Übersetzungsengpass EU: Sprachwirrwarr in Brüssel

Nach dem Beitritt zehn neuer Mitglieder lähmt der Sprachenwirrwarr die Brüsseler Institutionen.

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Die Europaabgeordneten fingerten ratlos an den Knöpfen der Übersetzungsanlage, wechselten von Kanal zu Kanal. „Tá an-áthas orm a bheith anseo inniu ag an gcéad Seisiún Iomlánach den suí nua de Pharlaimint na hEorpa“, hatte der irische Ministerpräsident Bertie Ahern seine Rede vor dem Europäischen Parlament begonnen. Doch die Dolmetscher blieben stumm in ihren Kabinen, mit dem irischen Satz konnten sie nichts anfangen. Die Sendepause war gewollt von Ahern, der auf Irisch seine Freude geäußert hatte, an der ersten Plenarsitzung des neuen Europaparlaments teilzunehmen. „Ist Irisch erst einmal Amtssprache in der Europäischen Union“, sagte der Politiker den verdutzten Abgeordneten, „kann sich dieses Problem nicht wiederholen." Aherns Auftritt vor dem Europaparlament zeigte, welches Prestige die Regierungen mit dem Gebrauch ihrer Sprache verbinden. „Um Sprache wird der letzte Krieg in Europa geführt“, sagt Juhani Lönnroth, Chef der Generaldirektion Übersetzung der Kommission. Die Chancen, dass sich die Iren jetzt durchsetzen werden, sind jedoch eher gering. Denn schon heute lähmt der linguistische Wirrwarr die Brüsseler Institutionen. Oft werden deswegen Entscheidungen vertagt – oder gar nicht gefällt. Um Eifersüchteleien zu vermeiden, hatten die Gründungsstaaten der Gemeinschaft 1952 festgelegt, dass alle Nationalsprachen zu Amtssprachen wurden. Bei sechs Ländern und vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und Niederländisch) war das damals leicht durchzuhalten. Doch mit der Osterweiterung hat sich die Zahl der Amtssprachen mittlerweile auf 20 erhöht, selbst Maltesisch, gesprochen von nur 300.000 Menschen, gehört dazu. Übersetzungsengpass Die rund 1300 Übersetzer der EU-Kommission kommen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach. Zum 1. Mai waren 60.000 Seiten amtlicher Dokumente noch nicht übersetzt, bis Anfang kommenden Jahres wird der Rückstand der Kommission nach internen Schätzungen auf 230.000 Seiten anschwellen, die Marke von 300.000 Seiten spätestens 2006 überschritten. Dabei werden interne Unterlagen ohnehin nur in die drei Arbeitssprachen Englisch, Französisch und Deutsch übertragen. Schuld sind auch die Kommissionsbeamten, die sich darin gefallen, immer neue Dokumente zu produzieren. Seit 1999 ist der Umfang an Übersetzungen Jahr für Jahr um über fünf Prozent gestiegen. Um die Papierflut einzudämmen, wurde die Länge von Dokumenten begrenzt. Beamte murren, dass eine Mitteilung der Kommission nun nicht mehr als 15 Seiten umfassen darf. Trotzdem gefährdet der Übersetzungsengpass das Funktionieren der Union. So kann der europäische Ministerrat derzeit nicht über die Eigenkapitalrichtlinie Basel II entscheiden, weil sie noch nicht in alle Sprachen übersetzt ist. Gleichzeitig findet die um ihre Außenwirkung besorgte Kommission Pressemitteilungen so wichtig, dass sie brav abgearbeitet werden – auch wenn sie mit zehn Monaten Verspätung veröffentlicht werden.

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