Überstunden Leben die Deutschen für ihre Arbeit?

Überstunden sind ein Dauerthema in Deutschland. In einigen Berufen arten die Arbeitszeiten aus. Darunter leidet nicht nur die eigene Psyche, sondern auch Familie und Freunde. Ein Massenphänomen sehen Experten aber nicht.

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Wenn man eigentlich bei der Familie oder mit Freunden ein Bier trinken sollte, sitzen manche in Deutschland noch vor ihren Arbeits-PCs. Ein Massenphänomen oder die Ausnahme? Quelle: dpa

Berlin Familie und Freunde kommen zu kurz, von regelmäßigem Sport nach Feierabend ganz zu schweigen. Auch das Abschalten nach Feierabend gelingt nicht, zu präsent sind die Gedanken an die Arbeit. Nach einer aktuellen Studie verbringt jeder sechste Vollzeitbeschäftigte in Deutschland mehr als 48 Stunden pro Woche in seinem Job, jeder zweite von ihnen leidet unter diesen überlangen Arbeitszeiten. Für mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer sind der Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zufolge Überstunden schlicht an der Tagesordnung. Schuften sich die Deutschen kaputt?

Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg relativiert: 2014 habe jeder Arbeitnehmer im Schnitt 46,7 Überstunden geleistet. Das ist circa eine Stunde mehr pro Woche. Nicht einberechnet sei Mehrarbeit, die auf Arbeitszeitkonten geflossen ist, also wieder in Freizeit verrechnet werden sollte. Die Zahl der jährlich geleisteten Überstunden sei seit der Wiedervereinigung stabil. Geändert habe sich lediglich, dass ein Teil der Mehrarbeit durch Arbeitszeitkonten flexibler gehandhabt werde. „In ruhigeren Zeiten bauen die Arbeitnehmer ihre Überstunden wieder ab“, sagt Weber.

Zudem sei die Zahl der bezahlten Überstunden 2014 nur unwesentlich geringer gewesen als die der unbezahlten. „Es gibt Arbeitnehmer, die den finanziellen Zuschlag gerne mitnehmen“, sagt Weber. Die Gründe für kostenlose Mehrarbeit könnten Erwartungen des Arbeitgebers sein, aber auch der persönliche Antrieb des Mitarbeiters.

DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach schlägt jedoch Alarm: „45 Stunden und mehr pro Woche arbeiten - viele Beschäftigte tun das nicht freiwillig“, sagt sie. Hinzu komme, dass Arbeitnehmer mit überlangen Arbeitszeiten von 45 Stunden und mehr häufiger Arbeit mit nach Hause nähmen als diejenigen, die höchstens 44 Stunden wöchentlich im Job verbringen. Notwendige Erholungsphasen fielen damit wesentlich kürzer aus.


Überstunden kommen häufig in konjunktursensiblen Branchen vor

Mehrarbeit, ob nun erzwungen oder einer flexiblen Arbeitseinteilung geschuldet, könne zu einer Belastung für den Einzelnen werden, gibt auch Weber zu bedenken. „Die klare Trennung von Job und Privatleben wird aufgeweicht.“ Ein Risiko sei, dass das Berufliche überhandnimmt. „Der eine sitzt gerne spätabends noch am Rechner, der andere fühlt sich dadurch enorm gestresst.“ Beim Thema Mehrarbeit müsse daher immer die individuelle Situation betrachtet werden. „Überstunden können zu einem Problem werden, müssen es aber nicht“, sagt Weber.

„Die Zahlen der Studie lassen zunächst einem Massenphänomen vermuten“, sagt Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte am arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Überlange Arbeitszeiten seien jedoch nur in einigen Jobs weit verbreitet. Häufig komme Mehrarbeit in Branchen vor, die stark von der Konjunktur abhängig seien, so etwa in Industriebetrieben. In der Finanz- und Versicherungsbranche oder im Sozialwesen seien Überstunden eher selten. „Wenn es hier zu Mehrarbeit kommt, liegt das vielmehr an einer schlechten Personalplanung“, sagt Schäfer.

Bei höher Qualifizierten sei die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zudem fließend, ergänzt der Arbeitsmarktexperte. Die sogenannte Work-Life-Balance werde aufgehoben, die Arbeit zu einem integralen Bestandteil der persönlichen Lebensführung. „Die Menschen mögen ihren Job und machen ihn einfach gern.“ Die Aussage von einem Zuviel an Arbeit sei daher oft eine subjektive.

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