Vertikale Stadtplanung "Eine 600 Meter hohe Stadt"

Der Schweizer Architekturprofessor Matthias Kohler will Städte in die Höhe bauen, um den Ansturm neuer Bewohner zu bewältigen.

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Die Zürcher Architekten Fabio Gramazio und Matthias Kohler wollen wollen Städte in die Höhe bauen. Quelle: Fotolia

Herr Kohler, nach Ihrem Konzept von der vertikalen Stadt würde sich das Leben der Bewohner zwischen Himmel und Erde abspielen. Was hat Sie auf die Idee gebracht?

Überall auf der Welt ziehen die Metropolen die Menschen an. Wir leben im Zeitalter der Urbanisierung und müssen dafür neue städtebauliche und architektonische Antworten finden. Die Lösung kann nicht sein, einen kaum noch lebenswerten Siedlungsbrei um Metropolen zu schaffen. Auch eine weitere Verdichtung der Bebauung mit isolierten Gebäuden führt nicht ans Ziel.

Die Architekturbranche bittet zur Werkschau
Büro- und Wohnhaus in StarnbergBauherr: Markus Heckl, Starnberg Architektur: Bembé Dellinger Architekten und Stadtplaner GmbH Das futuristische Gebäude hat 447 Quadratmeter Nutzfläche und kann von Interessierten am Samstag, den 29. Juni 2013, um 14 und 16 Uhr besichtigt werden. Der Treffpunkt ist die Leopoldstraße 2b in 82319 Starnberg.Quelle: Bembé Dellinger Architekten und Stadtplaner GmbHFotografie: Johannes Hiller
Wohnungsbau Menterschwaige, München-HarlachingBauherrin: KLAUS Wohnbau GmbH, Augsburg | München Architektur: Blaumoser Architekten | Stadtplaner, Albert Blaumoser, Starnberg, Das organisch geformte Terrassenhaus mit zwölf einzelnen Wohnungen hat eine Gesamtfläche von 1.845 Quadratmetern. Besichtigt werden kann das Mehrparteienhaus am Samstag, den 29. Juni um 17 Uhr in der Harthauser Straße 87, 81545 München.Quelle: Blaumoser Architekten |Stadtplaner Fotograf: Burkhard Franke
Wohnhaus in der Goldbergstraße, München-SollnBauherrin: Private Häuser Wohnbau GmbH, München Architektur: SPP Sturm, Peter + Peter Architekten + Ingenieure, Christine Peter, Christian Peter, München Das Gebäude in der Goldbergstraße 7 in 81479 München beherbergt insgesamt acht Wohnungen mit Garten, Balkon oder Atrium und Dachgarten, die am Samstag, den 29. Juni um 14 Uhr besichtigt werden können. Quelle: SPP Sturm, Peter + PeterFotografie: Simone Rosenberg
Energetische Sanierung einer Grundschule mit Turnhalle, München-Sendling-WestparkBauherrin: Landeshauptstadt München, Referat für Bildung und Sport, Baureferat Hochbau (Projektleitung), München Architektur: Volker Thun, Bettina Armbruster, München Bei dieser Grundschule in München wurden Kastenfenster rekonstruiert, Zugänge und Farbkonzept neu interpretiert und Bauteile modernisiert. Das Ergebnis können sich Besucher am Samstag, den 29. Juni von 14 bis 15.30 Uhr sowie von 16 bis 17.30 Uhr, ansehen. Treffpunkt ist jeweils der Haupteingang der Schule (rote Tür) in der Werdenfelsstraße 58, in 81377 München.Quelle: Volker Thun, Bettina Armbruster, MünchenFotografie: Eliser Wiedemann
Betriebsgebäude für einen LKW-Handel, OberschleißheimBauherr: Ludwig Füchsl GmbH, Oberschleißheim Architekt: PALAIS MAI Architekten GbR, München Dieses schwarze Betriebsgebäude für einen Gebraucht-LKW-Händler steht inmitten einer mehrere Hektar großen Kiesfläche. Interessierte können das Kunstwerk am Samstag, den 29. Juni, von 13 bis 15 Uhr in der Hicklstraße 7 in 85764 Oberschleißheim besichtigen. Quelle: Palais MAI Architekten GbRFotograf: Edward Beierle
Einfamilienhaus Aletshausen - OT WinzerBauherren: König/Bär, Winzer Architektur: Jakob Architekten, Ulrike Jakob, Armin Jakob, Krumbach, Landschaftsarchitektur König, Melanie König Das Thema dieses Wohngebäudes in der Hauptstraße 56, 86480 Aletshausen, ist das Wohnen in und mit der Natur. Besichtigungstermine sind am Samstag, 29. Juni, und Sonntag, 30. Juni, jeweils um 11 Uhr.Quelle: JAKOB architekten GbRFotografie: Georg Drexel
Kinderkrippe WörthseeBauherrin: Gemeinde Wörthsee Architektur: Füllemann Architekten GmbH Die Kinderkrippe in der Schluifelder Straße 12 in 82237 Wörthsee ist ein Passivhaus-Holzbau, der sich nach Süden zur Landschaft hin öffnet. Besichtigt werden kann das Gebäude am Sonntag, den 30. Juni von 10 bis 12 Uhr. Quelle: Füllemann Architekten GmbHFotografie: Achim Füllemann

