Beste Fabrik Europas BMW-Werk in Leipzig ausgezeichnet

Beim europäischen „Industriell Excellence Award“ traten die Landessieger aus Frankreich, Spanien und Deutschland gegeneinander an. Warum das Leipziger BMW-Werk die Jury überzeugte.

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Milan Nedeljkovic, Leiter des BMW-Werk in Leipzig Quelle: Presse

Mal nahmen sie sich zu wenige aus dem Regal, mal zu viele, mal die falschen. Mal drückten sie sie nicht richtig in die vorgestanzten Löcher. Und manchmal landeten ein paar von ihnen gar lose im Innenraum: Meister, wir haben ein Problem - das wurde Jan Müller schnell klar, als sich die Fehlermeldungen an Abschnitt 20 des BMW-Werks Leipzig häuften. Dort, wo Bandarbeiter die bereits lackierte Karosserie mit Gummistopfen in Größen zwischen 17 und 20 Millimeter Durchmesser abdichten sollen. Denn jedes zehnte Auto, das dort im Juni 2012 für 76 Sekunden zum Stehen kam, verließ die Station mit einem Fehler, der nachher mühsam beseitigt werden musste. Also entwickelte Karosseriemontagemeister Müller mit seinem Team innerhalb von vier Tagen ein neues System. Stellte einen Arbeiter ab, der Menge und Art der Gummistopfen für die Kollegen für jedes Modell mithilfe einer Schablone passgenau vorportionierte - je nachdem, ob gerade der X1 oder der 1er als Coupé, Cabrio oder als 5-Türer bestückt werden sollte. Doch die Fehlerquote blieb auch in den beiden Wochen danach hoch, war Thema in den täglichen Fünf-Minuten-Gesprächen mit den Vorarbeitern vor Schichtbeginn. Und fand unerbittlichen Niederschlag in den Produktionsprotokollen, die zu Meister Müllers täglicher Pflichtlektüre zählen.

"Wir mussten gegensteuern", erinnert sich der 49-Jährige, der ein Team von 35 Mitarbeitern führt. Also rief er bei Annett Böttcher an. Die Maschinenbautechnikerin wird immer dann "von den Meistern gerufen, wenn nix mehr geht". Sie ist Mitglied des sogenannten Poka-Yoke-Teams, einer Art mobiler Eingreifreserve, benannt nach der japanischen Managementmethode, die wörtlich für "unbeabsichtigte Fehler vermeiden" steht.

In einem dreitägigen Workshop entwickelte Böttcher mit mehreren Kollegen schließlich des Rätsels Lösung: einen mit Lichtdioden gesteuerten Materialwagen mit vier Knöpfen, einen für jede zu bestückende Modellvariante. Drückt ein Bandarbeiter auf den entsprechenden Knopf, leuchten genau die Fächer auf, in denen die benötigten Gummistopfen liegen.

Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten: Der für die Vorkommissionierung abgestellte Kollege steht längst wieder am Band, acht Wochen später ist die Fehlerquote um 70 Prozent reduziert, heute machen Bandarbeiter nur noch bei jedem 100. Fahrzeug einen Fehler und erledigen die Aufgabe außerdem zehn Prozent schneller als vorher.

Der Anspruch nach ständigem Fortschritt stachelt den Einfallsreichtum der 3200 Mitarbeiter an, die in dem im März 2005 eröffneten Werk vor den Toren der Sachsenmetropole derzeit alle 76 Sekunden einen neuen BMW produzieren, deren Karosserien für alle Mitarbeiter und Besucher sichtbar durchs Zentralgebäude transportiert werden. Nach Einzelbüros sucht man in dem futuristischen Betonbau vergebens. Sogar der neue Werksleiter Milan Nedeljkovic sitzt wie sein Vorgänger inmitten seiner Kollegen. Obwohl er am Anfang skeptisch war, ob er hier genügend Ruhe zum Arbeiten finden würde, ist er nun vom Konzept überzeugt. „Das erhöht die Nahbarkeit. Die Mitarbeiter können so leichter auf mich zuzukommen“, sagt der 44-Jährige, der am 1. November offiziell die Geschäfte von seinem Vorgänger übernimmt. Seit gut drei Jahren ist Nedeljkovic hier im Werk, vor seiner Beförderung war er Montageleiter. Er weiß, wie viel Wert hier auf die Integration der Mitarbeiter in den Verbesserungsprozess gelegt wird.

Bestnoten in allen Kategorien

11.000 Ideen in gut 160 Workshops entwickeln die Kollegen hier pro Jahr, um Geschwindigkeit und Qualität der Produktion immer weiter zu verbessern - vom Entwickeln von Farbcodes bis hin zur Reduzierung von Rüstzeiten bei Werkzeugwechseln in der werkseigenen Presse, die anhand eigens gebauter Legomodelle durchgespielt werden. Und damit bis zu fünf Mal schneller sind als ihre Wettbewerber.

