Es war der weltweit erste dokumentierte Hinweis auf Abgasmanipulationen, wie sie 2015 bei Volkswagen aufflogen: 2012 beschrieb ein Topmanager eines deutschen Autozulieferers in einem Brief an die Kommission die Betrugsmethode, kurz danach informierte er den damaligen Industriekommissar Antonio Tajani im persönlichen Gespräch über Manipulationen von Stickoxidwerten. Hier die wichtigsten Fakten zu der Enthüllung der WirtschaftsWoche.
Wann schrieb der Manager den Brief an die Kommission?
Am 3. Juli 2012.
Was steht in dem Brief?
Der Brief ist bislang weltweit der frühste Hinweis auf Manipulationen bei Abgasmessungen, wie sie drei Jahre später bei Volkswagen aufflogen. Erst seit dem VW-Skandal ist bekannt, dass es Software in der Motorsteuerung gibt, die automatisch erkennt, ob sich ein Auto in einem Zulassungstest befindet. Die Software sorgt dann dafür, dass die Abgasanlage auf Hochtouren läuft und die Abgase unterhalb der Grenzwerte liegen. Später, in Normalbetrieb auf der Straße, ist die Abgasanlage jedoch teilweise deaktiviert.
Der Brief beschreibt explizit die Tatsache, dass Software von Autos den Zulassungstest („Homologation Cycle Test“) automatisch erkennt, dass im Normalbetrieb auf der Straße Technik dann jedoch bewusst deaktiviert wird, weil sie für den Dauerbetrieb nicht geeignet ist. Der Autor nennt die Manipulationen „Cycle Beating“ – den Testzyklus austricksen.
Was steht nicht in dem Brief?
Der Brief beschreibt die Manipulationsmethode. Der Zulieferer nennt keine einzelnen Autohersteller. Explizit nennt er aber den „Homologation cycle test“, bei dem die Schadstoffemissionen von Autos im Rahmen des Zulassungsverfahrens offiziell ermittelt werden.
Wurde die Kommission auch explizit über Manipulationen bei Stickoxid (NOx) und Kohlendioxid (CO2) informiert?
Ja. Der Brief diente der Vorbereitung eines Treffens am folgenden Tag in einem Straßburger Büro der EU-Kommission. Bei dem Treffen am 4. Juli 2012 um 11 Uhr waren der Verfasser des Briefs, der damalige Industriekommissar Tajani, der damalige Europaabgeordnete Magdi Allam aus Italien sowie drei Mitarbeiter von Tajani aus der EU-Kommission anwesend. Der Verfasser des Briefes erklärte die Manipulationsmethode nochmals und erwähnte in dem Zusammenhang explizit die Manipulation von Stickoxid- und Kohlendioxid-Werten bei den offiziellen Zulassungstests. Er warnte eindringlich, dass die Kommission gegen diese Manipulationen vorgehen müsse, weil ansonsten die gesamten Bemühungen der EU, den Straßenverkehr weniger umwelt- und gesundheitsschädlich zu machen, diskreditiert würden.
Hat Tajani nach dem Treffen eine Untersuchung der schweren Vorwürfe eingeleitet?
Nein. Er hat in einem Schreiben an die Verkehrsminister der EU-Mitgliedsstaaten mit Datum 25. Juli 2012 sehr allgemein dazu aufgefordert im Automobilbereich die Marktüberwachung zu verbessern. Den Verdacht der Manipulation bei Zulassungsverfahren erwähnte er nicht. Der Manager des Zulieferers versuchte danach mehrfach vergeblich, wieder mit der Kommission über die möglichen Betrügereien bei Zulassungsverfahren ins Gespräch zu kommen.
Der VW-Abgas-Skandal im Überblick
Die US-Umweltbehörde EPA teilt in Washington mit, Volkswagen habe eine spezielle Software eingesetzt, um die Messung des Schadstoffausstoßes bei Abgastests zu manipulieren. In den Tagen darauf wird klar, dass weltweit Fahrzeuge von VW und der Töchter betroffen sind – darunter auch Audi und Porsche. Die VW-Aktie bricht ein.
