Digitaler Wandel "Haben Sie Google zerschlagen, kommt der nächste"

Was bedeutet eigentlich der "digitale Wandel" - im Guten und im Schlechten? Wir haben vier interessante Köpfe zum Gespräch gebeten: Verena Pausder, Gesche Joost, Fabien Nestmann und Harald Welzer.

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Es diskutieren (v.l.n.r.): Verena Pausder, Gesche Joost, Fabien Nestmann und Harald Welzer. Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

Kein schlechter Ort, um über die Zukunft zu sprechen, wenn man ihn denn gefunden hat. In der gewittergrauen Tristesse der Berliner Universität der Künste hat sich Gesche Joost ihr Reich geschaffen: das Design Research Lab. Hier, im zweiten Stock, empfangen einen Licht und Glas und bunt beklebte Wände. In dieser kreativen Enklave forscht die Professorin mit ihren Studenten: an Kapuzenpullis mit eingewobenen Kopfhörern, an Seniorenhandys oder an Schlaganfall-Jacken, die bei Stürzen eigenständig den Notarzt alarmieren.

Joost ist seit 2014 außerdem Digitalbotschafterin der Bundesregierung bei der EU, das freundliche Gesicht des Internets also – und die perfekte Gastgeberin eines Abends, der sich dem digitalen Wandel widmen wird. Die weiteren Geladenen: die Berliner Gründerin Verena Pausder, der Deutschland-Statthalter des Taxi-Schrecks Uber, Fabien Nestmann, und der Soziologe Harald Welzer – der Einzige der vier ohne Smartphone.

Zu den Personen

Harald Welzer, Ihr jüngstes Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“ fordert: „Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht.“ Wie soll das heutzutage funktionieren?

Welzer: Ich will es ganz simpel beantworten: Das meiste, was zu unserem Wohlbefinden beiträgt, ist analog und eben nicht digital. Unsere Welt wird trotzdem Schritt für Schritt, App für App, digital okkupiert. Leider! Smarte Geräte sind überall, und das Netz durchdringt unser Leben. Das führt zu Fremdsteuerung und Fremdbestimmung.

Für wen von Ihnen wäre das etwas – digitale Askese?

Pausder: Also ich könnte meinen Job dann nicht mehr machen. Die Welt ist digital, wir müssen damit umgehen. Allerdings möchte ich die Wahl haben, das ist mir schon wichtig. Ich will mich frei für oder gegen das Digitale entscheiden können.

Joost: Ich halte das für Romantik. Wir leben in einer ständig vernetzten Welt, und der digitale Wandel ist eine Bereicherung, denken wir nur an die Kommunikationsmöglichkeiten, die Wege, sich im Netz auszuprobieren, ja: zu leben.

Welzer: Ich gebe das mit der Romantik sofort zurück. Sie hängen einer falschen Liebe zum Neuen nach. Nur weil etwas da ist, müssen wir es doch nicht nutzen! Man darf sich zu Technologie auch kritisch verhalten.

Pausder: Das ist aber ein wahnsinnig deutscher Einwand. Risiken, immer Risiken. Wir ruhen uns auf den behaglichen Errungenschaften von gestern aus.

Was Knigge empfiehlt

Welzer: Wo denn das, bitte? Wir stehen doch ökonomisch hervorragend da. Dass die Deutschen so mäkelig sind, hört man immer wieder. Da kann ich nur sagen: Ganz schön weit gebracht mit dieser Mäkeligkeit!

Pausder: Den Optimismus lasse ich mir von Ihnen nicht nehmen, Herr Welzer. Nehmen wir einen Punkt heraus: das Gründen. Wir loben unsere Industrie, den familiär geprägten Mittelstand, aber die Start-ups sind doch das große Kapital von morgen; mit Gründern, die die Arbeitswelt der Zukunft gestalten.

Welzer: Mein Gott, warum nur soll man dauernd etwas gründen?

