Thomas Düllo „Erfahren von Direktheit“

Ein Rundgang mit Thomas Düllo, Kulturwissenschaftler an der Uni Magdeburg, durch den Ikea-Markt Berlin-Tempelhof – und ein Gespräch über die „Ikeaisierung der Wohnkultur“.

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WirtschaftsWoche: Herr Düllo, Sie schreiben, Ikea betreibe Wohnerziehung. Was meinen Sie damit genau? Die moderaten Preise erlauben das Experimentieren, Kombinieren und Verwerfen. Das war vor Ikea nicht möglich. Wir kommen als Einrichtungs-Analphabeten auf die Welt. Niemand bringt uns Geschmack bei. Man übernimmt den Stil seiner Generation oder seiner Familie. Doch das Ergebnis ist eher traurig. Hier hilft Ikea, das Volk kommt über das Experimentieren auf den Geschmack. Dieses Phänomen bezeichne ich als Ikeaisierung der Wohnkultur. Die heute 30-Jährigen sind mit und in Ikea-Mobiliar aufgewachsen. Düllo schlendert in den Ikea-Markt. In einem modernen Beispiel-Wohnzimmer stehen ein Aquarium, ein türkisfarbenes Sofa, mittendrin hängt ein Kronleuchter. Was sagt uns dieses Zimmer? Wir sehen hier inszenierten Trash. Schauen Sie sich das Aquarium an. Es ist der Inbegriff von Spießigkeit. In einen anderen Kontext gestellt, ironisiert es Spießigkeit. Schlechter Geschmack als zitierter Geschmack wird hip. Mit dem klassischen Schwedenschick hat das nichts mehr zu tun. Geschmackliche Sprünge sind typisch für Ikea. Am Anfang war das Astloch, das das Verlangen nach Gemütlichkeit befriedigte. Darauf folgte die Kühle der Postmoderne mit geraden Fronten und schlichten Farben. Und jetzt haben wir neoromantische Kronleuchter und Aquarien. Wer kauft Kronleuchter bei Ikea? Die wenigsten. Ikea leistet sich solche Spielereien, um aktuell zu erscheinen. Generell sind die Deutschen geschmacklich eher defensiv. Wenn wir uns die Wohnungen in dieser Gegend anschauen würden, garantiere ich Ihnen: 80 Prozent sind das nackte Grauen. Überfüllt und unordentlich. Auf einem Plakat steht: „Such die linke Socke! Wer sie findet, nimmt an einer Verlosung teil.“ Was sollen solche Aktionen? Dieses Suchen-Finden-Prinzip passt zur Philosophie des Unternehmens. Ikea hat mit der Kastenkultur Orientierung in unsere Wohnwelt gebracht. Einen normalen deutschen Haushalt durchlaufen im Lauf eines Lebens rund 40.000 Gegenstände. Das Zeug muss ja irgendwo hin. Nur mit Kästen kommen Sie allerdings auf Dauer nicht weiter. Und die Rückeroberung der Schrankwand kann es auch nicht sein. Das Bedürfnis nach Stauraum wächst, weil offene Wohnstrukturen zunehmen. Immer mehr ausrangierte Fabriken werden zu attraktiven Wohnräumen. Auf diese Trends ist Ikea nicht vorbereitet. Loftbewohner stellen besondere Anforderungen an Design. Und das ist ein Dilemma für das Unternehmen: Ikea kann nicht ohne Weiteres hochwertiges Design kopieren. Das Normalisieren und Demokratisieren des Designs führt zwangsläufig zu einer Verwässerung. Avantgardistisches Design jedoch verlangt nach Kühnheit, nach Klarheit, nach Einzigartigkeit. Ikea versucht das bisher vergeblich. Die Musik spielt woanders. Und es kommt noch ein anderes Problem hinzu: Diejenigen, die mit Ikea-Billigmöbeln angefangen haben, stehen vor der Frage: Bleibe ich in der Sozialisierung von Ikea, oder breche ich aus? Wenn Ikea erzieht, dann gehört zur Erziehung auch, dass man sich davon freimacht. Bisher ist Ikea ein Phasenbegleiter. Der Student, der Gründer, die junge Familie kaufen hier ein. Für etablierte Mittvierziger und Senioren hat Ikea noch kein schlüssiges Konzept. In der Regalabteilung steht etwas abseits und fast versteckt die Ikea-Ikone: Das Billy-Regal. Das Billy-Phänomen ist mir ein Rätsel. Für Bücher ist es nicht tief genug und zu wenig variabel. Irgendetwas Irrationales ist da passiert. Als Ikea die Billy-Serie beerdigen wollte, liefen die Kunden Sturm und forderten die Weiterproduktion. Es gibt inzwischen sogar Billy-Sammler. Vielleicht ist das Regal so beliebt, weil es sich schnell zusammensetzen lässt. Bei anderen Modellen