Kein schlechter Ort, um über die Zukunft zu sprechen, wenn man ihn denn gefunden hat. In der gewittergrauen Tristesse der Berliner Universität der Künste hat sich Gesche Joost ihr Reich geschaffen: das Design Research Lab. Hier, im zweiten Stock, empfangen einen Licht und Glas und bunt beklebte Wände. In dieser kreativen Enklave forscht die Professorin mit ihren Studenten: an Kapuzenpullis mit eingewobenen Kopfhörern, an Seniorenhandys oder an Schlaganfall-Jacken, die bei Stürzen eigenständig den Notarzt alarmieren.
Joost ist seit 2014 außerdem Digitalbotschafterin der Bundesregierung bei der EU, das freundliche Gesicht des Internets also – und die perfekte Gastgeberin eines Abends, der sich dem digitalen Wandel widmen wird. Die weiteren Geladenen: die Berliner Gründerin Verena Pausder, der Deutschland-Statthalter des Taxi-Schrecks Uber, Fabien Nestmann, und der Soziologe Harald Welzer – der Einzige der vier ohne Smartphone.
Zu den Personen
Fabien Nestmann ist Deutschland-Chef des Taxi-Schrecks Uber. Nach einigen verlorenen Gerichtsverfahren erfährt der 35-Jährige gerade am eigenen Leib, wie mühsam die digitale Revolution ist.
Gesche Joost kommt aus Neuland und erklärt es der Politik: einst im Schattenkabinett Peer Steinbrücks, heute als Digitalexpertin der Bundesregierung. Und Professorin für Design ist sie auch.
Harald Welzer erforscht menschliche Abgründe, Diktaturen und Gewalt. Sein jüngstes Projekt „Futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“ will die Welt nicht nur besser denken, sondern besser machen.
Verena Pausder kommt aus der Berliner Start-up-Szene. Die ist mittlerweile ziemlich erwachsen. Ihre Firma Fox & Sheep entwickelt Apps für Kinder, die sinnvoll und lustig zugleich sind.
Harald Welzer, Ihr jüngstes Buch „Autonomie. Eine Verteidigung“ fordert: „Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht.“ Wie soll das heutzutage funktionieren?
Welzer: Ich will es ganz simpel beantworten: Das meiste, was zu unserem Wohlbefinden beiträgt, ist analog und eben nicht digital. Unsere Welt wird trotzdem Schritt für Schritt, App für App, digital okkupiert. Leider! Smarte Geräte sind überall, und das Netz durchdringt unser Leben. Das führt zu Fremdsteuerung und Fremdbestimmung.
Für wen von Ihnen wäre das etwas – digitale Askese?
Pausder: Also ich könnte meinen Job dann nicht mehr machen. Die Welt ist digital, wir müssen damit umgehen. Allerdings möchte ich die Wahl haben, das ist mir schon wichtig. Ich will mich frei für oder gegen das Digitale entscheiden können.
Joost: Ich halte das für Romantik. Wir leben in einer ständig vernetzten Welt, und der digitale Wandel ist eine Bereicherung, denken wir nur an die Kommunikationsmöglichkeiten, die Wege, sich im Netz auszuprobieren, ja: zu leben.
Welzer: Ich gebe das mit der Romantik sofort zurück. Sie hängen einer falschen Liebe zum Neuen nach. Nur weil etwas da ist, müssen wir es doch nicht nutzen! Man darf sich zu Technologie auch kritisch verhalten.
Pausder: Das ist aber ein wahnsinnig deutscher Einwand. Risiken, immer Risiken. Wir ruhen uns auf den behaglichen Errungenschaften von gestern aus.
Was Knigge empfiehlt
Der Deutsche Knigge-Rat hat für den Umgang mit dem Smartphone eine einfache allgemeingültige Regel: Grundsätzlich sind Nicht-Anwesende zugunsten der Anwesenden zu vernachlässigen. Entsprechend hat das Smartphone im Meetings nichts verloren.
Wer sich in einem Dialog befindet, sollte nicht einfach so einen eingehenden Anruf beantworten. Höflich ist laut Knigge, wer genau erklärt, warum es so wichtig ist, das Gespräch anzunehmen oder eine Nachricht zu lesen. Außerdem sei es angebracht, um Erlaubnis zu bitten, ob man rangehen darf.
