Größer könnte der Kontrast zwischen traditionellem und neuem Stadtmodell kaum sein. Auf der einen Seite Chinas Hauptstadt Peking: Gas, Strom und Wasser für die 20 Millionen Einwohner werden knapp. Weil bezahlbare Wohnungen fehlen, hausen Zehntausende in feuchten Kellern und stillgelegten Luftschutzbunkern. Autoabgase und Qualm aus zahllosen Kraftwerksschloten verdüstern den Himmel. Der Verkehr staut sich zu endlosen Kolonnen. Spötter bezeichnen Peking als größten Parkplatz der Welt.
Die chinesische Hauptstadt steht exemplarisch für die Probleme der chinesischen Megastädte. Ob Shanghai an der Ostküste, Zhengzhou im Landesinneren oder Chongqing am Drei-Schluchten-Staudamm – sie alle drohen am unaufhaltsamen Zustrom von Menschen zu ersticken.
Eine Zugstunde südöstlich von Peking entsteht der radikale Gegenentwurf: Die 30 Quadratkilometer große Ökostadt Tanggu, gelegen am Rande von Tianjin, einer Vier-Millionen-Einwohner-Metropole nahe des Chinesischen Meeres.
Busse fahren auf eigenen Spuren und haben stets Vorfahrt. Um Privatautos aus dem Zentrum herauszuhalten, gibt es am Stadtrand Umsteigeparkplätze in den öffentlichen Nahverkehr, eine City-Maut ist in Planung. Windräder und großflächige Solarkraftwerke decken 20 Prozent des Energiebedarfs. Für Geringverdiener baut die Lokalverwaltung subventionierte Wohnungen. Büros und Fabrikgebäude mischen sich unauffällig unter die Wohnbebauung, sodass viele Arbeitsplätze zu Fuß erreichbar sind.
Umgerechnet 22 Milliarden Euro stecken die Regierungen Chinas und Singapurs in diese Musterstadt urbanen Lebens, konzipiert für vorerst 350.000 Einwohner – das entspricht der Größe von Bochum oder Wuppertal. Planungschefin Yang Liu verfolgt ein klares Ziel: „Wir wollen beweisen, dass sich China trotz des rapiden Wachstums nachhaltig entwickeln kann.“
Rasanter Wachstum
Mit dieser gewaltigen Herausforderung steht China nicht allein. Mit rund 6,4 Milliarden Menschen wird sich die Zahl der Stadtbewohner bis 2050 gegenüber heute annähernd verdoppeln – rund 70 Prozent der Weltbevölkerung lebt dann in Städten.
Allein Peking wächst jedes Jahr um 100.000 Menschen – die Einwohnerzahl von Cottbus oder Trier. In Indien werden nach Schätzungen von Wissenschaftlern in den nächsten 20 Jahren jede Minute 30 Landbewohner in Ballungsräume ziehen. Um diesen Zustrom zu bewältigen, muss Indien 500 neue Städte bauen. Und die Einwohnerzahl Dhakas, der Hauptstadt Bangladeschs, wird sich bis 2020 gegenüber 1960 um unfassbare 3.585 Prozent auf rund 19 Millionen erhöhen (siehe Grafik).
Neue Lösungen müssen her
Für den Spanier Joan Clos, oberster Siedlungsplaner der UN, ist angesichts dieser Dimensionen klar: „Die Landflucht ist die politisch und ökonomisch folgenreichste Entwicklung der Gegenwart.“
Mit den alten Konzepten von Stadtplanung und -politik, so viel steht fest, lässt sich der Ansturm nicht beherrschen. Neue Lösungen müssen her. Nicht nur Ökocitys, auch abgasarme Verkehrs- und Energiesysteme oder Möglichkeiten der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln.
Motor des Wohlstands
Doch so unübersichtlich die Herausforderungen auf der einen Seite sind, so groß sind die Chancen: Gelingt es den Stadtplanern, diese größte Völkerwanderung der Geschichte sozial- und umweltverträglich aufzufangen, wird der Wandel zum Motor eines neuen kulturellen und ökonomischen Booms. Missglückt dagegen der Zeitenwechsel, drohen die Städte in Müll, Verkehr und Armut zu versinken. Am Ende könnten sich Frust und Perspektivlosigkeit in einer nie da gewesenen Explosion der Gewalt entladen.
