Der Venice Beach in Los Angeles erfüllt alle Klischees: Die Sonne strahlt, der Sandstrand ist makellos sauber und die Surfer reiten die Wellen. Auf der Promenade flanieren durchtrainierte Menschen, wagen sich Musiker an Bob Marley und sprayen Künstler Graffitis auf Leinwände.
„Die Amerikaner lieben es praktisch“, sagt Herb Lugger, Autoverkäufer in Long Beach, einer Stadt unweit von Los Angeles. „Sie wollen weite Wege überbrücken und auch große Gegenstände transportieren können.“ Die Antwort der Autobauer für den US-Markt fällt dementsprechend einhellig aus: Große Autos, große Ladefläche. Doch Lugger, spezialisiert auf den Verkauf des Sprinters, hat bemerkt, dass die Großstädter ihre breiten und schweren Karossen immer öfter unpraktisch finden. „Das Parken ist schwierig, der Wendekreis groß, der Verbrauch hoch.“
Einzig Ford hatte in den 80er-Jahren einen Midsize-Van
Daimler versucht den Zweiflern nun, eine Alternative zu bieten: Seit dem 1. Oktober ist der Vito – unter dem Namen Metris – in den USA im Handel. Die Schwaben wollen ihre gute Position auf dem stark wachsenden US-Markt ausgerechnet mit einem „midsize van“ weiter ausbauen, eine Fahrzeugkategorie, die seit zehn Jahren nahezu vollständig aus Amerika verschwunden ist. Zu den besten Zeiten, Ende der 1980er-Jahre, hat alleine Ford rund 160.000 Kleintransporter verkauft. Dann ging der Trend zu immer größeren Karossen: der „midsize van“ wurde begraben.
Zwar lief das Geschäft zuletzt auch ohne einen mittelgroßen Van gut. In den nordamerikanischen NAFTA-Märkten konnte die Transporter-Sparte den Absatz im dritten Quartal um 18 Prozent steigern – mit nur einem Modell, dem Sprinter. Global konnte Daimler die Van-Verkäufe um nur fünf Prozent auf 75.700 Fahrzeuge steigern.
Die Baustellen des Daimler-Konzerns
Lange hechelte Daimler den Rivalen Audi und BMW hinterher. Langsam scheint sich das Blatt zu wenden. Zuletzt legten die Stuttgarter in dem wichtigen Markt um 38,5 Prozent zu, während die Konkurrenz im Vergleich dazu schwächelte. Ein Grund: Die Einführung neuer Modelle und der Ausbau des Händlernetzes. Die Frage ist, ob Daimlers Sonderkonjunktur auch angesichts weniger rosiger Prognosen für den Markt und des jüngsten Kursrutsches an den Börsen anhält: „Daimler profitiert noch von einem gewissen Neuigkeitswert“, sagt Stefan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft Bergisch Gladbach: Die Stuttgarter müssten möglicherweise angesichts drohender Überkapazitäten ihre Planung anpassen. Der Scheitelpunkt der höchsten Gewinne pro Fahrzeug sei überschritten. „China ist nicht mehr „die“ Goldgrube“, sagt Bratzel. Jetzt dürften keine Fehler gemacht werden, warnt auch Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler. Allerdings sei das Management mit Hubert Troska gut aufgestellt.
Daimlers Absatz beflügelt seit Monaten eine Flut neuer Modelle. „Daimler muss die hohe Geschwindigkeit seiner Modellerneuerung beibehalten“, sagt der Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft in Geislingen, Willi Diez. Bei der C-Klasse sei beispielsweise das T-Modell nachgeschoben worden. „Dieser Zyklus ist richtig.“ Denn auch die Konkurrenz legt demnächst nach. BMW bringt in diesem Jahr seinen neuen 7er auf den Markt. „Das wird ein harter Kampf, die Position der S-Klasse zu verteidigen“, warnt Diez.
Die alten Sparprogramme in Pkw und Lkw-Sparte sollen in diesem Jahr volle Wirkung zeigen. Ein neues großangelegtes Programm ist bislang nicht geplant, wohl aber will Zetsche an der Effizienz schrauben. „Alleine das Ergebnis deutet darauf hin, dass Daimler auf dem richtigen Weg ist“, sagt Diez. „Die Standorte in Deutschland sind langfristig wichtig, denn die Produktionsstruktur sollte in etwa der Absatzverteilung entsprechen.“ Daimler habe zuletzt überraschend hohe Produktivitätsgewinne vorgelegt, sagt Metzler-Analyst Pieper. „Jetzt geht es nicht mehr ums Eingemachte, sondern um Luxusfragen.“. So könnten Investoren, wenn das Profitabilitätsziel von 10 Prozent erreicht ist, auch langfristig zweistellige Gewinnmargen erwarten.