Daher gibt der Deutsche Knigge-Rat für das Verhalten im Restaurant klare Regeln vor. Wie im Kino oder Theater hat das Telefon hier nichts zu suchen. Sowohl das Licht als auch das Klingeln, Piepen oder Brummen würden andere Menschen in diesen Situationen stören. Ausnahmen gestattet Knigge, wenn ein Gastgeber noch auf Gäste wartet. Hier wäre es unhöflich das Telefon auszustellen, so dass der Gastgeber nicht mehr erreichbar ist.
Laut Knigge-Rat darf das Smartphone hier sowie in jeder anderen "Wartezeit" genutzt werden. Allerdings sollte es lautlos geschaltet werden. Auch von langen Telefonaten in der Gegenwart anderer ist aufgrund der Lärmbelästigung abzusehen.
Höflich ist nur, wer den anderen in diesen Diskurs mit einbezieht. Sonst verschwindet das Gemeinschaftsgefühl. Der Knigge-Rat empfiehlt Second Screen auf einem Tablet statt dem Smartphone, damit der andere bequemer mithineinschauen kann – sofern er das möchte. Falls nicht, sollte das Smartphone einfach ausgeschaltet bleiben, oder der Abend eben nicht als eine gemeinschaftliche Aktion definiert werden.
Welzer: Wo denn das, bitte? Wir stehen doch ökonomisch hervorragend da. Dass die Deutschen so mäkelig sind, hört man immer wieder. Da kann ich nur sagen: Ganz schön weit gebracht mit dieser Mäkeligkeit!
Pausder: Den Optimismus lasse ich mir von Ihnen nicht nehmen, Herr Welzer. Nehmen wir einen Punkt heraus: das Gründen. Wir loben unsere Industrie, den familiär geprägten Mittelstand, aber die Start-ups sind doch das große Kapital von morgen; mit Gründern, die die Arbeitswelt der Zukunft gestalten.
Welzer: Mein Gott, warum nur soll man dauernd etwas gründen?
Pausder: Weil es wach hält, neugierig, weil ich mich nicht mit dem Status quo zufrieden gebe!
Welzer: Manchmal hat die Kultivierung des Bestehenden auch ihren Wert. Mir wird jedenfalls zu viel Quatsch gegründet.
"Nicht überall, wo Innovation draufsteht, ist auch Innovation drin"
Was, Herr Welzer, wäre für Sie genau Quatsch?
Welzer: Alles, was mir das Denken abnimmt.
Pausder: Das ist mir zu konservativ. Wer jung ist und eine Idee hat, der soll machen. Sonst sind wir am Ende alle gleich lahm und gleich langweilig.
Nestmann: Entscheidend ist doch, dass wir uns hier nicht gegenseitig das Recht auf Engagement und Initiative absprechen.
Joost: Einen einseitigen Hype ums Gründen sehe ich auch kritisch. Nicht überall, wo Innovation draufsteht, ist auch Innovation drin, manchmal steckt wenig dahinter. Nur müssen wir ehrlich sein: Die großen amerikanischen Gründungen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben uns kalt erwischt. Und zwar, weil Geschäftsmodelle entstanden sind, die einer anderen Logik folgen – Daten sind der neue Wert.
Pausder: Wir stehen bloß immer so sauertöpfisch am Rand. Beispiel Uber: Da hat sicher ein schlauer Deutscher gesagt: Braucht kein Mensch, wir haben Taxen. Tja, und nun ist das Unternehmen Milliarden wert.
Joost: Gleichzeitig müssen wir aber die Konsequenzen solcher Innovationen im Blick haben. Schritte zählende Armbänder, Jogging-Apps, was immer – dadurch werden wir als Individuen vermessbar. Da werden sich unangenehme Fragen stellen: Warum bewegt sich Herr X nicht genügend? Warum hat der trotzdem denselben Krankenkassentarif wie ich?
Nestmann: Ich habe von Ihnen gelesen, Herr Welzer, dass Sie auf das Recht pochen, sich im Zweifel zu Tode saufen zu dürfen. Die Grundidee dahinter hat mir durchaus gefallen: Ich will selbst bestimmen, was ich wann wie mache. Was ich mich nur gefragt habe: Wo sehen Sie dieses Recht denn aktuell gefährdet?
Welzer: Genau dort, wo Gesche Joost eben angesetzt hat: Verhalten ändert sich schleichend, weil es neue Formen der Selbst- und Fernkontrolle gibt. Die ersten Versicherungen bieten längst individualisierte Tarife.
