Schwerindustrie Wie eine Kokerei nach China auswandert

Ein Wahrzeichen deutscher Industrie geht auf die Reise. In Dortmund zerlegen 300 Chinesen eine der modernsten Kokereien der Welt und verschiffen sie in ihre Heimat.

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Dirk Krüll für die WirtschaftsWoche

Dem Leben in Deutschland kann Chang Yang nicht viel abgewinnen. „Sonntags, wenn ich frei habe, ist hier alles geschlossen“, beschwert sich der 46-jährige Chinese über die deutschen Ladenschlusszeiten, während seine schwieligen Hände einen fast 40 Kilo schweren Eisenträger auf einer Holzpalette in Position bringen. Gerne würde Chang an seinem freien Tag einmal durch die Kaufhäuser ziehen und nach Mitbringseln für die Familie schauen. So aber vertreibt er sich die freie Zeit mit Karten spielen oder sitzt vor dem Fernsehapparat und schaut das chinesische Programm, das eine digitale Satellitenanlage aus der Heimat in die gelben Wohncontainer am Rande von Dortmund schickt.

______________________ In der WirtschaftsWoche Nr. 1/2 2004: Große Fotoreportage zur Zerlegung der Kokerei in Dortmund. Kennen Sie schon das Miniabo? ______________________

Doch trotz der widrigen Umstände würden Chang und die meisten seiner fast 300 Kollegen aus China den Job in Dortmund immer wieder annehmen. Mit 400 Euro im Monat verdienen die Arbeiter doppelt so viel wie in China. Wichtiger als der Lohn ist ihnen aber die Aufgabe: „Wann zerlegt man schon mal eine komplette Kokerei, verpackt sie und schickt sie auf eine mehr als 10 000 Kilometer lange Reise nach China?“, lacht Chang. Fünf Jahre Bauzeit Wenn der Einsatz der Chinesen in Dortmund Ende 2004 beendet ist, werden sie einen Koloss aus fast 50 000 Tonnen Stahl auseinandergeschweißt und -geschraubt, jede Strebe, jeden Stahlträger nummeriert, verpackt und verladen haben. Wenn dann der letzte Lkw vom Gelände der Dortmunder Westfalenhütte gerollt ist und die letzten Teile zum Rotterdamer Hafen fährt, werden dort, wo einst der Puls des Ruhrgebietes schlug, wo Tag und Nacht Schlote rauchten und Hochöfen glühten, nur noch ein paar rostige Schilder an das frühere Zentrum der deutschen Kohle- und Stahlindustrie erinnern – mit der Kokerei Kaiserstuhl verschwindet das letzte Relikt des Montanzeitalters an der Ruhr. Dabei hatte die Deutsche Steinkohle (DSK), Tochter des RAG-Konzerns, große Pläne, als sie nach fünfjähriger Bauzeit im Dezember 1992 die Kokerei in Betrieb nahm. Das 650 Millionen Euro teure Monstrum, die modernste Anlage ihrer Art der Welt, sollte das benachbarte Stahlwerk der damaligen Hoesch AG für viele Jahre mit Koks für die Stahlerzeugung versorgen. Die Rohkohle, die in den 120 Öfen der Anlage unter Luftabschluss erhitzt und in Koks verwandelt wurde, lieferte die benachbarte Zeche Heinrich Robert. Allein 160 Millionen Euro gab die DSK für Umweltschutzmaßnahmen aus und machte die Kokerei damit zur umweltfreundlichsten in Europa. Von einem „Schmuckstück, das eigentlich viel zu schade zum Verschrotten ist“, spricht darum DSK-Vertreter Udo Kath noch heute. Doch die Stilllegung des Kaiserstuhls – von manchen Experten als die größte Fehlinvestition in der Geschichte der DSK bezeichnet – ist unausweichlich. In den meisten Teilen des Reviers ist die Zeit von Kohle und Stahl endgültig vorbei. Allein in Dortmund verloren in den vergangenen 20 Jahren rund 80 000 Arbeiter in der Kohle- und Stahlindustrie ihre Jobs. Mehrere Chinesen meldeten Interesse an Den entscheidenden Ausschlag zur Abwicklung der Kokerei Kaiserstuhl brachte schließlich der Zusammenschluss von Thyssen und Krupp Ende der Neunzigerjahre. Zuvor hatte Krupp bereits den Hoesch-Konzern geschluckt. Der neu geschaffene Stahlriese ThyssenKrupp Stahl beschloss, seine Produktion in Duisburg zu konzentrieren. Schließlich entschieden die DSK-Manager 1999, die Kokerei Ende 2000 stillzulegen. Etwa 450 Arbeiter verloren ihre Jobs oder wurden auf andere Standorte der DSK verteilt. Da schlägt die Stunde von Luan Wei. Als im Frühjahr 2002 der Versuch der DSK scheitert, die Kokerei auf eigene Faust in China zu verkaufen, bringt der 44-jährige Unternehmer aus der Provinz Shandong sein in Bochum ansässiges Handelshaus Famous Industrial in Stellung. Der enorme Stahlbedarf im boomenden Riesenreich und seine guten Verbindungen in die Heimat, so Luans Kalkül, sollten es ihm leicht machen, die Anlage an ein chinesisches Unternehmen zu verkaufen. Bei der DSK registriert man Luans Vorstoß zunächst mit mehr oder weniger unverhohlenem Gelächter. „Wenn wir es schon nicht geschafft haben“, heißt es bei der RAG-Tochter, „wird der das Ding doch niemals los.“ Umso größer ist das Erstaunen der DSK-Manager, als noch mehrere andere Chinesen Interesse am Kaiserstuhl anmelden. Unter den Bietern befindet sich auch Shagang, die Firma, die 2001 von ThyssenKrupp das benachbarte frühere Hoesch-Stahlwerk gekauft, abgebaut und nach China verschifft hatte.

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