Also wollen Sie gleich ganze Viertel in die Höhe verlegen?

Das ist der Grundgedanke. Es entsteht eine neue Idee von dreidimensionaler Urbanität, die neue private wie öffentliche Lebensräume schafft.

Welche Vorteile brächte das?

Es würde sich zum Beispiel der Landverbrauch drastisch reduzieren. Wir haben ausgerechnet, dass in unserer vertikalen Stadt 30.000 Menschen auf einem Hundertstel der Fläche leben können, die bei einer typischen ebenen Bebauung in einer mittelgroßen europäischen Kleinstadt benötigt würde.

Der Schweizer Architekt Matthias Kohler im Interview mit WirtschaftsWoche. Quelle: ITA-ETH Zürich - Jeventino Mateo

Aber wie soll das funktionieren, Städte in die Höhe zu schichten?

Wir haben dafür ein System nutzungsoffener Module entwickelt. Sie können ein- bis dreigeschossig genutzt werden und zum Beispiel Wohnungen, Büros, Arztpraxen, Kindergarten oder einen Supermarkt aufnehmen. Ihr Inneres ist vollständig flexibel gestaltbar, kann also immer wieder an neue Anwendungen angepasst werden. Das macht das System sehr nachhaltig.

Und wie wird daraus eine Stadt?

Autonom agierende Flugroboter stapeln die Module in bestimmter Anordnung übereinander. Im Modellmaßstab funktioniert das schon. Ob auch im realen Maßstab bis zu einer Höhe von 600 Metern, muss sich zeigen. Im Inneren der Struktur sind mehrere durchgängige öffentliche Doppelebenen mit Parks, Einkaufszonen und Cafés vorgesehen. Sie sind über Lifte und Rolltreppen miteinander verbunden. Wer vor die Haustür tritt, kann den Hund ausführen, zum Friseur gehen oder ein paar Runden joggen. Alles ist fußläufig erreichbar, die gegenüberliegende Seite in sieben Minuten. Ich bewege mich in der vertikalen Stadt durch den Lebensraum von 30.000 Menschen, das schafft enorm viel Begegnung und urbane Identität.

Dürfen auch Nichtbewohner hinein?

Unbedingt. Der Stadtkomplex soll ja integraler Bestandteil der Umgebung sein. Daher ist die vertikale Stadt im Bodenbereich komplett offen und von einer Parklandschaft durchzogen.

Wie wollen Sie die Versorgung regeln?

Da streben wir eine möglichst hohe Autarkie an. Mit Energie etwa kann sich das Ensemble weitgehend selbst eindecken. Das zeigen Berechnungen von Kollegen.