Mit dem Wechsel an der Betriebsratsspitze im vergangenen ist Zetsches hartnäckiger Gegenspieler Erich Klemm Geschichte, der neue Betriebsratschef heißt Michael Brecht. Das Gesprächsklima in Verhandlungen soll sich seitdem deutlich verbessert haben. Für fast alle Standorte in Deutschland wurden inzwischen Investitionsprogramme und sogenannte „Zukunftsbilder“ verhandelt, die Investitionen, aber auch Einsparungen beinhalten. Ein großer Brocken wartet aber noch auf Zetsche: Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen in Deutschland läuft 2016 aus. Die Zusage dürfte Brecht kaum kampflos aufgeben. Auch das Thema Werkverträge dürfte den Konzern weiter beschäftigen.
Daimler setzt beim Thema Alternative Antriebe wie andere Hersteller stark auf Plug-In-Hybrid-Motoren, die sowohl Strom als auch Benzin tanken. Bislang lässt der Durchbruch der reinen E-Autos bekanntermaßen auf sich warten. Entsprechend stehen die Autohersteller in Lauerstellung „Mit der nächsten Batteriegeneration werden die Karten neu gemischt“, sagt Bratzel.
Dennoch wagt Mercedes jetzt die Wiedergeburt. Der Metris, ein Benziner, kein Diesel, ist im Durchschnitt 55 Zentimeter kürzer als die großen Vans, zu dem auch der Sprinter gehört, kommt aber gar auf einen minimal größeren Stauraum. Im Vergleich zu seinen kleinen Konkurrenten ist der „midsize van“ gut 30 Zentimeter größer – besitzt aber ganze 54 Prozent mehr an Ladekapazität. „Wir glauben, genau die richtige Größe gefunden zu haben“, sagt Jan ten Haaf, Metris-Produktmanager bei Mercedes USA.
Der Metris passt in die Tiefgarage – im Gegensatz zum Sprinter
Wie berechtigt ist der Optimismus? Die Testfahrt mit dem Metris geht von Venice Beach die Küste hoch über den Industriehafen von Long Beach. Der Verkehr ist dicht, kann aber aufgrund des erhöhten Sitzes gut überblickt werden. Was der Mensch nicht zu sehen vermag – Stichwort toter Winkel – erledigt die Technik. Setzt der Fahrer den Blinker obwohl sich ein anderes Auto auf gleicher Höhe befindet, erscheint ein rotes Warndreieck im Seitenspiegel, gefolgt von einem Warnton. Der „blind spot assistant“ ist wohlgemerkt nicht serienmäßig eingebaut; die sechs Airbags und ESP hingegen schon.
In Beverly Hills lässt sich problemlos eine Kaffeepause anlegen; anders als etwa sein großer Bruder, der Sprinter, passt der Metris in die Tiefgarage. Der Weg nach Santa Monica – über Topanga – ist kurvig und bergig. Der Metris liegt gut in den Kurven, droht man die Fahrspur zu überqueren, vibriert das Lenkrad.
„Wir wollen die soccer moms – Mütter, die ihre Töchter und Freundinnen zum Fußball fahren – genauso ansprechen, wie kleine und mittelständische Unternehmen“, sagt ten Haaf. Sicherheit sei genauso wichtig wie Komfort und Ladefläche. Ten Haaf glaubt, dass die Hälfte der verkauften Metris-Wagen an Privatkunden geht, 50 Prozent an Geschäftstreibende.
Gerade bei Letzteren muss Daimler aber aufpassen, sich nicht selbst zu kannibalisieren. Der Sprinter, mit großen Problemen ab 2001 auf dem US-Markt gestartet, hat sich zu einem Erfolgsmodell für die Schwaben entwickelt. Wurden 2009 noch 8559 Sprinter zwischen New York und Los Angeles verkauft, waren es 2012 schon 20.929 Fahrzeuge und im vergangenen Jahr 25.745 Autos. Der Marktanteil in dem Segment stieg von 4,5 auf 8,9 Prozent.
Insgesamt ist der US-Markt zu einer wichtigen Stütze für Daimler geworden. „Die Absatzzahlen sind in diesem Jahr bei allen großen Herstellern deutlich gestiegen; es wäre falsch, zuerst immer nach China zu gucken“, sagt ten Haaf.