Pausder: Weil es wach hält, neugierig, weil ich mich nicht mit dem Status quo zufrieden gebe!

Welzer: Manchmal hat die Kultivierung des Bestehenden auch ihren Wert. Mir wird jedenfalls zu viel Quatsch gegründet.

"Nicht überall, wo Innovation draufsteht, ist auch Innovation drin"

Was, Herr Welzer, wäre für Sie genau Quatsch?

Welzer: Alles, was mir das Denken abnimmt.

Pausder: Das ist mir zu konservativ. Wer jung ist und eine Idee hat, der soll machen. Sonst sind wir am Ende alle gleich lahm und gleich langweilig.

Nestmann: Entscheidend ist doch, dass wir uns hier nicht gegenseitig das Recht auf Engagement und Initiative absprechen.

Joost: Einen einseitigen Hype ums Gründen sehe ich auch kritisch. Nicht überall, wo Innovation draufsteht, ist auch Innovation drin, manchmal steckt wenig dahinter. Nur müssen wir ehrlich sein: Die großen amerikanischen Gründungen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben uns kalt erwischt. Und zwar, weil Geschäftsmodelle entstanden sind, die einer anderen Logik folgen – Daten sind der neue Wert.

Pausder: Wir stehen bloß immer so sauertöpfisch am Rand. Beispiel Uber: Da hat sicher ein schlauer Deutscher gesagt: Braucht kein Mensch, wir haben Taxen. Tja, und nun ist das Unternehmen Milliarden wert.

Joost: Gleichzeitig müssen wir aber die Konsequenzen solcher Innovationen im Blick haben. Schritte zählende Armbänder, Jogging-Apps, was immer – dadurch werden wir als Individuen vermessbar. Da werden sich unangenehme Fragen stellen: Warum bewegt sich Herr X nicht genügend? Warum hat der trotzdem denselben Krankenkassentarif wie ich?

Nestmann: Ich habe von Ihnen gelesen, Herr Welzer, dass Sie auf das Recht pochen, sich im Zweifel zu Tode saufen zu dürfen. Die Grundidee dahinter hat mir durchaus gefallen: Ich will selbst bestimmen, was ich wann wie mache. Was ich mich nur gefragt habe: Wo sehen Sie dieses Recht denn aktuell gefährdet?

Welzer: Genau dort, wo Gesche Joost eben angesetzt hat: Verhalten ändert sich schleichend, weil es neue Formen der Selbst- und Fernkontrolle gibt. Die ersten Versicherungen bieten längst individualisierte Tarife.

Nestmann: Aber es kann doch trotzdem nicht richtig sein, aus Angst gar nichts Neues zulassen zu wollen. Wir sind in Deutschland keine Insel. Falls es solche Inseln je gab, sind sie vom digitalen Zeitalter längst überspült worden.

Herr Welzer empfindet den digitalen Wandel als totalitäre Revolution. Führt Digitalisierung in die Diktatur?

Joost: Das kann ich so nicht unterschreiben, aber politisch sind wir in der Tat an einem Scheideweg. Können wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufrechterhalten? Das Recht auf private Kommunikation? Das Problem ist nur, dass Daten etwas so Abstraktes sind, dass den meisten die Zusammenhänge von Datenspuren und Personenprofilen nicht klar sind. Bürger müssen die Möglichkeit haben, mündig zu entscheiden, was mit ihren Daten geschieht – und da ist Transparenz ungemein wichtig. Momentan scheinen Daten allerdings Freiwild zu sein.

