Aus Klaus Schmidt sprudelt es nur so heraus. Wenn der 57-Jährige spricht, dann grinst er, bewegt Arme und Beine und rutscht auf dem Stuhl, also wolle er sich von den Massen draußen vor seinem Büro mitreißen lassen. Wie ein mächtiger Strom ergießen sich die Menschen und Autos zwischen die Wolkenkratzer des Businessviertels Lujiazui in Shanghai. Mittendrin, gegenüber dem futuristischen Wahrzeichen der 15-Millionen-Einwohner-Stadt, dem Pearl Tower, prangt ein riesiges Plakat und auf diesem ein Auto.
Es ist der Qoros 3.
Noch nie wurden einem Pkw aus chinesischer Fabrikation auf dem Weltmarkt solche Chancen eingeräumt wie der Limousine mit dem seltsamen Kunstnamen. Stets haperte es bei Autos made in China am Design und an der Sicherheit. Doch beim Qoros ist alles anders. Vom 6. bis zum 16. März ist das Fahrzeug das große Thema auf dem Auto-Salon 2014 in Genf. 2015 soll der Qoros in Deutschland auf den Markt kommen und bekannten Kompaktwagen wie dem VW Golf, dem Opel Astra oder der A-Klasse von Mercedes Konkurrenz machen.
Pionier statt Rentner
Schmidt kann sich vor Energie kaum auf seinem Stuhl halten. Er ist einer derjenigen, die den Qoros 3 bauen. 30 Jahre hatte der gelernte Ingenieur erfolgreich für BMW die M-Serie mit entwickelt. Eigentlich hätte er sich langsam auf den Ruhestand vorbereiten können, mit einem ordentlichen Gehalt, viel Freizeit und umgeben von angenehmen alten Kollegen.
Doch dann erhielt Schmidt 2010 das Angebot, in Shanghai ein ganz neues Auto zu bauen; ein Auto, von dem niemand wusste, ob es jemals wirklich das Werk verlassen würde; für ein Unternehmen, das 2007 von einem ehemals staatlichen israelischen Chemie-, Energie-, Schiffbau- und Logistikkonzern namens Israel Corporation und dem chinesischen Autobauer Cherry gegründet wurde und dessen Namen auch innerhalb Chinas kaum einer kannte; mit einer Belegschaft, die aus allen Teilen der Welt zusammengekauft wurde; und mit einer Führungscrew, deren Mitglieder einst bei den erlesensten Adressen der globalen Autoindustrie und damit den künftigen Konkurrenten von Qoros arbeiteten.
„Wir sind Pioniere, wir konnten hier ein weißes Blatt Papier beschreiben“, sagt Ex-BMW-Manager Schmidt, der heute die Fahrzeugentwicklung von Qoros leitet.
Die Abtrünnigen
Wenn Schmidt „wir“ sagt, dann meint er nicht nur, aber auch die Gruppe der Top-Manager bei Qoros, die aus Sicht ihrer früheren Arbeitgeber Renegaten sind. So bezeichnen kommunistische Parteien die schlimmsten aus ihren Reihen, die Abtrünnigen.
Federführend und das Gesicht von Qoros ist ein 70-Jähriger: Volker Steinwascher, stellvertretender Vorsitzender des Unternehmens und ehemals in wichtiger Position bei Volkswagen. Steinwascher leitete das Amerika-Geschäft der Wolfsburger und hätte seinem ehemaligen Arbeitgeber gerne noch länger gedient. Doch er durfte nicht. Bis heute sieht er sich als „Opfer des Jugendwahns in deutschen Unternehmen“.
Seitdem Steinwascher für Qoros arbeitet, ist er für VW-Chef Martin Winterkorn, wohlwollend betrachtet, eine persona non grata, eine unerwünschte Person. Beim Genfer Auto-Salon vor einem Jahr soll es am Qoros-Stand zu einem „nicht netten Gespräch“ zwischen Winterkorn und seinem Ex-USA-Chef gekommen sein, berichten Beobachter.