kann das Stunden dauern. Warum tun sich Kunden das überhaupt an, Möbel zusammenzuschrauben? Wir leben im Zeitalter der Indirektheit. Die Dinge sind fertig. Die Erfahrung des Selbermachens ist uns abhanden gekommen. Das Attraktive am Hantieren besteht im Erfahren von Direktheit. Das maskuline Gefühl, ein Stück Welt bearbeitet zu haben, schafft Zufriedenheit. Angeblich fehlt immer eine Schraube im Ikea-Karton. Der Schraubenmythos ist ein ganz perfider Coup. Übrigens genauso wie die angeblich komplizierte Anleitung. Diese Herausforderungen will man bewältigen. Zeit für eine Verschnaufpause im Restaurant. Düllo bestellt die Frikadellen Köttbullar, Pommes und eine Cola. Um uns herum sitzen Frauen mit kleinen Kindern. Am Nachbartisch brüllt ein Zweijähriger. Warum sind so viele Frauen Ikea-Kunden? Der Bedarf, die Wohnung durch Design zu verändern, ist bei Frauen ausgeprägter. Sie sind es, die die Wohnentscheidungen treffen. Bei Ikea konzentriert sich das noch mal mehr auf junge Mütter. Manche parken ihre Kinder im Hort eine Etage tiefer und treffen sich zum gemütlichen Ikea-Frühstück oder Mittagessen. Alles, was auf ein Totalangebot hinausläuft, wird immer auch Kunden finden, die darin einen Gesamtentwurf sehen. Meist entwickeln zunächst Jugendliche solche Taktiken. Sie hängen in Kaufhäusern ab und schnorren sich durch. Nach dem Essen geht es Richtung Markthalle. Ein junges Pärchen faucht sich an, es geht um die Farbe eines Vorhangs. Er will weiß, sie rot. Ist Ikea der große Beziehungstest? Hier verdichten sich viele Entscheidungen und Eindrücke auf wenige Stunden. Gerade samstags, wenn es zum Bersten voll ist, steigt der Stresspegel. Die Totalerschlaffung wird zum Krisenherd. Außerdem gibt es einen grundsätzlichen Konflikt: Die untere Etage mit den kleinteiligeren Produkten ist noch mal mehr die Domäne der Frauen. Die Verhübschung der Welt findet hier mit geringem finanziellen Aufwand statt. Die Männer können dem nicht viel abgewinnen. Oft endet der geplante Sofakauf mit einem Beutel Teelichter. Ja, da spielen sich Tragödien ab. Die Verheißung über den Katalog ist größer als das reale Angebot. Wenn man mit leeren Händen den Markt verlässt, setzt sich der Zank während der Heimfahrt fort. In der Lampenabteilung nutzt Düllo die Gelegenheit, um eine Schreibtischlampe zu kaufen. Zielsicher steuert er auf ein Modell mit Lederapplikationen und dezentem Schirm zu. Die soll es sein? Ja, das Design überzeugt mich, wenn auch mit leichter Skepsis. Ich nehme sie mit. Das ging aber schnell. Haben Sie sich spontan entschieden? Nein, ich habe mir die Lampe im Katalog genau angeschaut. Der Katalog ist das Herz des Ikea-Prinzips. Er wird extrem aufwendig und in hohen Stückzahlen produziert. Er ist die Bibel der Ikeaner, in der stundenlang gelesen wird. Haben Sie nicht die Sorge, dass Ihre Wissenschaftlerkollegen die gleiche Lampe auf dem Schreibtisch stehen haben? Das wäre ärgerlich, aber dieses Risiko muss man eingehen. Das Unternehmen macht ein Individualisierungsangebot, das paradoxerweise massenindustriell und monokulturell erzeugt wird. Gibt es einen Ausweg? Ich muss als Kunde das Vorgegebene radikalisieren. Ich darf beispielsweise niemals eine Collage aus dem Katalog übernehmen, sondern kann nur punktuell das Mobiliar mit Ikea-Produkten ergänzen. Ich muss mich von Ikea und den anderen Ikea-Kunden absetzen. Wenn Sie Ihre ganze Wohnung mit ausschließlich Ikea-Möbeln vollstopfen, macht Sie das auf Dauer melancholisch. Düllo geht zur Kasse, er muss ein paar Minuten in der Schlange warten. An den Kassen versammelt sich die Ikea-Großfamilie zum Sippentreffen. Achten Sie auf die Hinweisschilder – der Kunde wird überall im Markt geduzt. Das unterstreicht das Familiäre, das Gefühl von Privatheit. Das ist Teil der Marketingstrategie. Der Katalog, die ritualisierten Mythen, die merkwürdigen Produktnamen – all das ist stärker als der eigentliche Absatz.

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