"Wir betreten hier bewusst Neuland"

Die spektakulärsten Brücken der Welt
Brücke von Millau, FrankreichDas Bauwerk hält aktuell zwei Weltrekorde: Es ist mit einer Gesamtlänge von 2640 Metern die längste und höchste befahrbare Schrägseilbrücke der Welt. Dafür wurde es mit dem „Outstanding Structure Award“ der Iabse ausgezeichnet. Gebaut wurde die Brücke, die das Tal Tarn überspannt, zwischen 2001 und 2004. Quelle: REUTERS
Stari Most in Mostar, Bosnien-HerzegowinaDie „alte Brücke“, wie sie übersetzt heißt, verbindet den bosniakischen Osten mit dem kroatischen Westen der Stadt. Sie gilt als symbolische Brücke zwischen der Welt des Christentums und der islamischen Welt. Die erste Version wurde von 1556 bis 1566 gebaut und im jugoslawischen Bürgerkrieg zerstört. 1995 begann der Wiederaufbau. Ihre Wiedereröffnung fand im Juli 2004 statt. Quelle: dapd
Ponte de Vasco de Gama in LissabonDer Brückenzug ist mit seiner Gesamtlänge von 17 Kilometern die längste Brücke Europas. Benannt wurde das Bauwerk nach dem gleichnamigen Seefahrer, der den Seeweg nach Indien entdeckt hat. Die Brücke wurde pünktlich zur Expo 98 gebaut und eröffnet. Quelle: AP
Hangzhou Bay Bridge in ChinaMit ihrer Gesamtlänge von 35 Kilometern hält die Brücke einen Weltrekord: Sie ist die längste Brücke, die über ein Meer führt. Damit dies möglich wurde, arbeiteten rund 600 Experten neun Jahre lang an ihrer Konzeption und dem Bau. 2008 wurde die Brücke eröffnet. Quelle: dpa
Harbour Bridge, SydneyDie Brücke gilt neben dem Opernhaus als Wahrzeichen der Stadt und wurde schon 1932 eröffnet. Die Australier nennen ihre Brücke liebevoll „Kleiderbügel“. Die Bogenbrücke ist insgesamt 1149 Meter lang und 49 Meter breit. Quelle: AP
Széchenyi-Brücke, BudapestDie Hängebrücke ist die älteste der neun Budapester Brücken. Sie wurde zwischen 1839 und 1849 gebaut und überspannt die Donau. Das klassizistische Bauwerk ist 375 Meter lang und 6,5 Meter breit. Wegen den Ketten, die zwischen den Pfeilern hängen, wird die Brücke auch „Kettenbrücke“ genannt. In vielen Mythen und Legenden spielt sie eine wichtige Rolle, da sie den Beginn der ungarischen Identität symbolisiert. Quelle: AP
Ponte Vecchio, FlorenzDas Bauwerk gilt als eine der ältesten Segmentbogenbrücken der Welt und überspannt den Arno. Bereits 1333 begann der Bau der bis heute erhaltenen Brücke. Sie ist die einzige Brücke der Stadt, die während des Zweiten Weltkriegs nicht von deutschen Truppen zerstört wurde. Quelle: AP

Wie ist der Plan?

Sie arbeiten mit Fassadensystemen, die Sonnenlicht wahlweise in Strom oder Wärme umwandeln. Letztere wird in großen, unterirdischen Speichern gesammelt. Kleine, über das Gebilde verteilte Windräder erzeugen ebenfalls ganzjährig Elektrizität.

Flugroboter, hybride Solarfassaden, Multifunktionswaben – ist das technisch nicht alles sehr weit weg?

Natürlich betreten wir hier bewusst Neuland. Doch wir haben gezielt Technologien ausgewählt, die nach unseren Erwartungen bis 2020 bereitstehen.

Wie überzeugt sind Sie denn davon, dass Menschen bereit sind, ihren Alltag in luftige Höhen zu verlegen?

Das hängt vom kulturellen Hintergrund ab. Japaner und Singapurer etwa sind längst gewöhnt, einen Großteil ihres gesellschaftlichen und privaten Lebens in der Höhe zu verbringen. Da gibt es im 20. und 40. Stock Restaurants, Fitnessstudios, Läden oder Parks, in denen man sich trifft. In Singapur werden Wohn- und Hotelhochhäuser über öffentlich zugängliche Brücken bereits erfolgreich miteinander verknüpft. Das ist eine Art Vorstufe der vertikalen Stadt.

Europäer werden solche 600 Meter hohe Quartiere eher als optisches Monstrum empfinden, das die gewachsene Bausubstanz erschlägt.