90 Prozent dieser Vorschläge werden umgesetzt, die meisten davon innerhalb einer Woche. Lohn der Mühe: In der Pannenstatistik des ADAC siegte der X1 in der Kategorie Untere Mittelklasse. Nicht zuletzt deshalb gilt der Standort Leipzig als eines der besten Werke im BMW-Konzern.

"Wie hier Mitarbeiter in Eigenverantwortung Fehler umgehend und dauerhaft beseitigen, hat uns sehr beeindruckt", sagt Arnd Huchzermeier, Professor für Produktionsmanagement an der privaten Hochschule WHU - Otto Beisheim School of Management sowie Jurymitglied beim Wettbewerb "Die Beste Fabrik". "Die Strategie des Werks wird regelmäßig hinterfragt, dabei werden die Anregungen aller Mitarbeiter konsequent und zum Nutzen des Unternehmens einbezogen."

Grund genug für die Juroren, Werksleiter Nedeljkovic und sein Team zu Europas bester Fabrik zu küren. Schon im Mai hatte der Standort die nationale Ausscheidung gewonnen. Im europäischen Wettbewerb traf das sächsische Werk auf Konkurrenz aus Spanien und Frankreich. Zur Wahl standen das französische Werk des Spezialisten für Messtechnik Itron in Mâcon, das französische Unternehmen Stiplastics, das Pharmaverpackungen herstellt und die spanische Kooperative Orkli. Sie produziert Zubehör Heizungen und die Warmwasserversorgung.

Die Konferenz, an deren Ende die Preisverleihung stand, fand diesmal in Leipzig statt. Der Wettbewerb wurde von der WirtschaftsWoche in Zusammenarbeit mit den Managementschulen WHU, Insead, IESE und der Judge Business School veranstaltet.

Der Einfallsreichtum der Mitarbeiter und die gekonnte Umsetzung der Strategie durch die gesamte Belegschaft aber war nicht der einzige Grund, der die Juroren vom Sieg der BMWler in Leipzig überzeugte: Das Werk bekam Bestnoten in letztlich allen Kategorien, die die Jury bewertete - vom Geschäftsmodell über die Wertschöpfungskette, die Produkt- und Prozessentwicklung bis hin zu Service und Kundenintegration.

Der Automobilbauer belegt so die zentrale Bedeutung industrieller Fertigung für einen gesunden Wirtschaftsstandort. "Wurde die Industrie noch vor einigen Jahren in Europa als Auslaufmodell belächelt, ist sie heute wieder als wichtiger Wachstumsfaktor anerkannt", heißt es beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

In Deutschland macht das verarbeitende Gewerbe mehr als ein Viertel der Bruttowertschöpfung aus und trägt damit erheblich zur vergleichsweise stabilen Situation in Deutschland bei. Sowohl der Export als auch die immer noch niedrigen Arbeitslosenzahlen gründen auf der starken Industrie. Laut Bundesamt für Statistik arbeiteten im Juli 2013 mehr als fünf Millionen Menschen im verarbeitenden Gewerbe. Auch der Ausblick gibt Grund zur Hoffnung. Erhielten die deutschen Industrieunternehmen im Juni 2013 doch 4,8 Prozent mehr Aufträge als noch einen Monat zuvor.

Wachstum ohne Selbstzweck

So wird der BMW i3 produziert
BMW i3 startet in die Serienproduktion: Ab heute rollen am Standort Leipzig die Produktionsbänder für den Elektro-Kleinwagen i3 an. Das Produktionsnetz für BMWs i-Modelle umfasst außerdem Standorte in Moses Lake (Washington, USA), Wackersdorf, Landshut und Dingolfing, an denen die wesentlichen Komponenten für den BMW i3 hergestellt werden. Für die i3-Fertigung wurde allein das Leipziger Werk für rund 400 Millionen Euro erweitert und 800 neue Arbeitsplätze geschaffen. Quelle: Presse
Erfolgsrezept des i3 soll ein "ganzheitlicher" Entwicklungsansatz, etwa zur Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs sein. So besteht beispielsweise die gesamte Außenhaut des i3 aus einem carbonfaserverstärkten Kunststoff (CFK), der erstmalig in der Automobilindustrie in Großserie verwendet wird und den Elektroflitzer zum absoluten Leichtgewicht macht. Durch Verwendung der ultraleichten Kohlefaser kann das Mehrgewicht der Batterie für den elektrischen Antrieb kompensiert werden. Quelle: Presse
Der Elektroantrieb und der Energiespeicher des i3 werden ebenfalls im Produktionsnetzwerk der BMW Group entwickelt und im Werk Landshut bzw. Dingolfing produziert. Quelle: Presse
Der Motor des BMW i3 verfügt über eine Leistung von 125 kW/170 PS, der Lithium-Ionen-Hochvoltspeicher über eine Reichweite von 130 bis 160 Kilometern. Maximal rennt der i3 elektronisch begrenzte 150 km/h - in erster Linie aus Stromspargründen. Gegen Aufpreis übernimmt ein kleiner Verbrennungsmotor die Funktion eines Range Extenders. Mit dem Benziner kann die Reichweite auf bis zu 300 Kilometer ausgedehnt werden. Quelle: Presse
Die "Hochzeit": In der Montagehalle erhält der i3 alle kundenspezifischen Ausstattungswünsche, bevor die ultraleichte CFK-Fahrgastzelle mit dem Elektromotor des i3 eine Verbindung fürs Leben eingehen. Die Außenhülle aus Kohlefaser wird dazu mit der Aluminium-Chassis des Motors verklebt und verschraubt statt verschweißt. Quelle: Presse
Bislang galt Karbon eher als ungeeignet für Großserien, da es teuer und schwer zu verarbeiten ist. BMW wagt nun erstmals die Serienproduktion mit dem Wunderstoff. Nach ersten Erfahrungen liegt die Produktionszeit des i3 deutlich unter der bisheriger Serienmodelle, da sich Karbon deutlich leichter lackieren lässt und nur geklebt statt geschweißt werden muss. Diese Zeitersparnis im Fertigungsprozess macht den Einsatz von Karbon im Automobilbau letztlich wirtschaftlich. Quelle: Presse
Das Finish: Neben der Fertigung des Elektrofahrzeuges laufen in Leipzig auch Modelle mit Verbrennungsmotor vom Band. Quelle: Presse