Nestmann: Aber es kann doch trotzdem nicht richtig sein, aus Angst gar nichts Neues zulassen zu wollen. Wir sind in Deutschland keine Insel. Falls es solche Inseln je gab, sind sie vom digitalen Zeitalter längst überspült worden.
Herr Welzer empfindet den digitalen Wandel als totalitäre Revolution. Führt Digitalisierung in die Diktatur?
Joost: Das kann ich so nicht unterschreiben, aber politisch sind wir in der Tat an einem Scheideweg. Können wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufrechterhalten? Das Recht auf private Kommunikation? Das Problem ist nur, dass Daten etwas so Abstraktes sind, dass den meisten die Zusammenhänge von Datenspuren und Personenprofilen nicht klar sind. Bürger müssen die Möglichkeit haben, mündig zu entscheiden, was mit ihren Daten geschieht – und da ist Transparenz ungemein wichtig. Momentan scheinen Daten allerdings Freiwild zu sein.
Kriegt man dieses Problem noch eingefangen?
Pausder: Wir werden nicht mehr in eine Vor-Daten-Zeit zurückkehren können. Deswegen ist es Aufgabe der Politik, den Datenschutz so zu regeln, dass die Bürger überhaupt entscheiden können, was mit ihren Daten passieren darf und was nicht. Aufklärung und Transparenz sind unverzichtbar, das sehe ich genauso.
Nestmann: Und Erziehung ist extrem wichtig, wir brauchen den mündigen Bürger. Dazu gehört auch, um die eigene Verantwortung zu wissen, wenn ich diesen oder jenen Dienst oder Apps oder Web-Sites nutze.
Pausder: Schön, dass wir uns hier so einig sind. Es wird nur seit zehn Jahren gefordert, Medienkompetenz in Schulen zu vermitteln – und was ist passiert? Nichts ist passiert. Ohne Bildung wird es aber keine digital mündigen Bürger geben.
Welzer: Ich stimme zu, dass es eine Bildungsnotwendigkeit ist, sich mit dieser Technik auseinanderzusetzen. Schon, weil das Thema nicht nur ein technisches, sondern auch ein politisches ist. Derzeit erleben wir doch eine fundamentale Spaltung: in passive Abrufer von Politik und Konsum hier und von Menschen, die sie steuern, dort. Das ist der Tod von Demokratie. Und die Politik rafft das nicht.
"Staatliche Rahmenbedingungen sind richtig und wichtig"
Findet die Digitalbotschafterin der Regierung auch, dass die Politik nichts rafft?
Joost: Politik reagiert. Das liegt in der Natur der Sache. Aber mir geht auch vieles zu langsam. Ich vermisse den notwendigen internationalen Rahmen, der im digitalen Zeitalter unsere Rechte wirksam schützt.
Stattdessen kämpft die öffentliche Hand gegen Uber…
Joost: Schwierig, absolut. Sicherlich ist die Abwehr neuer Geschäftsmodelle nicht grundsätzlich das Mittel der Wahl. Die Politik hat jedoch stets ein Interesse, die soziale Ordnung gegen allzu schmerzvolle Einschnitte zu schützen. In diesem Spannungsfeld müssen Politiker einen offenen Blick behalten und angemessen reagieren.
Nestmann: Danke. Wenn die Politik permanent hinterherhinkt und diesen Zustand nur dadurch zu mildern versucht, indem sie im Wesentlichen abblockt, werden wir nicht vorankommen.
Warum Uber so umstritten ist
Uber startete vor rund vier Jahren in San Francisco als Alternative zu Taxis, die in der kalifornischen Metropole notorisch schwer zu kriegen sind. Anfangs ging es nur darum, für etwas mehr Geld einen Chauffeur-Service mit Oberklasse-Wagen anzubieten. Inzwischen nutzt Uber seine Vermittlungsplattform auch für Dienste, bei denen Privatleute Fahrgäste mit ihren eigenen Autos mitnehmen können. Vor allem um solche Angebote entzünden sich die Streitigkeiten mit Taxi-Gewerbe und Behörden in verschiedenen Ländern.
Es ist eine Smartphone-App, wie man sie auch von den Taxi-Anwendungen kennt. Der Abholort wird automatisch ermittelt, der Kunde sieht die Uber-Fahzeuge in der Nähe. Der Fahrweg wird mit Hilfe von GPS berechnet, die Wagen kommen daher ohne Taxameter aus. Der Bezahlvorgang entfällt: Es wird einfach die bei Uber hinterlegte Kreditkarte belastet.
