Daimler-Chef Dieter Zetsche steigt nach einer Diskussion in der Frankfurter Paulskirche vom Podium, schon ist er von Zuhörern umringt: „Dieter, ich habe mit meinem Chef gewettet, dass ich ein Foto kriege!“, ruft eine Frau. Der Manager ist spät dran, seine Entourage drängt, aber er dreht sich um und lächelt mit der Dame in die Kamera.
Solche Szenen wiederholen sich, in Paris, in Detroit – egal, wo Zetsche auftritt. Er ist nicht nur Chef des Premium-Autobauers. Er ist ein Popstar.
Doch seit Kurzem sind Flecken auf dem Stern. Vorvergangene Woche durchsuchten Stuttgarter Staatsanwälte wegen Daimler elf Objekte. Der Verdacht: Betrug und strafbare Werbung. Daimler könnte die Abgaswerte seiner Dieselfahrzeuge manipuliert haben, ähnlich wie Konkurrent Volkswagen.
Ermittelt wird bislang allgemein gegen Mitarbeiter von Daimler, nicht gegen Vorstände. Für Zetsche kommen die Ermittlungen dennoch zur Unzeit.
Zur Person: Dieter Zetsche
Dieter Zetsche wurde am 5. Mai 1953 in Istanbul geboren. Sein Vater Herbert war zu jener Zeit an einem Staudammprojekt tätig. Die Familie kehrte 1955 nach Frankfurt zurück, wo Dieter aufwuchs.
Zetsche studierte ab 1971 Elektrotechnik an der Universität Karlsruhe und schloss die Studien als Diplomingenieur ab.
Direkt nach dem Uni-Abschluss 1976 trat Zetsche in den Forschungsbereich der damaligen Daimler-Benz AG ein. 1982 promovierte er berufsbegleitend an der Universität Paderborn zum Dr.-Ing.
Nach verschiedenen Positionen in Südamerika (u.a. ab 1988 Mitglied der Geschäftsleitung Mercedes-Benz do Brasil, ab 1989 Präsident Mercedes-Benz Argentina) wechselte Zetsche 1991 als Präsident zur US-Lkw-Tochter Freightliner nach Portland, Oregon. Bereits 1992 wurde Zetsche allerdings zurück nach Stuttgart berufen, und zwar als stellvertretender Entwicklungsvorstand für die Pkw-Sparte bei der Mercedes-Benz AG.
Nachdem er 1995 zum Vertriebsvorstand von Mercedes-Benz ernannt wurde, wurde Zetsche 16. Dezember 1998 erstmals in den Konzernvorstand der neu formierten DaimlerChrysler AG berufen. Im Folgejahr übernahm er das kurzzeitig das Nutzfahrzeug-Ressort.
Nur ein Jahr nach der Fusion übernahm Zetsche als CEO und Präsident die Geschäfte von Chrysler in den USA. Unter seiner Führung gelang es, Chrysler aus der Verlustzone zu bringen.
Nach dem Rückzug von Jürgen Schrempp von der Spitze DaimlerChryslers wurde Zetsche zum 1. Januar 2006 zum neuen Vorstandsvorsitzenden berufen. Unter seiner Führung wurde die 1998 als "Hochzeit im Himmel" gestartete Fusion mit Chrysler beendet, die Chrysler-Anteile wurden verkauft. Seitdem firmiert der Konzern als Daimler AG mit den Geschäftsfeldern Mercedes-Benz Cars, Daimler Trucks, Mercedes-Benz Vans, Daimler Buses und Daimler Financial Services. Nach einem Korruptionsprozess gegen den Konzern in den USA und einem im Vergleich zu Audi und BMW schlechten Abschneiden stand Zetsche wiederholt in der Kritik. Dennoch wurde sein Vertrag verlängert, zum Halbjahr 2016 hat Mercedes-Benz die beiden Premium-Konkurrenten weit hinter sich gelassen. Aktuell hat Zetsche einen Vertrag bis zum 31. Dezember 2019.