Zehn Wege, um die Handy-Sucht zu besiegen
Alternative zum Smartphone findenAuf dem Handy gibt es viel zu tun: WhatsApp, Facebook, Twitter, E-Mails oder News-Portale checken. Suchen Sie sich eine Alternative, die einen ähnlichen Charakter wie das Smartphone mitbringt. Greifen Sie etwa stattdessen zu Hause oder in der Bahn mal zu einem Buch. Das Lesen löst den ständigen Blick aufs Smartphone ab und senkt mit der Zeit das Bedürfnis, immer wieder draufzuschauen. Quelle: dpa
Eine Armbanduhr tragenViele verzichten mittlerweile auf Armbanduhren und schauen auf ihr Handy, um die Uhrzeit zu erfahren. Wenn Sie sich vom Smartphone unabhängiger machen wollen, dann ist das der falsche Weg. Tragen Sie eine Armbanduhr und nutzen Sie sie nicht nur als Modeaccessoire, sondern dafür, wofür sie gemacht ist. Quelle: dpa
Online-Profile ausdünnenMan muss nicht auf jeder Hochzeit tanzen: Weniger soziale Netzwerke bedeuten weniger Statusmeldungen. Wer sich mehr Zeit für die Welt jenseits des Smartphone-Displays wünscht, sollte seine Apps kritisch prüfen - und sich von ein paar Online-Profilen lösen. Quelle: dpa
Nicht mit dem Smartphone bezahlenMit dem Smartphone zu bezahlen ist im Supermarkt, in Hotels oder Restaurants auf dem Vormarsch. Dieser Trend bedeutet allerdings noch mehr Griffe zum Handy. Stattdessen sollten Sie die dazugehörigen Apps löschen und lieber auf das gute, alte Portemonnaie setzen. Quelle: AP/dpa
Schlichte Höflichkeitsformen beachtenWer beim Essen oder im Gespräch mit anderen zum Smartphone greift, ist schlichtweg unhöflich. Vermeiden Sie das und konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr Umfeld und Ihre Gesprächspartner. Sie werden es Ihnen danken. Quelle: Fotolia
Feste Handy-Pausen nehmenWer beruflich ständig über dem Smartphone hängt, sollte sich über den Tag verteilt immer wieder feste Handy-Pausen verordnen. Die Zeit lässt sich für einen kurzen Spaziergang oder zum Kaffeeholen nutzen. Quelle: dpa
Klingelton oder Vibration ausschaltenAus den Ohren, aus dem Sinn: Wer seinen Klingelton oder die Vibration abschaltet, ist gelassener und kann sich besser auf andere Dinge konzentrieren. Quelle: dpa

Kriegt man dieses Problem noch eingefangen?

Pausder: Wir werden nicht mehr in eine Vor-Daten-Zeit zurückkehren können. Deswegen ist es Aufgabe der Politik, den Datenschutz so zu regeln, dass die Bürger überhaupt entscheiden können, was mit ihren Daten passieren darf und was nicht. Aufklärung und Transparenz sind unverzichtbar, das sehe ich genauso.

Nestmann: Und Erziehung ist extrem wichtig, wir brauchen den mündigen Bürger. Dazu gehört auch, um die eigene Verantwortung zu wissen, wenn ich diesen oder jenen Dienst oder Apps oder Web-Sites nutze.

Pausder: Schön, dass wir uns hier so einig sind. Es wird nur seit zehn Jahren gefordert, Medienkompetenz in Schulen zu vermitteln – und was ist passiert? Nichts ist passiert. Ohne Bildung wird es aber keine digital mündigen Bürger geben.

Welzer: Ich stimme zu, dass es eine Bildungsnotwendigkeit ist, sich mit dieser Technik auseinanderzusetzen. Schon, weil das Thema nicht nur ein technisches, sondern auch ein politisches ist. Derzeit erleben wir doch eine fundamentale Spaltung: in passive Abrufer von Politik und Konsum hier und von Menschen, die sie steuern, dort. Das ist der Tod von Demokratie. Und die Politik rafft das nicht.

"Staatliche Rahmenbedingungen sind richtig und wichtig"

Findet die Digitalbotschafterin der Regierung auch, dass die Politik nichts rafft?

Joost: Politik reagiert. Das liegt in der Natur der Sache. Aber mir geht auch vieles zu langsam. Ich vermisse den notwendigen internationalen Rahmen, der im digitalen Zeitalter unsere Rechte wirksam schützt.