Das Taxi-Geschäft überall ist vielen Regeln unterworfen. Es gibt Vorschriften für die technische Kontrolle der Fahrzeuge, die Überprüfung des Gesundheitszustands der Fahrer, spezielle Versicherungen und die Beförderungspflicht. Außerdem wird die Größe des Marktes über die Vergabe von Konzessionen eingeschränkt. So kann eine Taxi-Lizenz in New York mehr als eine Million Dollar kosten. Uber platzt mit seinen Dienstes in dieses über Jahrzehnte gewachsene Geflecht von Regeln und wirtschaftlichen Interessen.
Beim ursprünglichen Chaufferdienst UberBLACK waren die Argumente vor allem der Komfort einer Smartphone-App, ein schickes Auto und die automatische Abrechnung. Bei den Mitfahrdiensten in Privatautos ist Uber aber auch günstiger als herkömmliche Taxis. So kostet der Service UberPOP in Hamburg einen Euro pro Kilometer bzw. 25 Cent pro Minute. Laut Hamburger Taxentarif zahlt man dagegen jeweils 2,20 Euro für die ersten vier Kilometer, je 1,90 für die nächsten fünf Kilometer und 1,40 ab dem 10. Kilometer.
Behörden und auch Landesregierungen sehen den Dienst skeptisch. In Berlin und Hamburg erließen die Behörden Unterlassungsverfügung gegen Uber. Gerichte erlaubtem dem Fahrdienst aber vorläufig die Weiterfahrt. In NRW erklärte ein Sprecher des Verkehrsministeriums zu Uber: "Nach den vorliegenden Informationen handelt es sich bei den Fahrten um genehmigungspflichtige Personenbeförderungen." Über eine solche Genehmigung verfügen die Uber-Fahrer aber offenbar nicht. Das Verkehrsministerium warnt deshalb vor hohen Bußgeldern.
Aber Uber, Herr Nestmann, wollte selbst das Recht bestimmen, als es in den deutschen Markt eindrang, oder?
Nestmann: Überhaupt nicht. Wir sind allerdings eine Vermittlungsplattform, und so etwas ist im aktuellen Personenbeförderungsrecht schlicht nicht vorgesehen. Das gab es nämlich noch nicht, als das einschlägige Gesetz entstanden ist. Deshalb ist ein Verbot auf Basis dieses Gesetzes auch so schwierig. Aber klar ist: Wir halten uns ans Recht. Und wenn Gerichte unserer Auffassung nicht folgen, dann stehen wir selbstverständlich nicht über dem Recht. Wir müssen uns jedoch fragen, ob manche Gesetze der neuen Zeit angepasst werden müssten.
Pausder: Staatliche Rahmenbedingungen sind richtig und wichtig. Aber dazu gehört doch auch, dass ich einen Rahmen für Innovation setze. Und das Taxigewerbe brauchte dringend einen Weckruf.
Uber zeigt doch die Ambivalenz des Wandels: Einerseits bricht der Dienst einen verkrusteten Markt auf. Andererseits hat er schon die Big-Data-Muskeln spielen lassen, als er aus Nutzerdaten One-Night-Stands herausfilterte.
Nestmann: Diese Geschichte ist mehr als drei Jahre alt. Das war interner Test, um den Algorithmus, mit dem wir Fahrer und Mitfahrer zusammenbringen, effizienter zu machen. Natürlich arbeiten wir weiter daran, unsere Plattform zu verbessern, aber derlei machen wir längst nicht mehr.
Pausder: Aber die Sache ist damit auf dem Tisch: Was kann man mit den Daten alles anstellen?
Nestmann: Nur weil wir es können, heißt das nicht, dass wir es machen werden. Wir werden kein Geld mit den Daten verdienen, weil sie unser Unternehmen nicht verlassen. Punkt.
Wie Ihr Unternehmen digital fit wird
Machen Sie die Digitalstrategie zur Chefsache. Entwickeln Sie ein Gespür dafür, wie sich veränderte Kundenerwartungen auf Ihr Geschäft auswirken. Transportieren Sie dieses Bewusstsein ins Unternehmen.
Wie sieht Ihr Unternehmen in fünf Jahren in einer digitalisierten Welt aus? Machen Sie sich klar, wie Sie künftig mit Kunden interagieren, welche Innovationen Sie bis dahin eingeführt und wie sich Ihre internen Prozesse geändert haben müssen.
