf Gleichstrom umgespannt wird, hatten sich die Münchner gleich vier Aufträge gesichert. Doch schnell zeigte sich, dass die Siemens-Ingenieure ihre Erfahrungen und Kapazitäten über- und die Komplexität der Technik unterschätzt hatten. Die Folge: Zwei der Plattformen werden ein Jahr zu spät fertig. Das Desaster bescherte dem Unternehmen im ersten Halbjahr 2012 einen Verlust von fast 500 Millionen Euro.
Viele Technologien müssen für die rauen Bedingungen auf See neu entwickelt werden. Die Versicherer kassieren für so viele Unwägbarkeiten satte Risikoaufschläge: Laut AGCS kann die Police eines 1,7 Milliarden teuren 400-MW-Windparks bis zu 34 Millionen Euro kosten – doppelt so viel wie die eines vergleichbaren Gaskraftwerks.
Möglichkeiten der Kostensenkung
Das hat zur Folge, dass Deutschland für Offshore-Investoren immer unattraktiver wird. Die Bundesregierung hofft nun, den Stillstand mit einem Netzentwicklungsplan beseitigen zu können: Noch 2011 will sie Orte und Größe künftiger Netzanschlüsse der Parks ans Land frühzeitig und verbindlich festlegen. Wind:research-Chef Briese hält das für einen wichtigen Schritt. „Die Sicherheit des pünktlichen Netzanschlusses würde bei den Investoren Vertrauen schaffen.“
Doch das reicht nicht. Ebenso wichtig sei es, sagt Briese, durch bessere Abläufe, eine Industrialisierung der Produktion und technologische Neuerungen die Parks deutlich billiger aufbauen zu können.
Heute kostet die Erzeugung einer Kilowattstunde (kWh) Offshore-Stroms rund zwölf Cent. Windstrom vom Land ist fünf Cent billiger; Kohle- und Gasstrom sind gar schon für fünf bis sieben Cent zu haben. Briese zufolge dürfte der Meeresstrom nicht mehr als zehn Cent kosten, um gegenüber anderen erneuerbaren Energien bestehen zu können. Fraunhofer-Forscher erwarten jedoch, dass diese Schwelle erst 2025 unterschritten wird.
Das größte Kostensenkungspotenzial sehen die wind:research-Experten bei den Anlagen selbst. Sie ließen sich um 40 Prozent billiger produzieren. Wichtigster Hebel: längere Rotorblätter. Denn nach einer Faustformel vervierfacht sich die Leistung eines Windrads mit jeder Verdoppelung der Fläche, die der Rotor durchstreicht.
Gerade bringen Hersteller wie Siemens, Repower oder Areva die ersten Windmühlen der Sechs-MW-Klasse auf den Markt. Dafür fertigt Siemens das mit 75 Metern längste Glasfaser-Rotorblatt der Welt – es wird dank eines neuen Verfahrens erstmals in einem Stück gegossen. Dadurch entfallen Naht- und Klebestellen, die anfällig für Korrosion und Schäden durch aufprallende Regentropfen sind.
Das ist erst der Anfang. Der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik IWES in Bremerhaven, Andreas Reuter, hält in Zukunft 20- MW-Anlagen für realistisch. „Die ersten Räder könnten 2020 stehen.“ Siemens will nach 2015 erste Turbinen mit zehn MW anbieten. Heutige Standardmühlen sind höchstens halb so leistungsstark.
Bei neuen Anlagen gibt es praktisch keine Denkverbote. So entwickelt das britische Unternehmen Wind Power eine Turbine mit revolutionärem Konzept: Die Rotoren des Aerogenerators X streichen parallel zu den Wellen übers Meer. Ihre Spannweite kann bis zu 230 Meter erreichen. Dabei ragen sie dank des neuen Designs nur halb so hoch aus dem Wasser wie klassische horizontale Mühlen. Daher können ihre Fundamente kleiner ausfallen. Das spart Transportkosten, vor allem aber wird weniger Stahl und Beton benötigt.
Wirtschaftlichkeit der Windenergie
Vorteile versprechen sich Ingenieure auch von sogenannten Zweiflüglern, an denen das niederländische Unternehmen 2-B-Energy forscht. Der Wegfall des dritten Rotorblatts spart Material, und die Zweiflügler lassen sich schon während des Transports auf dem Errichterschiff mit dem Maschinenhaus verschrauben, weil sie weniger Platz wegnehmen als die Dreiblättler. Zudem kreisen ihre Propeller hinter dem Turm. Die Folge: Sie können sich von selbst in den Wind drehen; bislang übernehmen das Motoren, die Geld kosten – und Strom verbrauchen.
Große Einsparungen würde nach Einschätzung der wind:research-Experten auch eine Automatisierung der Produktion bringen. IWES-Forscher prüfen daher, ob Roboter künftig die Glasmatten – das Material aus dem die Rotorblätter bestehen – verlegen könnten. Bisher geschieht das weitgehend in Handarbeit.
Im Meer geht mehr
Mitunter können selbst simple Maßnahmen die Wirtschaftlichkeit des Offshore-Stroms drastisch erhöhen. So wollen Fraunhofer-Forscher mit speziellen Messprogrammen die Windverhältnisse auf der Nordsee detaillierter erfassen als bisher. Ziel ist es, die ergiebigsten Standorte zu finden: Ist die durchschnittliche Windgeschwindigkeit nur zehn Prozent höher, erzeugen die Anlagen 30 Prozent mehr Elektrizität; und das zu gleichen Kosten.
Windpark-Entwickler Balz sieht den nächsten Wochen gelassen entgegen. Zumindest wenn es um den Bau von Global Tech I geht, seinem gerade begonnenen ersten Windpark. Dafür liegt die Verantwortung jetzt bei der Offshore-Tochter des Essener Baukonzerns Hochtief. Sie hat 240 Tage Zeit, die Anlagen komplett zu installieren und anzuschließen. Für jeden Tag Verspätung müsste sie Balz und die anderen Investoren mit jeweils 250 000 Euro entschädigen.
Und wer weiß: Sollte es Deutschland trotz aller Widrigkeiten am Ende schaffen, Windparks unter solch schwierigen Bedingungen weit draußen auf See zu bauen, und das zu vertretbaren Kosten, hätte das Land einen einmaligen Technologievorsprung. Nicht ausgeschlossen also, dass aus dem Drama auf See doch noch eine Erfolgsgeschichte wird.