Großer Handlungsspielraum
Steinwascher und Ex-BMW-Manager Schmidt bewegen sich meist unter ihresgleichen. An ihrer Seite arbeitet so manch anderer alter Autohase. Einer von ihnen ist der ehemalige Opel- und Volkswagen-Manager Friedrich Major. Der 63-Jährige leitet die Logistik und Produktion bei Qoros und stieß als einer der Ersten zu der chinesisch-israelischen Firma. „Nach meinem letzten Projekt bei Volkswagen in Wolfsburg wollte ich mich allmählich auf den Ruhestand in Südafrika einstimmen“, sagt Major.
Doch es kam anders. Ein Bekannter aus früheren Tagen fragte ihn, ob er Lust habe, das Projekt hier mitaufzubauen. Viel überlegte Major nicht, erinnert er sich. „Ich hatte seit Langem eine große Faszination für China.“ Also zog Major 2009 nach Shanghai.
Inzwischen schwärmt der Ex-VW-Manager von der Freiheit bei dem Autobauer auf der grünen Wiese. „Unsere Organisation ist nicht starr, viele Prozesse sind flexibel und noch nicht voll standardisiert“, sagt er. „Das gibt uns großen Handlungsspielraum.“
Platz für Neues
Auch Martin Meßler, heute 59 Jahre alt, hatte eigentlich begonnen, sich aufs Altenteil einzustellen. Nach einer Karriere beim Autobauer Ford mit mehreren Auslandsstationen wollte er es ein bisschen ruhiger angehen lassen. Es kam anders, denn er leitet jetzt die Produktionstechnik bei Qoros. „Für manche Kollegen und Freunde war mein Gang nach China befremdlich“, sagt Meßler.
Der Endfünfziger bereut seinen Schritt nicht im Geringsten. „Für mich war es das Beste, was mir passieren konnte.“ Das Umfeld in Europa habe er langsam als „destruktiv“ empfunden, weil es nur noch darum gegangen sei, bestehende Prozesse kostengünstiger und effizienter zu gestalten. „Für wirklich Neues ist kein Platz mehr“, sagt er.
Die Altersgrenze, hinter der viele an dolce far niente denken, hat auch Gert Volker Hildebrand gerade überschritten. Der 60-Jährige ist der Designchef von Qoros. In seinem früheren Berufsleben war er für Opel und VW tätig und entwarf für BMW unter anderem den ersten Mini der neuen Generation, der 2001 die Wiederbelebung der britischen Kultmarke einleitete.
Gemütlich hat es der hochgewachsene Freund feiner Maßanzüge bei seinem neuen Arbeitgeber nicht. Immer wieder muss er von Shanghai nach München fliegen, wo das europäische Designzentrum des Konzerns sitzt. Ihm bleibt nur, den Jetlag zu ignorieren. „Das geht nicht anders“, sagt Hildebrand. Die meisten seiner ehemaligen Kollegen haben sich in den Ruhestand verabschiedet. „Ich wollte aber weiterarbeiten“, meint er. Das Projekt Qoros habe zwei Sorten von Leuten angezogen: alte Haudegen, die es noch einmal wissen wollten – und Pioniertypen, die das Abenteuer reizt.
Angesteckt vom "China Bug"
Zu Hildebrands jüngeren Kollegen gehören Alexander Wortberg, Philipp Eberl und Christian Classon. Wortberg, gerade mal 40 Jahre alt, leitet die Produktion von Qoros. Classon, nur vier Jahre älter, hat den Karosseriebau im Werk in Changshu, eineinhalb Autostunden nördlich von Shanghai, unter sich. Und Eberl, mit 36 Jahren der jüngste der drei, verantwortet das Qoros-Designbüro in München.
Das Trio ließ sich vom „China-Bug“ anstecken, wie Infizierte die suchtartige Faszination des Landes nennen. Produktioner Wortberg hatte sich den Virus in Shenyang in Nordostchina eingefangen, wo er zweieinhalb Jahre für BMW arbeitete. Ihn begeistert der Vorwärtsdrang der Chinesen und ihre Bereitschaft, dafür Entbehrungen in Kauf zu nehmen. „Etwas, das ich in Deutschland eigentlich nicht kenne“, sagt er. Als er seinen Kollegen und Freunden von Qoros erzählte, hätten die mit Verwunderung reagiert. „Warum willst du weg aus München? Es ist doch wunderschön hier“, hätten die gesagt.