Sobald Sie Ihre Strategie entwickelt haben, starten Sie mit der Umsetzung – mit kleinen, schnellen Schritten und überschaubaren Projekten. Schaffen Sie Inseln mit optimiertem organisatorischem, technologischem und kulturellem Rahmen – inklusive neuer Anreizsysteme, die die Ziele Ihrer Digitalstrategie unterstützen.
Messen Sie die Effekte Ihrer Projekte, und kommunizieren Sie Erfolge nach innen und außen.
Welzer: Aber Sie erfassen sie. Und darin liegt immer auch die Möglichkeit, morgen etwas anderes mit ihnen zu machen, allen Beteuerungen heute zum Trotz.
Pausder: Das stimmt, aber die Konsequenz kann nicht lauten, dass wir uns Neuerungen verweigern und angsterfüllt herumsitzen, weil wir in Zukunft befürchten in der Datenmatrix gefangen zu sein. Es gibt akuten Handlungsbedarf beim Datenschutz, also gehen wir ihn an und fordern die Politik auf, ebenfalls aktiv zu werden!
Herr Welzer, ist das auch Ihre Meinung?
Welzer: Ja, da bin ich ganz auf Linie: Wir müssen warnen und handeln, wenn wir als politische Bürger Gefahren sehen. Ich halte Demokratie für eine zivilisatorische Errungenschaft, aber eben auch für eine sehr fragile Angelegenheit. Sie kann brechen oder wieder abgeschafft werden. Wir haben es in der Hand.
Pausder: Der Philosoph beobachtet und warnt. Das sollen Sie. Aber der Unternehmer muss pushen, die Grenzen verschieben, muss Neues probieren. Sonst wäre der Philosoph irgendwann arbeitslos…
Welzer: (lacht) Sind die meisten ja auch.
"Es ist sicher nicht falsch, Google in seine Schranken zu verweisen"
Die Politik konzentriert sich statt auf Grundsatzfragen eher auf Symbolfälle wie die Zerschlagung Googles.
Welzer: Das verstehe ich nicht.
Joost: Wie soll man einem Konzern drohen, der weltweit einen Markt revolutioniert hat?
Welzer: Na ja, wir haben ein scharfes Kartellrecht.
Joost: Man kann versuchen, Google mit dem Wettbewerbsrecht ein Stück weit zu kontrollieren, man wird aber an der Struktur nichts ändern.
Pausder: Eben. Haben Sie Google zerschlagen, kommt der nächste.
Welzer: Das ist doch kein Argument.
Nestmann: Was wäre, Herr Welzer, aus Ihrer Sicht denn das Gute an einer Zerschlagung Googles?
Welzer: Dann könnten die Tochterunternehmen sich nicht gegenseitig Vormachtstellungen sichern.
Pausder: Würden Sie auch so argumentieren, wenn Google ein deutsches Unternehmen wäre?
Welzer: Selbstverständlich. Ich kenne keinen in der Debatte, der die Fragen zum Kapitalismus im Netz mit der Frage nach Europa oder Amerika verknüpft.
Nestmann: Das empfinde ich anders. Wenn ich mich mit Entscheidern in Brüssel oder Berlin unterhalte, dann heißt es immer: Warum wurde Uber nicht in Berlin gegründet? Es gibt diese Angst vor Konzernen aus den USA. Und wenn ich Vorschläge höre, wir müssten europäische Player schaffen... Wir müssen überhaupt nichts. Wir sollten vielmehr erst mal die Bedingungen schaffen, dass digitales Gründen in Deutschland einfacher wird. Wenn die deutsche Regierung aber schon damit überfordert ist, wie will denn dann bitte die EU-Kommission europäische Champions gründen?
Können sich denn alle Anwesenden darauf einigen, dass das Netz viel mehr Möglichkeiten bietet als Risiken?
Welzer: Insgesamt eröffnet Digitalisierung neue Formen der Beteiligung, schon klar. Gleichzeitig findet eine Okkupation durch den Markt satt. Vieles wird ökonomisiert, was eigentlich unter Teilhabe-Gesichtspunkten erfunden worden ist. Schauen Sie auf Airbnb: Da ist zu einem riesigen Markt verkommen, was früher als privater Tausch stattfand.
Nestmann: Aber es gibt ja weiter den Gedanken des Tauschens. Wenn ich bei Freunden schlafe, sagen die doch nicht: Buch’ bitte über Airbnb.
Welzer: Glück gehabt... Bei WGs von Studenten ist das anders. Und da sind wir wieder bei sozialen Veränderungen aufgrund der digitalen Eruption.