Hoffnungsvoll stimmt die Daimler-Entscheider, dass Google den „midsize van“ für seinen Lieferdienst „Google Express“ getestet hat – und nach eigenen Angaben sehr zufrieden ist. Die Wagen hätten sich als „verbrauchsarm und effizient“ erwiesen, die Fahrer hätten ein positives Feedback gegeben; der Metris sei, „einfach zu bedienen“.
Autoverkäufer Herb Lugger wird dieses Feedback gerne hören. Ob die US-Amerikaner von ihren großen Karossen abrücken, muss sich erst noch zeigen. Was sie ganz sicher weiterhin verlangen: dass ihre Autos praktisch sind.
Vito soll auch in Lateinamerika neue Kunden bringen
Den Ansatz eines praktischen mittelgroßen Vans, wie er in Europa seit Jahren üblich ist, verfolgt Daimler aber nicht nur in den USA. Im Zuge der von Sparten-Chef Volker Mornhinweg ausgerufenen Wachstumsstrategie „Mercedes-Benz-Vans goes global“ wird der Vito seit Juni im Centro Industrial Juan Manuel Fangio nahe Buenos Aires für den argentinischen Markt gebaut und inzwischen auch in Brasilien verkauft – ein Export in weitere südamerikanische Länder ist geplant.
In den vergangenen beiden Jahren hat Mercedes-Benz Argentina insgesamt 220 Millionen Dollar in den 1951 gegründeten Standort investiert, um die Produktionseffizienz- und kapazität des Werks zu steigern und neue Produkte wie den Vito einzuführen. Nach der Modernisierung können dort bis zu 30.000 Transporter, Lkw und Busfahrgestelle pro Jahr vom Band laufen.
Brasilien erfüllt derzeit die Hoffnungen nicht
In Brasilien fertigen die Stuttgarter zudem die erste Generation des großen Vans Sprinter, die von 1995 bis 2006 in Düsseldorf produziert wurde. Außerdem werden in dem Werk nahe Sao Paolo mittelschwere und schwere Lkw montiert, die besonders auf die Anforderungen der Kunden und des Geländes in Lateinamerika zugeschnitten sind. „Brasilien ist und bleibt langfristig einer der weltweit wichtigsten Nutzfahrzeugmärkte“, sagt Stefan Buchner, Head of Mercedes-Benz Trucks. „Gerade in einer Phase wie der aktuellen Marktschwäche ist es wichtig, die richtigen Weichen für die Zeit zustellen, wenn der Markt wieder anspringt.“ Deshalb will Daimler bis 2018 rund 500 Millionen Euro in Brasilien investieren.
Doch derzeit kann der Hoffnungsmarkt Brasilien die Erwartungen nicht erfüllen. Zwar werden laut der Beratungsgesellschaft Strategy& inzwischen 55 Prozent aller Nutzfahrzeuge in den BRIC-Staaten abgesetzt und nur noch 30 Prozent in Europa, doch die Wirtschaft in dem bevölkerungsreichsten Land Südamerikas schwächelt seit Jahren. Für das konjunkturanfällige Nutzfahrzeug-Geschäft keine gute Basis. Im dritten Quartal ging der Van-Absatz im „schwierigen lateinamerikanischen Marktumfeld“, wie Finanzvorstand Bodo Uebber es bei der Präsentation des Vierteljahresberichts ausdrückte, um rund drei Prozent zurück.
Wie Daimler 2014 abgeschnitten hat
Absatz: 1,722 Millionen Fahrzeuge
Umsatz: 73,6 Milliarden Euro
Ebit: 5,853 Milliarden Euro
Umsatzrendite: 8,0 Prozent
Quelle: Daimler-Geschäftsbericht
Absatz: 495.700 Fahrzeuge
Umsatz: 32,4 Milliarden Euro
Ebit: 1,878 Milliarden Euro
Umsatzrendite: 5,8 Prozent
Absatz: 294.600 Fahrzeuge
Umsatz: 10,0 Milliarden Euro
Ebit: 0,682 Milliarden Euro
Umsatzrendite: 6,8 Prozent
Absatz: 33.200 Fahrzeuge
Umsatz: 4,2 Milliarden Euro
Ebit: 0,197 Milliarden Euro
Umsatzrendite: 4,7 Prozent
Verleaste oder finanzierte Fahrzeuge: 3,3 Millionen Fahrzeuge
Gesamtes Vertragsvolumen: 99,0 Milliarden Euro
Ebit: 1,387 Milliarden Euro
Eigenkapitalrendite: 19,4 Prozent
Absatz: 2,5 Millionen Fahrzeuge
Umsatz: 129,9 Milliarden Euro
Ebit: 10,8 Milliarden Euro
Ergebnis: 7,3 Milliarden Euro
Dividende: 2,45 Euro je Aktie
Dennoch hat sich der große Van von Mercedes, der Sprinter, in Brasilien und dem benachbarten Argentinien bislang blendend verkauft. Den Erfolg soll der Vito jetzt eine Größenordnung darunter wiederholen. Eine Absatzprognose für seinen Midsize-Van will Mercedes auf Nachfrage aber nicht nennen.