Der Frankfurter Stararchitekt Albert Speer schreibt der Stadtentwicklung daher eine Schlüsselrolle zu beim schonenden Umgang mit Natur, Ressourcen und Klima. Sein Urteil: „Die Welt hat nur Bestand, wenn die Städte nachhaltig werden.“
Urbane Zentren sorgen für Wohlstand
Der größte Fehler in der Vergangenheit war es, die Zuwanderer wie ungebetene Eindringlinge zu behandeln und sie in Gettos an den Stadträndern abzudrängen, ohne Zugang zum öffentlichen Nahverkehr, Wasser und Strom. Der Harvard-Ökonom Edward Glaeser rät, das Produktivkapital der Neuankömmlinge gezielt zu nutzen. „Ohne urbane Zentren“, mahnt er, „gäbe es keinen Wohlstand“.
US-Großstädter sind Glaesers Berechnungen zufolge im Durchschnitt 50 Prozent produktiver als Landbewohner. Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bestätigen die enorme Wirtschaftskraft der Metropolen: Hauptstädte wie Mexiko City und São Paulo steuern rund die Hälfte zum Nationaleinkommen ihrer Länder bei.
Die Städte sind jedoch nicht nur reicher als der Landesdurchschnitt. Auch in Sachen Ökobilanz schneiden sie nach Berechnungen der London School of Economics besser ab – zumindest in den entwickelten Industrieländern: Jeder New Yorker etwa belastet das Klima rechnerisch mit etwas mehr als zehn Tonnen Kohlendioxid (CO2); der Durchschnittsamerikaner dagegen mit fast 25 Tonnen. Hauptgrund ist, dass Städte wegen der hohen Bevölkerungsdichte effizienter mit Energie und Ressourcen zu versorgen sind.
Grüne Wende
In den aufstrebenden Metropolen Chinas, Indiens und Afrikas steht die grüne Wende allerdings noch aus – mit oft tödlichen Folgen für ihre Bewohner. Laut einer jüngsten Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich rund zwei Millionen Menschen an verdreckter Luft.
Nicht nur um das zu ändern, stehen die Städte vor gewaltigen finanziellen Anstrengungen. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Booz & Company müssen Städte weltweit in den nächsten 30 Jahren 351 Billionen Dollar in Erhalt, Modernisierung, Ausbau und Nutzung ihrer Infrastruktur stecken.
Das Klima profitiert
Die gute Nachricht: Mit gezielten Ökoinvestitionen etwa in Gebäudeisolation, sparsame Verkehrssysteme und regenerative Energien können die Bürgermeister die Last deutlich mildern. Stecken sie bereits in den nächsten Jahren 22 Billionen Dollar in Greentech-Investitionen, fallen laut Booz langfristig nur Kosten von 296 Billionen Dollar an. Vor allem weil ihre Energierechnung sinkt.
Auch das Klima würde profitieren: Global würden dank des Einsatzes grüner Techniken in den nächsten 30 Jahren mit rund 200 Gigatonnen CO2 gut 40 Prozent weniger Klimagas ausgestoßen.
Längst bereiten sich Konzerne wie Siemens, General Electric (GE), ABB, IBM und Cisco auf diesen gigantischen Umbau vor: Sie entwickeln intelligente Stromnetze, selbstfahrende Elektroautos, smarte Gebäudetechnik, Instrumente für nachhaltigere Wassernutzung und alles rund um grüne Energieerzeugung.
Die Marktforscher von ABI Research schätzen, dass 2016 in die laufenden 102 Smart-City-Projekte knapp 40 Milliarden Dollar fließen werden – gegenüber etwas mehr als acht Milliarden Dollar 2010.
Schon sieht der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hiesige Unternehmen in der Rolle eines Weltmarktführers. Siemens-Chef Peter Löscher hat erst im Oktober das neue Geschäftsfeld „Infrastruktur und Städte“ eingerichtet, um diesen Markt, den er auf jährlich 300 Milliarden Euro taxiert, besser bedienen zu können. Die Münchner holen damit allerdings nur nach, was Dauer-Rivale GE längst vollzogen hat.>>>>>>>>LINK20
Neben den Konzernen verdienen auch die Städte an dem Umbau. Ein Beispiel ist laut Booz-Experte Nick Pennell die Metropole Baoding, südwestlich von Peking. Die Elf-Millionen-Stadt hat die Zahl der Unternehmen, die Umweltgüter produzieren, in wenigen Jahren von 64 auf mehr als 200 fast vervierfacht. Einer der bekanntesten Vertreter der dortigen Greentech-Industrie ist der Solarmodulhersteller Yingli.