- In den USA ist eine vom Justizministerium in Auftrag gegebene Untersuchung im Zusammenhang mit Abgasemissionen noch nicht abgeschlossen. Daimler lässt nun den Zertifizierungsprozess für Diesel-Pkw ruhen. Der „Aufwand für die Zertifizierung von Dieselmotoren“ sei in den USA stark gestiegen, teilt Daimler mit. Deshalb verzichtet Zetsche auf Geschäfte in einem der gewinnträchtigsten Märkte der Welt?
- In Deutschland läuft eine Untersuchung des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA), das den CO2-Ausstoß von Fahrzeugen mehrerer Hersteller kontrolliert hat. Bei einem ersten Test im vergangenen Jahr fielen alle drei getesteten Autos von Daimler negativ auf, weil sie deutlich mehr CO2 ausstießen als beim Zulassungstest.
Daimler erklärt hierzu: „Das KBA hat die Messungen wiederholt.“ Bei den neuen Tests soll das KBA „die unauffälligen und positiven CO2-Messergebnisse unserer Fahrzeuge“ bestätigt haben. Das Verkehrsministerium sagt, dass die ersten Messergebnisse für einen Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen als „Nebenprodukt“ angefallen seien. „Es handelt sich um keine belastbaren Werte.“
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Oliver Krischer, wittert in Berlin verwerflichen Lobbyismus: „Verkehrsminister Alexander Dobrindt ist dabei, das Thema mit den Autobauern irgendwie geradezubiegen. Schließlich will man manches Flaggschiff der deutschen Automobilindustrie nicht durch einen weiteren Skandal in Verruf kommen lassen“, sagt er.
Das Abgasthema könnte sich ausweiten. Bislang ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Daimler-Mitarbeiter wegen möglicher Schwindeleien bei Stickoxidwerten. Ginge es um CO2, würde die Angelegenheit neue Brisanz bekommen. In Deutschland richtet sich die Kfz-Steuer danach, wie viel CO2 ein Auto ausstößt. Wird hier gemogelt, könnte das einer Steuerhinterziehung gleichkommen. Damit würde im Abgasskandal eine ganz neue Dimension erreicht.
Zetsche: „Bei uns wird nicht betrogen“
Probleme könnte auch Partner Renault bereiten. Für einige Modelle verwendet Daimler Renault-Motoren. In Frankreich wird gegen Renault wegen möglicher Manipulationen der Abgaswerte ermittelt. Renault bestreitet die Vorwürfe – genauso wie Zetsche: „Bei uns wird nicht betrogen, bei uns wurden keine Abgaswerte manipuliert“, sagte er etwa im Januar 2016 der „Welt am Sonntag“. Bei Daimler gebe es schließlich „Compliance-Regeln und eine Kultur der Integrität, die es unwahrscheinlich“ machten, dass es bei Daimler „etwas Vergleichbares“ wie bei Volkswagen geben könnte.
Bereits am Rande des Pariser Autosalons im September war Zetsche, locker in Jeans und blauem Sakko, Renault-Chef Carlos Ghosn beigesprungen. Bei einer Veranstaltung im Mercure-Hotel, von Teilnehmern als „Carlos-und-Dieter-Show“ bespöttelt, sagte er, Daimler habe die Renault-Motoren genutzt und werde sie auch weiter nutzen. Kunden hätten nie ein Problem mit den Motoren gehabt. Im Februar in Stuttgart legt Zetsche noch mal nach: An seinem „Optimismus in der Zusammenarbeit mit Renault“ habe sich „nichts verändert“. Alles gut also?