Stattdessen kämpft die öffentliche Hand gegen Uber…

Joost: Schwierig, absolut. Sicherlich ist die Abwehr neuer Geschäftsmodelle nicht grundsätzlich das Mittel der Wahl. Die Politik hat jedoch stets ein Interesse, die soziale Ordnung gegen allzu schmerzvolle Einschnitte zu schützen. In diesem Spannungsfeld müssen Politiker einen offenen Blick behalten und angemessen reagieren.

Nestmann: Danke. Wenn die Politik permanent hinterherhinkt und diesen Zustand nur dadurch zu mildern versucht, indem sie im Wesentlichen abblockt, werden wir nicht vorankommen.

Warum Uber so umstritten ist

Aber Uber, Herr Nestmann, wollte selbst das Recht bestimmen, als es in den deutschen Markt eindrang, oder?

Nestmann: Überhaupt nicht. Wir sind allerdings eine Vermittlungsplattform, und so etwas ist im aktuellen Personenbeförderungsrecht schlicht nicht vorgesehen. Das gab es nämlich noch nicht, als das einschlägige Gesetz entstanden ist. Deshalb ist ein Verbot auf Basis dieses Gesetzes auch so schwierig. Aber klar ist: Wir halten uns ans Recht. Und wenn Gerichte unserer Auffassung nicht folgen, dann stehen wir selbstverständlich nicht über dem Recht. Wir müssen uns jedoch fragen, ob manche Gesetze der neuen Zeit angepasst werden müssten.

Pausder: Staatliche Rahmenbedingungen sind richtig und wichtig. Aber dazu gehört doch auch, dass ich einen Rahmen für Innovation setze. Und das Taxigewerbe brauchte dringend einen Weckruf.

Uber zeigt doch die Ambivalenz des Wandels: Einerseits bricht der Dienst einen verkrusteten Markt auf. Andererseits hat er schon die Big-Data-Muskeln spielen lassen, als er aus Nutzerdaten One-Night-Stands herausfilterte.

Nestmann: Diese Geschichte ist mehr als drei Jahre alt. Das war interner Test, um den Algorithmus, mit dem wir Fahrer und Mitfahrer zusammenbringen, effizienter zu machen. Natürlich arbeiten wir weiter daran, unsere Plattform zu verbessern, aber derlei machen wir längst nicht mehr.

Pausder: Aber die Sache ist damit auf dem Tisch: Was kann man mit den Daten alles anstellen?

Nestmann: Nur weil wir es können, heißt das nicht, dass wir es machen werden. Wir werden kein Geld mit den Daten verdienen, weil sie unser Unternehmen nicht verlassen. Punkt.

Wie Ihr Unternehmen digital fit wird

Welzer: Aber Sie erfassen sie. Und darin liegt immer auch die Möglichkeit, morgen etwas anderes mit ihnen zu machen, allen Beteuerungen heute zum Trotz.

Pausder: Das stimmt, aber die Konsequenz kann nicht lauten, dass wir uns Neuerungen verweigern und angsterfüllt herumsitzen, weil wir in Zukunft befürchten in der Datenmatrix gefangen zu sein. Es gibt akuten Handlungsbedarf beim Datenschutz, also gehen wir ihn an und fordern die Politik auf, ebenfalls aktiv zu werden!

Herr Welzer, ist das auch Ihre Meinung?

Welzer: Ja, da bin ich ganz auf Linie: Wir müssen warnen und handeln, wenn wir als politische Bürger Gefahren sehen. Ich halte Demokratie für eine zivilisatorische Errungenschaft, aber eben auch für eine sehr fragile Angelegenheit. Sie kann brechen oder wieder abgeschafft werden. Wir haben es in der Hand.