Nestmann: Ich bitte Sie, ich verlange doch von meiner Frau auch nicht plötzlich, dass sie mich über Uber bucht, wenn sie mit mir fahren will.
Welzer: Beim Beispiel der WG ist das evident. Es ist nicht einmal böser Wille, wenn Mitbewohner sagen, wir bieten das Gästezimmer lieber über Airbnb an, um Geld zu verdienen. Der Konflikt tritt auf, sobald einer sagt, der nächste Gast ist kein Airbnb-Kunde, sondern mein Kumpel. Sie können bei vielen Portalen sehen, dass einst funktionierende soziale Systeme durch die Monetarisierung einen anderen Charakter kriegen.
Joost: Ich finde, Jeremy Rifkin hat dazu etwas Visionäres gesagt. Und er macht die Gegenthese zu Ihnen auf, Herr Welzer: Die Sharing-Ökonomie führt gerade aus der Falle der Monetarisierung heraus und eröffnet ein alternatives Modell zum Kapitalismus.
Welzer: Rifkin schreibt total dummes Zeug.
Joost: Oh nein, schauen Sie bitte, wie viel Bedeutung Rifkin etwa Open Source einräumt. Zugang zu Wissen und kompetenter Umgang mit Technologie sind dort Kernwerte. Das würde, wenn wir es im gesellschaftlichen Kontext denken, viele Digitalisierungsprobleme lösen, die wir heute Abend diskutiert haben.
Welzer: Das funktioniert in einer idealen Welt, aber sicher nicht in der Welt, wie wir sie vorfinden. Der Zugang zu den Ausgangsressourcen ist doch völlig ungleich. Im Vergleich zu Rifkins Technikverständnis war das von Daniel Düsentrieb reflektiert.
"Man muss der neuen Zeit eine Chance geben!"
Sharing-Dienste werden längst von Millionen Kunden genutzt. Was wollen Sie da allen Ernstes noch zurückdrehen?
Welzer: Noch mal: Wir erleben, wie private Sphären marktförmig gemacht werden – mithilfe digitaler Werkzeuge. Das ist ja nicht von vornherein ganz furchtbar, aber man muss sehr wach sein und beobachten, was da eigentlich passiert. Ob ich das steuern kann und will, steht auf einem anderen Blatt.
Nestmann: Beobachtung darf aber nicht heißen, dass sich nichts ändert. Dann findet die Veränderung nämlich außerhalb des veralteten Rahmens statt. Oder wir verhindern etwas, was uns vielleicht genutzt hätte.
Welzer: Beunruhigt Sie alle die Frage des Verschwindens von geschützter Privatheit gar nicht?
Joost: Schon. Aber ich nehme wahr, wie anders die jüngere Generation Privatheit versteht, und das will ich zunächst begreifen, ohne es zu verdammen. Ich stelle mir kritisch die Frage, ob meine eigene Definition von Privatheit noch angemessen ist.
Nestmann: Natürlich setze ich mich viel mit der Frage auseinander. Ich bemerke an mir selber, dass ich manchmal eine Entscheidung treffe und – nur als Beispiel – mancher App diesen oder jenen Zugriff nicht gebe. Oft merke ich aber auch, dass ich aus Trägheit, Schnelllebigkeit oder Komfort sage: Ist mir egal. Ich wäre aber stets dafür, in diesen Dingen trial and error zuzulassen und auszuhalten, statt sie gar nicht zuzulassen.
Pausder: Es wäre schade, wenn wir unser Gespräch über den digitalen Wandel auf die Frage der Privatsphäre reduzieren. Man muss der neuen Zeit ihre Chance geben! Ich arbeite ganz viel mit Kindern zusammen. Für die ist sofort klar, dass diese Sphären verschwimmen, die kennen es nicht anders.
Welzer: Ich würde auch meinem Sohn nie irgendetwas verbieten, was für ihn relevant ist. Sehen wir es doch als unterschiedliche Aufgaben für unterschiedliche Generationen. Ich begreife es als meine, unsere freiheitliche, demokratische Gesellschaft zu verteidigen. Wenn das heißt, dass ich etwas klassisch bin, dann bin ich es gerne.
Pausder: Gerne, Herr Welzer! Gegen klassisch hat doch keiner was. Ich begreife es dann als meine Aufgabe, jungen Menschen Mut zu machen, neue Wege zu gehen und den Status quo zu hinterfragen. Immer wieder.