Eine Riesenchance
Wortberg räumt ein, dass es Abenteuerlust brauche, um in China etwas zu bewegen. Dafür werde man aber reich belohnt. „Bei Qoros ist das von vielen Firmen gewünschte ,Unternehmertum im Unternehmen‘ Realität“, sagt er. „Ideen werden hier sehr schnell umgesetzt, es gibt keine langen Gremiendurchläufe. Das fühlt sich unglaublich gesund an.“
Karosseriebauer Classon hatte bereits Auslandserfahrung in Europa und den USA, wo er für Ford arbeitete, zuletzt als Programmmanager für die Fertigung. Doch als er ankündigte, nach China gehen zu wollen, fragten ihn manche Kollegen, ob mit ihm etwas nicht stimme. „Aber ich wollte nicht mehr in einem reaktiven Umfeld arbeiten, in dem man bestimmt wird, anstatt etwas zu bestimmen“, sagt Classon. Für seinen Kollegen Eberl aus München war Qoros schlicht die Riesenchance. Wer schafft es im Alter von Mitte 30 schon an die Spitze eines Autodesignbüros?
Droge Innovation
Eberl, Steinwascher, Schmidt und Classon gehören bei Qoros zu einem internationalen Team mit insgesamt 138 nicht chinesischen Mitarbeitern. Davon sind 21 Deutsche. Sie bilden zusammen mit Schweden, von denen viele nach der Pleite des skandinavischen Autobauers Saab zu Qoros kamen, das größte Kontingent an Ausländern. Die Arbeitsbelastung der Zugereisten scheint enorm. Seitdem er bei Qoros sei, sagt Fahrzeugentwicklungschef Schmidt, habe er an kaum einem Tag weniger als zehn Stunden gearbeitet und zudem viele Wochenenden im Büro verbracht. „Das merke ich gar nicht“, sagt er, lacht wieder und zappelt auf seinem Stuhl.
Offenbar entfaltet die Droge, etwas Neues schaffen zu können, nicht nur auf den Ex-BMWler eine stimulierende Wirkung. „Das Team um Qoros ist hoch motiviert“, sagt Autoexperte Jochen Siebert von der Unternehmensberatung JSC in Shanghai. Die meisten von ihnen hatten bereits eine beeindruckende Karriere in der Autobranche hinter sich. Sie suchten die Möglichkeiten und Freiheiten, die sie bei der Entwicklung eines neuen Autos haben. „Bei ihren ehemaligen Arbeitgebern hätten sie sich auf das Rentnerdasein vorbereiten müssen.“
Dabei verdienen die internationalen Spezialisten nicht einmal besonders viel Geld in China. Für das Qoros-Werk in Changshu sollen sie nur etwa 70 bis 80 Prozent des Budgets gehabt haben, das etablierte Autokonzerne für ein solches Projekt veranschlagen. Insgesamt standen Qoros-Vizechef Steinwascher 2,57 Milliarden US-Dollar für den Bau einer Fabrik mit einer Kapazität von maximal 150 000 Autos pro Jahr zur Verfügung, knapp ein Sechstel des Ausstoßes von VW in Wolfsburg. Erst langfristig soll die Produktion auf 450 000 Wagen pro Jahr steigen. In den 2,57 Milliarden US-Dollar sind alle wichtigen Investitionen enthalten, vom Marketing über die Produktion bis zum Vertrieb.
Geld war nicht der Grund
Für die angeheuerten Ausländer ist Geld offenbar nicht alles. Die Bezahlung sei gut, heißt es, aber auf keinen Fall exorbitant. Rechne man die vielen Heimflüge und die höheren Lebenshaltungskosten in China mit ein, hätten manche bei ihrem alten Arbeitgebern ein besseres Auskommen gehabt – so man sie gelassen hätte.