Pausder: Der Philosoph beobachtet und warnt. Das sollen Sie. Aber der Unternehmer muss pushen, die Grenzen verschieben, muss Neues probieren. Sonst wäre der Philosoph irgendwann arbeitslos…

Welzer: (lacht) Sind die meisten ja auch.

"Es ist sicher nicht falsch, Google in seine Schranken zu verweisen"

Die Politik konzentriert sich statt auf Grundsatzfragen eher auf Symbolfälle wie die Zerschlagung Googles.

Joost: Es ist sicher nicht falsch, Google in seine Schranken zu verweisen. Aber die Zerschlagung von Google kann nur plakativ gemeint sein, um die Möglichkeiten aufzuzeigen. Es wirkt wie der Versuch, Sandsäcke gegen einen Tsunami aufzutürmen.

Welzer: Das verstehe ich nicht.

Joost: Wie soll man einem Konzern drohen, der weltweit einen Markt revolutioniert hat?

Welzer: Na ja, wir haben ein scharfes Kartellrecht.

Joost: Man kann versuchen, Google mit dem Wettbewerbsrecht ein Stück weit zu kontrollieren, man wird aber an der Struktur nichts ändern.

Pausder: Eben. Haben Sie Google zerschlagen, kommt der nächste.

Welzer: Das ist doch kein Argument.

Pausder: Doch. Sehen Sie Facebook, Twitter, WhatsApp. Google tot, Internet erledigt? So ist es doch nicht.

Nestmann: Was wäre, Herr Welzer, aus Ihrer Sicht denn das Gute an einer Zerschlagung Googles?

Welzer: Dann könnten die Tochterunternehmen sich nicht gegenseitig Vormachtstellungen sichern.

Pausder: Würden Sie auch so argumentieren, wenn Google ein deutsches Unternehmen wäre?

Welzer: Selbstverständlich. Ich kenne keinen in der Debatte, der die Fragen zum Kapitalismus im Netz mit der Frage nach Europa oder Amerika verknüpft.

Nestmann: Das empfinde ich anders. Wenn ich mich mit Entscheidern in Brüssel oder Berlin unterhalte, dann heißt es immer: Warum wurde Uber nicht in Berlin gegründet? Es gibt diese Angst vor Konzernen aus den USA. Und wenn ich Vorschläge höre, wir müssten europäische Player schaffen... Wir müssen überhaupt nichts. Wir sollten vielmehr erst mal die Bedingungen schaffen, dass digitales Gründen in Deutschland einfacher wird. Wenn die deutsche Regierung aber schon damit überfordert ist, wie will denn dann bitte die EU-Kommission europäische Champions gründen?

Können sich denn alle Anwesenden darauf einigen, dass das Netz viel mehr Möglichkeiten bietet als Risiken?

Welzer: Insgesamt eröffnet Digitalisierung neue Formen der Beteiligung, schon klar. Gleichzeitig findet eine Okkupation durch den Markt satt. Vieles wird ökonomisiert, was eigentlich unter Teilhabe-Gesichtspunkten erfunden worden ist. Schauen Sie auf Airbnb: Da ist zu einem riesigen Markt verkommen, was früher als privater Tausch stattfand.

Nestmann: Aber es gibt ja weiter den Gedanken des Tauschens. Wenn ich bei Freunden schlafe, sagen die doch nicht: Buch’ bitte über Airbnb.

Welzer: Glück gehabt... Bei WGs von Studenten ist das anders. Und da sind wir wieder bei sozialen Veränderungen aufgrund der digitalen Eruption.

Nestmann: Ich bitte Sie, ich verlange doch von meiner Frau auch nicht plötzlich, dass sie mich über Uber bucht, wenn sie mit mir fahren will.

Welzer: Beim Beispiel der WG ist das evident. Es ist nicht einmal böser Wille, wenn Mitbewohner sagen, wir bieten das Gästezimmer lieber über Airbnb an, um Geld zu verdienen. Der Konflikt tritt auf, sobald einer sagt, der nächste Gast ist kein Airbnb-Kunde, sondern mein Kumpel. Sie können bei vielen Portalen sehen, dass einst funktionierende soziale Systeme durch die Monetarisierung einen anderen Charakter kriegen.