Erst einmal wäre dieser Eindruck übertrieben. Wir arbeiten mit sehr filigranen und transparenten Strukturen, die sich fast wie selbstverständlich in die Umgebung integrieren, außerhalb der Stadt geradezu Teil der Landschaft werden.

Zu übersehen wäre das Ensemble dennoch nicht.

Wir sagen ja nicht, dass dieser Modellentwurf ein Allheilmittel für jede städtebauliche Situation ist. Aber die Vertikale darf künftig nicht mehr stigmatisiert sein.

Die Vorbehalte wären damit aber noch nicht aus der Welt.

Es geht um die Entwicklung von Alternativen. Nehmen wir Zürich. Die Stadt zieht viele Menschen an und braucht eine nachhaltige Entwicklungsperspektive. Wollen wir die neuen Bewohner in den Tälern und auf den Bergen ringsum ansiedeln? Kaum. Dann wäre die Landschaft zerstört.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Unlängst wurde einer Architektengruppe vorgeschlagen, auf einem ungenutzten Militärflughafenareal unweit von Zürich nach dem vertikalen Prinzip eine Schwesterstadt anzulegen. Hier ließe sich durchaus eine Stadt nach dem vertikalen Prinzip entwickeln.

Die vertikale Stadt muss also nicht unbedingt in Metropolen entstehen?

Nein. Für unseren ersten Entwurf haben wir uns als idealen Standort gar den abgelegenen Ort Meuse ausgesucht, ein Flecken Land ungefähr eine Zugstunde von Paris entfernt.

Fantastische neue Möglichkeiten

Die größten Wolkenkratzer der Welt
Grafik des fertigen World One in Mumbai, Worli Quelle: Lodha Group
432 Park Avenue Quelle: Creative Commons Lizenz - Kohei Kanno
One57 Quelle: dpa
Mercury City Tower Quelle: dapd
Mercury City Tower Quelle: REUTERS
Moscow City Complex Quelle: dapd
Tokyo Sky Tree Quelle: dpa

Wieso ausgerechnet dort?

Die französische Regierung wollte die Region strukturell entwickeln und hat aus diesem Grund eine Haltestelle für den Hochgeschwindigkeitszug TGV in die Landschaft gesetzt. Diese wenig genutzte, aber äußerst wertvolle Bahnanbindung an Paris war für unsere Standortwahl zentral.

Wer sollte sich denn dort in der Provinz ansiedeln?

Alle, die ein urbanes Leben schätzen, es aber satt haben, täglich im Stau zu stehen oder sich in überfüllte U-Bahnen zu quetschen. In Meuse fänden sie dann eine Erlebnisdichte und Nutzungsvielfalt, die urbane Lebensqualität ausmacht.

Allerdings müssten Sie ein großes Parkhaus für die vielen Privatautos bauen.

Gerade das wäre nicht vorgesehen. Wer nach Paris will, nimmt einfach den Zug. Und wer mal einen Wagen braucht, etwa um in Urlaub zu fahren, der würde sich aus einem Pool von Leihfahrzeugen bedienen. Die Mobilität wäre garantiert, der Verkehr indes drastisch reduziert.

Fragt sich nur, wer sich das Leben in einer solchen High-Tech-Siedlung leisten kann?

Die Kosten haben wir noch nicht wirklich kalkuliert. Dazu stecken noch zu viele Hypothesen in unserem Modellentwurf. Ich würde aber vermuten, dass der Wohnraum, gerade wenn man den geringen Landverbrauch berücksichtigt, zumindest nicht teurer wird.

Wie kommen Sie zu dieser Annahme, obwohl zum Beispiel Flugroboter bestimmt nicht gerade billig sind?

Wir forschen an der ETH sogar an Maschinen, die kunstvoll mauern oder Betonsäulen in freier Form ohne Schalung ziehen können. Sie sind nicht einmal sonderlich teuer, arbeiten aber 24 Stunden am Tag, und das höchst präzise und zuverlässig. Ich bin überzeugt: Digitale Fertigungstechnologien heben die Qualität, ohne die Kosten zu treiben. Was unser Leben längst durchdrungen hat, erobert jetzt auch die Architektur – die Digitalisierung aller Prozesse. Sie schafft fantastische neue Möglichkeiten für uns Architekten, um qualitätsvollen Lebensraum zu gestalten.

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