Auch bei BMW in Leipzig stehen die Zeichen auf Wachstum: 740 neu produzierte Fahrzeuge verlassen derzeit täglich das Werk - mehr geht nicht. Seit 2009 ist die Produktionszeit laut Harbour Report der Managementberatung Oliver Wyman von 27,1 auf 26,3 Stunden pro Fahrzeug gesunken, alleine die Zeit fürs Lackieren reduzierte sich bis 2011 um 35 Prozent, die Montage geht um 40 Prozent schneller.

Dazu trägt auch die jährliche Optimierung aller Prozessschritte innerhalb der Wertschöpfungskette bei: Zwischen zwei und vier Zulieferer sind mit Mitarbeitern direkt auf dem Werksgelände vor Ort, die benötigten Teile werden über kurze Wege direkt ans Band geliefert, die Zahl der Produktionsschritte über die Jahre kontinuierlich gesenkt. Das macht auch flexibel: Bis zu sechs Tage vor Beginn der Montage ihres Wagens können Kunden noch spezifische Wünsche äußern. In den Augen von Jurymitglied Huchzermeier "vorbildlich".

Dass Wachstum für BMW in Leipzig kein Selbstzweck ist, wird schon deutlich, wenn man auf das Werksgelände zufährt. Bereits von Weitem sieht man die vier Windräder, die seit April 2013 bei einem Rotordurchmesser von 100 Metern insgesamt 190 Meter in den Himmel ragen und in diesen Tagen in Betrieb genommen werden sollen. Jeder der Großrotoren hat eine Leistung von 2,5 Megawatt, mit 26 Gigawattstunden Strom werden sie jedes Jahr mehr Energie liefern, als das Werk für die Fertigung der Elektro-Carbon-Modelle verbraucht, die dort seit Mitte September vom Band laufen. „Nachhaltigkeit ist ein Kernelement unserer Philosophie“, sagt Nedeljkovic. Für die Produktion des i3 benötige BMW 70 Prozent weniger Wasser und 50 Prozent weniger Energie als bisher in der klassischen Produktion.

Doch nicht nur der Start ins Elektromobilzeitalter steht bei den Sachsen für das Streben nach nachhaltigem Wirtschaften: 70 Millionen Euro steckte der Konzern in eine zweite Pressenstraße, die Anfang April in Betrieb ging. Mit bis zu 17 Hüben pro Minute verarbeitet sie Stahl nicht nur in Rekordzeit, sondern kann auch sehr flexibel auf Kundenwünsche reagieren. Weil künftig alle am Standort benötigten Pressteile vor Ort hergestellt und direkt in der Karosserieproduktion angeliefert werden können, entfallen nach Konzernangaben außerdem Lkw-Transporte auf einer Strecke von jährlich mindestens zwei Millionen Kilometern. Flächenbedarf, Energieverbrauch und Lärmemission sinken ebenfalls drastisch. "Nur wer Ressourcen spart und CO 2 - Emissionen reduziert, ist zukünftigen Herausforderungen gewachsen", sagt auch Huchzermeier, Professor für Produktionsmanagement an der WHU.

Doch Nachhaltigkeit ist nur eine der Herausforderungen unserer Zeit. Der demografische Wandel bereitet ebenfalls vielen Unternehmen Probleme. Beim Aufbau des Werks in Leipzig hat man gleich auf eine gute Mischung der verschiedenen Altersklassen gesetzt. Die natürliche Fluktuation und ergonomische Arbeitsplätze waren dort also von Beginn an ein Thema. Zum Beispiel werden die Autos auf dem Band so hochgepumpt, das lästiges Bücken nicht nötig ist. „Aber darauf können wir uns nicht ausruhen“, sagt Nedeljkovic. In regelmäßigen Abständen schauen sich Ärzte die Gegebenheiten im Werk an. „Anhand der Ergebnisse verbessern wir die Arbeitsbedingungen ständig.“

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