VW-Chef Martin Winterkorn tritt nach einer Krisensitzung der obersten Aufseher zurück. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen VW. Anlass dafür seien auch eingegangene Strafanzeigen von Bürgern, heißt es.
Der VW-Aufsichtsrat tagt. Nach langer Sitzung beruft das Gremium Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Konzernchef und trifft einige weitere Personal- und Strukturentscheidungen. Verantwortliche Motorenentwickler werden beurlaubt.
Nach mehreren Strafanzeigen startet die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsvorwürfen. Entgegen einer ersten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braunschweig gibt es keine Ermittlungen gegen Ex-Chef Martin Winterkorn persönlich.
Das Aufsichtsrats-Präsidium beschließt, Hans Dieter Pötsch per registergerichtlichen Anordnung in den Aufsichtsrat zu berufen. Das ist möglich, weil mehr als 25 Prozent der Aktionäre Pötsch favorisiert haben. Die Familien Porsche und Piëch, die Pötsch gegen die Bedenken des Landes Niedersachsens und der Arbeitnehmer durchgesetzt haben, halten über die Porsche SE rund 52 Prozent der VW-Anteile. Julia Kuhn-Piëch, die erst dieses Jahr nach dem Rücktritt von Ferdinand und Ursula Piëch in das Kontrollgremium aufgerückt war, verlässt den Aufsichtsrat wieder.
Es ist klar, dass die betroffenen VW-Fahrzeuge in die Werkstatt müssen, damit die Schummel-Software verschwindet. Bei einigen Motorenwerden die Techniker selbst Hand anlegen müssen. Eine Rückruf-Aktion, so wird es am nächsten Tag bekannt werden, soll 2016 starten. Die geschäftlichen und finanziellen Folgender Krise sind nicht absehbar. Die Kosten der Abgas-Affäre werden jedoch enorm sein. Der neue Chef muss sparen: "Deshalbstellen wir jetzt alle geplantenInvestitionen nochmal auf denPrüfstand", kündigt Müller an.
Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ordnet einen verpflichtenden Rückruf aller VW-Dieselautos mit der Betrugssoftware an. In ganz Europa müssen 8,5 Millionen, in Deutschland 2,4 Millionen Wagen in die Werkstatt. VW hatte eine freiwillige Lösung angestrebt.
Der Skandal beschert dem Konzern im dritten Quartal einen Milliardenverlust. Vor Zinsen und Steuern beläuft sich das Minus auf rund 3,5 Milliarden Euro.
Der Skandal erreicht eine neue Dimension. VW muss - nach weiteren Ermittlungen der US-Behörden - einräumen, dass es auch Unregelmäßigkeiten beim Kohlendioxid-Ausstoß (CO2) gibt. Rund 800.000 Fahrzeuge könnten betroffen sein. Die VW-Aktie geht erneut auf Talfahrt.
Der Diesel-Skandal in den USA weitet sich aus. Erneut. Es seien mehr Drei-Liter-Diesel der Marken Volkswagen und Audi betroffen, als bislang angenommen, erklärt die US-Umweltbehörde EPA. Die Autobauer bestreiten dies zunächst. Wenige Tage später, am 24. November, müssen sie allerdings einräumen, ein sogenanntes „Defeat Device“ nicht offengelegt zu haben. Die Software gilt in den USA als illegal.
Die Auswirkungen des Skandal zwingen VW zudem zum Sparen: VW fährt die Investitionen für das kommende Jahr runter. 2016 sollen die Sachinvestitionen um eine Milliarde Euro verringert werden. „Wir fahren in den kommenden Monaten auf Sicht“, sagt VW-Chef Müller. Weitere Ausgaben bleiben auf dem Prüfstand.