Private Lobbymails für den Staatssekretär
Doch auch Autos, bei denen die Motoren nicht von Renault stammen, gerieten in die Kritik: In einem Bericht des Bundesverkehrsministerium heißt es etwa zum Mercedes V 250 Bluetec, dass der den Stickoxid-Grenzwert im warmen Zustand um das 2,9-Fache überschreite. Das sei „nicht nachvollziehbar“. Messungen des Herstellers zeigten nämlich deutlich niedrigere Werte. Daimler hat nun freiwillig Tausende Fahrzeuge zurückgerufen, um Software-Updates aufzuspielen. Im Bericht stand damals, die Zweifel seien ausgeräumt, wenn Daimler diese Maßnahme ergreife. Der freiwillige Rückruf hat wohl das Ministerium, nicht aber die Staatsanwaltschaft beruhigt.
Was klingt wie Mauschelei, ist auch erfolgreicher Lobbyismus: Zetsche hat im November 2013 mit Eckart von Klaeden einen ehemaligen Staatsminister verpflichtet, der bestens in der Regierung verdrahtet ist – auch mit Staatssekretär Michael Odenwald aus dem Verkehrsministerium. Dem schickt von Klaeden Daimler-Stellungnahmen auch auf den privaten Mailaccount, aber lediglich „aus technischen Gründen“, wie von Klaeden dem Abgasuntersuchungsausschuss des Bundestags erklärte. Dort kam auch ans Licht, dass von Klaeden Staatssekretär Odenwald um „taktische Empfehlungen“ bat. Der Bitte sei Odenwald aber „so weit ich mich erinnere“ nicht nachgekommen, sagte von Klaeden. Es sei ihm wichtig, dass Daimlers Argumente in den „Abstimmungsprozess einfließen“. Und so konnten diverse Mitarbeiter des Kanzleramts lesen, wie von Klaeden vor dem „Verlust der Dieseltechnologie-Führerschaft von deutschen Automobilherstellern im globalen Umfeld“ warnte und bat, die Regierung möge ihre „Haltung angesichts der vorgetragenen Argumente noch einmal überdenken“.
Lkw-Abgase sind häufig sauberer als die von Autos
Überdenken sollte Zetsche seinerseits Aussagen, dass Daimler nicht betrogen habe. Daimler selbst warnt im letzten Quartalsbericht, dass Behörden zu dem Schluss kommen könnten, in Dieselautos der Marke Mercedes seien „Funktionalitäten“ enthalten, die bei einem anderen Autobauer als möglicherweise unzulässig identifiziert worden seien.
Das könnte sich etwa auf AdBlue beziehen. Die Harnstofflösung AdBlue kann Stickoxide in Abgasen beseitigen – vorausgesetzt, die Autos haben genügend davon an Bord. Millionen VW-Autos hatten es nicht. Ähnliche Erkenntnisse zu Fahrzeugen von Daimler gibt es bislang nicht, dafür aber einige Auffälligkeiten: Lkws von Daimler verbrauchen nach offiziellen Angaben pro Liter Diesel fünf Mal so viel AdBlue wie viele Pkws von Daimler. Die Abgase der Lkws aber sind häufig sauberer als die von Pkws.
Eine von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebene Studie kommt dann auch zu dem Schluss, dass eines der dort getesteten Mercedes-C-Klasse-Modelle einen um 84 Prozent größeren AdBlue-Tank haben müsste, sollten die Abgasgrenzwerte eingehalten werden. Daimler bestreitet unsaubere Praktiken: Bei Fahrzeugen sei die AdBlue-Dosierung so ausgelegt, dass sie die gesetzlichen Grenzwerte einhielten.
AdBlue ist nach Informationen der WirtschaftsWoche auch Teil von US-Ermittlungen gegen Daimler.
Zetsche lässt es derweil frohgemut weiter krachen. Bei einem Mercedes-Benz-Empfang in Detroit etwa schmettert US-Popsängerin Bebe Rexha, grell geschminkte Lippen, tiefes Dekolleté, ihr „Me, Myself and I“. Kaum ist sie fertig, stürmt Dieter auf die Bühne des historischen Westin Book Cadillac Hotels und umarmt die Sängerin.
An solchen Abenden kann einem Daimler vorkommen wie die Titanic: Die Kapelle spielt, bis niemand mehr ein Selfie will.