Die Investitionen und Modelloffensive in Lateinamerika sind ein Risiko – aber ein kalkuliertes. „Die Branche muss sich darauf einstellen, dass sich 71 Prozent des weltweiten Marktes für Lkws außerhalb der etablierten Industrienationen abspielen wird,“ schreiben die Strategy&-Berater in der Studie „The Truck Industry 2020 – How to move in moving markets“.
Deutsche liegen im Premium-Automarkt Brasilien vorne
BMW hat als größte Premiummarke 2014 in Brasilien 13.515 Fahrzeuge* verkauft – bei einem Gesamtmarkt für Premiumautos von 50.205 Stück.
*Januar bis November
Quelle: Anfavea
Auf BMW folgt Audi mit 11.334 Stück.
Wie auch in Deutschland muss sich Mercedes mit Rang drei begnügen. In Brasilien reichen dafür 10.367 Autos.
Porsche hat 2014 in Brasilien 745 Fahrzeuge verkauft.
Wie auch in Europa ist die Toyota-Edeltochter Lexus im Vergleich zur deutschen Konkurrenz abgeschlagen – 205 Stück.
Edle Limousinen und Sportwagen sind in Brasilien weniger gefragt. Jaguar kam 2014 auf 354 Stück.
Die Jaguar-Schwester Land Rover zeigt mit seinen SUV-Modellen, was in Brasilien gefragt ist. Die Briten setzten 2014 8.541 Autos ab – und kommen damit fast an die drei deutschen Marken heran.
Auch für Premium-Kleinwagen gibt es in Brasilien einen Markt, Mini verkaufte 2.278 Stück.
Volvo konnte 2014 in Brasilien 2.866 Autos verkaufen.
Die Knackpunkte: Der Wachstumsmotor der brasilianischen Wirtschaft allgemein muss wieder anspringen. Und dann müssen die Kunden auch bei Nutzfahrzeugen Wert auf Komfort, Design und den Premium-Anspruch legen – in Schwellenländern zählen aber eher der Preis und eine robuste Bauweise. Das berücksichtigt der Vito aus südamerikanischer Produktion nur bedingt: Technisch gleicht er dem europäischen Modell, lediglich bei den angebotenen Sonderausstattungen unterscheiden sich die Fahrzeuge.
Während die Van-Sparte in Europa noch den Hochdachkombi Citan auf Basis des Renault Kangoo anbietet, will Mercedes in Lateinamerika bei dem dritten Modell auf ein für die Marke vollkommen neues Konzept setzen – einen Pick-up. Bis Ende des Jahrzehnts wollen die Stuttgarter den nach eigner Aussage ersten Pick-up eines Premiumherstellers auf den Markt bringen. Basis für das noch namenlose Modell wird aber kein Mercedes-Van, sondern der Navara NP-200 des Kooperationspartners Renault-Nissan.
Daimler-Chef Dieter Zetsche erwartet sich von Pickup-Fahrzeugen mit hohen Allround-Qualitäten und rund einer Tonne Nutzlast weltweit gute Absatzpotentiale. „Der Pick-up von Mercedes-Benz unterstützt die globalen Wachstumsziele unseres Unternehmens“, sagte Zetsche bei der Ankündigung des Modells. „Wir werden auch in diesem Segment mit einem unverwechselbaren Markengesicht und allen markentypischen Fahrzeugattributen in punkto Sicherheit, Komfort, Antriebsstrang und Wertigkeit antreten.“
Ob der Pick-up auch auf den US-Markt kommt: Darüber schweigen die Bosse beharrlich. Eine Entscheidung sei schlicht „noch nicht gefallen“. Klar ist: Die Konkurrenz in dem Segment ist groß – und mit dem Metris sollen die US-Amerikaner ja gerade zum Kauf eines kleineren Vans überzeugt werden. Zumindest in den Städten wie New York, Chicago oder Los Angeles.