Eine Erfolgsgeschichte: Die neuen Firmen haben in Baoding mindestens 14.000 neue Jobs geschaffen und ihre Umsätze auf rund vier Billionen Dollar geschraubt.
Bedürfnisse der Stadtbewohner
Doch es geht noch um mehr: Die US-Soziologin und Stadtforscherin Saskia Sassen rechnet damit, dass sich künftig nur solche technologischen Systeme durchsetzen, die sich den vielfältigen Bedürfnissen der Stadtbewohner anpassen können. Es ist ein fortwährender Suchprozess. Sassen glaubt, dass Autos in nicht allzu ferner Zukunft in vielen Städten zu einem puren Personenbeförderungsmittel werden. Zumindest in den Stadtzentren könnten dann kleine selbststeuernde Elektromobile die Bewohner wie heute Taxis zum jeweils nächsten Ziel transportieren. Sie wären ständig in Bewegung, statt wie heute die meiste Zeit wertvollen Stadtraum als Parkplatz zu missbrauchen.
Der Tod der Fahrpläne
In der Vision des italienischen Ingenieurs und Architekten Carlo Ratti, der am angesehenen Massachusetts Institute of Technology lehrt, durchziehen in wenigen Jahren Sensornetze lückenlos Straßen und Gebäude. Sie registrieren sämtliche Verkehrsströme und leiten zum Beispiel öffentliche Busse flexibel dorthin, wo gerade der höchste Bedarf herrscht. Fahrpläne sind passé. Ratti ist überzeugt: „Die digitale Technologie erobert die Städte.“ So hat in den Metropolen rund um den Globus ein aufregender Wettbewerb um die besten Ideen begonnen.
Not macht erfinderisch
Zur Avantgarde gehört die südbrasilianische 1,8-Millionen-Einwohnerstadt Curitiba: Weil der Stadt das Geld für zusätzliche Müllkippen fehlte, beschloss die Regierung, möglichst viel Abfall wiederzuverwerten. Seither sammeln die Einwohner, ganz nach deutschem Vorbild, Papier, Kunststoffe und Metalle in separaten Tonnen. Für die ärmeren Bewohner ist die Mülltrennung zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden. Sie erhalten im Gegenzug Lebensmittel und Schulhefte.
Auch der öffentliche Transport ist in Curitiba effizient gelöst: Statt unbezahlbare U-Bahn-Röhren unter die Stadt zu betonieren, legte sie schnelle Bustrassen an. An den Haltestellen schützen Röhren aus Stahl und Plexiglas die Fahrgäste. Sie besteigen die 28 Meter langen, mit Biodiesel betankten Gelenkbusse über fünf Doppeltüren. Bis zu 250 Personen passen in die XXL-Busse. Die Fahrer schalten per Knopfdruck eine grüne Welle. Zu Stoßzeiten rauscht alle 55 Sekunden ein Bus heran.
Anders als in Curitiba gäben sich viele Stadtplaner stets noch der Illusion hin, der zunehmenden Bevölkerung mit einem Wachstum der Stadtfläche begegnen zu müssen, kritisiert der Urbanisierungsforscher Jayant Kalagnanam aus Singapur. Es gehe aber darum, bestehende Kapazitäten intelligenter zu nutzen. „Die neuen Techniken schaffen dafür jede Menge Spielraum“, sagt er.
Doch bis der Umbau der Städte überall an Fahrt gewinnt, werden noch einige Jahre vergehen. Jahre, in denen die Bewohner São Paulos früh aufstehen müssen.
Dort, an der Avenida Berrini, spielt sich jeden Morgen ein seltsames Ritual ab: Spätestens ab vier Uhr stellen Beschäftigte der exklusiven Geschäftsmeile mit ihren Autos die wenigen Parkplätze in den Nebenstraßen zu. Dann klappen sie die Sitzlehnen nach hinten und schlafen noch drei Stunden bis zum Arbeitsbeginn. Der Grund: Als das Zentrum geplant wurde, hatte schlicht niemand an Parkplätze gedacht.