Neuer Ärger für Volkswagen: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nun auch wegen mögliche Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit falschen CO2-Angaben. Die könnten dazu geführt haben, dass zu wenig Kfz-Steuer gezahlt wurde.
Zumindest etwas Positives für die Wolfsburger: Zur Nachrüstung der millionenfach manipulierten Dieselmotoren mit 1,6 Litern Hubraum in Europa reicht nach Angaben von Volkswagen ein zusätzliches, wenige Euro teures Bauteil aus. Bei den 2,0-Liter-Motoren genügt ein Software-Update. Das Kraftfahrtbundesamt genehmigt die Maßnahmen. Auch wenn VW keine Angaben zu den Kosten macht – es hätte schlimmer kommen können.
Was sagt die EU-Kommission über den Vorgang?
Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte gegenüber der WirtschaftsWoche, dass es in dem Brief um eine Reifentechnologie gehe. Tatsächlich wird im vorletzten Absatz des Briefes eine Reifentechnologie beispielhaft und nur kurz erwähnt. Der restliche Brief behandelt andere Aspekte. Kern des Briefes ist der hier veröffentlichte Auszug. Über das Treffen am 4. Juli 2013 oder eine mögliche Reaktion des damaligen Industriekommissars hat sich die Kommission bislang nicht geäußert.
Was sagen andere Teilnehmer des Treffens am 4. Juli 2012?
Tajani warf der WirtschaftsWoche am Mittwoch per Twitter-Nachricht vor, zu lügen. Es sei bei dem Treffen um Reifen gegangen, nicht etwa um VW. Als Beleg twitterte er den Brief, der auch der WirtschaftsWoche vorliegt und der hier veröffentlicht ist.
Tajanis Verteidigungsstrategie ist verwunderlich: Er bezieht sich nur auf den letzten Absatz des Briefes, in dem es um eine Reifentechnologie geht. Den Rest des Briefes, in dem die Methode genau beschrieben ist, mit der VW bei Abgasmessungen betrog, ignoriert Tajani dagegen. Nach Hinweisen auf einen derart schwerwiegenden Betrug beim Emissionstest hätte er eine Untersuchung einleiten müssen. Tajanis Verweis auf das Reifenthema ist zudem als Ausrede ungeeignet. Der Autor des Briefes schreibt, dass das Reifenthema „ein klares Beispiel“ für Manipulationen bei den Zulassungstests sei. Auch bei den Reifen geht es also um einen Betrug bei Emissionswerten, dem der Kommissar hätte nachgehen müssen.
Ein weiterer Teilnehmer des Treffens war der frühere Europaabgeordnete Magdi Allam. Von der WirtschaftsWoche auf das Treffen angesprochen, erklärte er, dass er sich an das Treffen erinnere, aber nicht, was gesprochen wurde. „Ich erinnere mich an nichts, ich weiß nicht was das Thema des Treffens war“, so Allam. „Ich habe auch nicht verstanden, was gesprochen wurde, weil es nicht um Themen ging, mit denen ich mich sonst befasse. Ich habe nur zwei Freunde in Kontakt gebracht, mehr nicht.“
Wann hat die Kommission nach eigener Auffassung von Manipulationen erfahren, wie sie bei VW vorkamen?
Die amtierende Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska erklärte im Oktober vor dem EU-Parlament, die Kommission habe erstmals 2014 von den Manipulationen erfahren.
Wie geht es jetzt weiter?
Zahlreiche Mitglieder des Europaparlaments fordern nach diesen Enthüllungen nun einen Untersuchungsausschuss zu der Rolle der EU-Kommission im VW-Skandal. Über 140 der nötigen Unterschriften sind bereits zusammengekommen. Die sozialdemokratische Fraktion hat am Dienstagabend offiziell beschlossen, einen Untersuchungsausschuss zu unterstützen. Die endgültige Entscheidung über die Einsetzung wird aber erst für kommenden Mittwoch erwartet.