Geld, sagt Klaus Schmidt, sei auch nicht der Grund gewesen, für dieses Projekt noch einmal die Ärmel hochzukrempeln. „Bei Qoros haben Freiheit und Möglichkeiten, etwas zu gestalten, die Motivation ausgemacht.“ Ein Glücksmoment für ihn war es, als der erste Prototyp aus dem Werk fuhr. China verlassen möchte Schmidt noch nicht. Er hat noch ein paar Ideen, die er gerne umsetzen möchte.
Qoros wird erstmals ernst genommen
Weltweite Aufmerksamkeit ist den Pionieren des zweiten Anlaufs jedenfalls sicher. Seitdem der Qoros 3 im September vergangenen Jahres beim Unfalltest Euro-NCAP in Europa die maximal erreichbaren fünf Sterne holte, wird das Projekt von der Konkurrenz ernst genommen.
Qoros ist der letzte Versuch Chinas, endlich einen international wettbewerbsfähigen Autobauer zu schaffen. Die drei Strategien, mit denen die Regierung dies in den vergangenen Jahrzehnten versuchte, gelten im Großen und Ganzen als gescheitert. Die erste Variante bestand aus Joint Ventures: Chinesische Autobauer sollten in Gemeinschaftsunternehmen mit westlichen Herstellern von erfahrenen Partnern lernen und sich nach und nach deren Know-how aneignen. Doch den zwangsverheirateten Westlern gelang es bisher gut, das Potenzial des gigantischen chinesischen Marktes zu nutzen, ohne dabei zu viel ihres Wissens preiszugeben.
Im zweiten Anlauf entschieden die Chinesen, gleich ganze Autobauer aus dem Westen zu kaufen. Ein Beispiel ist die Übernahme von Volvo durch Geely im August 2010. Aber auch dieser Weg führt nicht zu den gewünschten Resultaten. Zu unterschiedlich sind die Unternehmenskulturen und die jeweiligen Heimatmärkte. Drittens stattete der chinesische Staat einheimische Unternehmen mit sehr viel Geld aus, um sie auf Weltniveau zu hieven. Auch das führte nicht zu den gewünschten Ergebnissen. „Qoros ist der vierte Versuch“, sagt Berater Siebert. „Man kauft sich ein international erfahrenes Team, das ein wettbewerbsfähiges Auto entwickelt.“
Keine Korruption, keine Ineffizienz
Qoros hieß zunächst Chery Quantum Automotive. Ende 2011 entschieden sich die Eigentümer dann für den heutigen Namen, der dem altgriechischen Wort „Kronos“ für „Zeit“ ähnelt. Das soll der Marke ein besseres Entrée auf dem europäischen Markt sowie Internationalität vermitteln.
In seinem Innern ist das Multikulti-Unternehmen so weit von einem trägen, staatseigenen chinesischen Konzern entfernt wie der Jangtsekiang lang. Keine Korruption, keine Ineffizienz, keine Mitarbeiter, die sich scheuen, Verantwortung zu übernehmen: „Jeder von uns muss an irgendeiner Stelle mitanpacken, die vielleicht gar nicht in seinen Aufgabenbereich fällt“, sagt Karosseriebauer Classon. „Genau das schweißt das Team zusammen.“
Die größte Herausforderung war es, die vielen Nationen und fast ebenso vielen Unternehmenskulturen in einem Team zusammenzuführen. „Das Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen – Deutsche, Schweden, Amerikaner und natürlich Chinesen – macht den Reiz aus“, sagt der ehemalige VW- und Opel-Manager Major. „Manchmal ist das wie ein Zoo.“
Auch deswegen sei Qoros vielmehr ein internationales Unternehmen in China. Bis auf den Vorstandschef Guo Qian und den Finanzchef sind die Führungspositionen mit Ausländern besetzt. Als Konkurrenz für westliche Autobauer sieht sich keiner der Deutschen. „Wir wollen nur Autos bauen“, sagt Design-Chef Hildebrand.