Joost: Ich finde, Jeremy Rifkin hat dazu etwas Visionäres gesagt. Und er macht die Gegenthese zu Ihnen auf, Herr Welzer: Die Sharing-Ökonomie führt gerade aus der Falle der Monetarisierung heraus und eröffnet ein alternatives Modell zum Kapitalismus.

Welzer: Rifkin schreibt total dummes Zeug.

Joost: Oh nein, schauen Sie bitte, wie viel Bedeutung Rifkin etwa Open Source einräumt. Zugang zu Wissen und kompetenter Umgang mit Technologie sind dort Kernwerte. Das würde, wenn wir es im gesellschaftlichen Kontext denken, viele Digitalisierungsprobleme lösen, die wir heute Abend diskutiert haben.

Welzer: Das funktioniert in einer idealen Welt, aber sicher nicht in der Welt, wie wir sie vorfinden. Der Zugang zu den Ausgangsressourcen ist doch völlig ungleich. Im Vergleich zu Rifkins Technikverständnis war das von Daniel Düsentrieb reflektiert.

"Man muss der neuen Zeit eine Chance geben!"

Sharing-Dienste werden längst von Millionen Kunden genutzt. Was wollen Sie da allen Ernstes noch zurückdrehen?

Welzer: Noch mal: Wir erleben, wie private Sphären marktförmig gemacht werden – mithilfe digitaler Werkzeuge. Das ist ja nicht von vornherein ganz furchtbar, aber man muss sehr wach sein und beobachten, was da eigentlich passiert. Ob ich das steuern kann und will, steht auf einem anderen Blatt.

Nestmann: Beobachtung darf aber nicht heißen, dass sich nichts ändert. Dann findet die Veränderung nämlich außerhalb des veralteten Rahmens statt. Oder wir verhindern etwas, was uns vielleicht genutzt hätte.

Welzer: Beunruhigt Sie alle die Frage des Verschwindens von geschützter Privatheit gar nicht?

Joost: Schon. Aber ich nehme wahr, wie anders die jüngere Generation Privatheit versteht, und das will ich zunächst begreifen, ohne es zu verdammen. Ich stelle mir kritisch die Frage, ob meine eigene Definition von Privatheit noch angemessen ist.

Nestmann: Natürlich setze ich mich viel mit der Frage auseinander. Ich bemerke an mir selber, dass ich manchmal eine Entscheidung treffe und – nur als Beispiel – mancher App diesen oder jenen Zugriff nicht gebe. Oft merke ich aber auch, dass ich aus Trägheit, Schnelllebigkeit oder Komfort sage: Ist mir egal. Ich wäre aber stets dafür, in diesen Dingen trial and error zuzulassen und auszuhalten, statt sie gar nicht zuzulassen.

Pausder: Es wäre schade, wenn wir unser Gespräch über den digitalen Wandel auf die Frage der Privatsphäre reduzieren. Man muss der neuen Zeit ihre Chance geben! Ich arbeite ganz viel mit Kindern zusammen. Für die ist sofort klar, dass diese Sphären verschwimmen, die kennen es nicht anders.

Welzer: Ich würde auch meinem Sohn nie irgendetwas verbieten, was für ihn relevant ist. Sehen wir es doch als unterschiedliche Aufgaben für unterschiedliche Generationen. Ich begreife es als meine, unsere freiheitliche, demokratische Gesellschaft zu verteidigen. Wenn das heißt, dass ich etwas klassisch bin, dann bin ich es gerne.

Pausder: Gerne, Herr Welzer! Gegen klassisch hat doch keiner was. Ich begreife es dann als meine Aufgabe, jungen Menschen Mut zu machen, neue Wege zu gehen und den Status quo zu hinterfragen. Immer wieder.

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