Ein wenig unwohl war Dieter Zetsche und seinen Zuarbeitern vor dem vergangenen Sonntag doch. Schließlich hätte der Auftritt des Daimler-Chefs beim Parteitag der Grünen hässlich enden können. Buhrufe und feindselige Plakate galten bei den Personenschützern noch als mildere Formen der Missfallensbekundung, auch Farbbeutel und andere fliegende Objekte hatten sie eingeplant. Dann schwebten aber nur ein paar Seifenblasen als Zeichen stillen Protests in Richtung des Redners, der sich über den zahmen Gegenwind wunderte: „Ich habe eigentlich mehr erwartet.“
Die einst autofeindlichen Grünen und der Konzernboss sind sich im Kern einig darüber, wie die automobile Zukunft aussehen soll. Die Industrie soll Fahrzeuge entwickeln, die überhaupt kein Kohlendioxid (CO2) mehr ausstoßen, beschloss der Parteitag. Und Zetsche stimmte zu.
Das ist die Zukunft. Die Vergangenheit hätte durchaus Anlass zur Kritik geben können. Denn ähnlich wie VW könnte Daimler Abgaswerte manipuliert haben. Recherchen der WirtschaftsWoche legen jedenfalls nahe, dass der Konzern beim Ausstoß von Stickoxid trickste, um damit die Emission von CO2 zu reduzieren. Daimler bestreitet illegale Manipulationen.
Welche Schadstoffe im Abgas stecken
Stickoxide (allgemein NOx) gelangen aus Verbrennungsprozessen zunächst meist in Form von Stickstoffmonoxid (NO) in die Atmosphäre. Dort reagieren sie mit dem Luftsauerstoff auch zum giftigeren Stickstoffdioxid (NO2). Die Verbindungen kommen in der Natur selbst nur in Kleinstmengen vor, sie stammen vor allem aus Autos und Kraftwerken. Die Stoffe können Schleimhäute angreifen, zu Atemproblemen oder Augenreizungen führen sowie Herz und Kreislauf beeinträchtigen. Pflanzen werden dreifach geschädigt: NOx sind giftig für Blätter und sie überdüngen und versauern die Böden. Außerdem tragen Stickoxide zur Bildung von Feinstaub und bodennahem Ozon bei.
Kohlendioxid (CO2) ist in nicht zu großen Mengen unschädlich für den Menschen, aber zugleich das bedeutendste Klimagas und zu 76 Prozent für die menschengemachte Erderwärmung verantwortlich. Der Straßenverkehr verursacht laut Umweltbundesamt rund 17 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland – hier spielt CO2 die größte Rolle. Es gibt immer sparsamere Motoren, zugleich aber immer größere Autos und mehr Lkw-Transporte. Außerdem mehren sich Hinweise darauf, dass Autobauer nicht nur bei NOx-, sondern auch bei CO2-Angaben jahrelang getrickst haben könnten.
Bei der Treibstoff-Verbrennung in vielen Schiffsmotoren fällt auch giftiges Schwefeldioxid (SO2) an. In Autos und Lkws entsteht dieser Schadstoff aber nicht, was am Kraftstoff selbst liegt: Schiffsdiesel ist deutlich weniger raffiniert als etwa Pkw-Diesel oder Heizöl und enthält somit noch chemische Verbindungen, die bei der Verbrennung in Schadstoffe umgewandelt werden.
Winzige Feinstaub-Partikel entstehen entweder direkt in Automotoren, Kraftwerken und Industrieanlagen oder indirekt durch Stickoxide und andere Gase. Die Teilchen gelangen in die Lunge und dringen in den Blutkreislauf ein. Sie können Entzündungen der Atemwege hervorrufen, außerdem Thrombosen und Herzstörungen. Der Feinstaub-Ausstoß ist in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre deutlich gesunken. Städte haben Umweltzonen eingerichtet, um ihre Feinstaubwerte zu senken.
Feinstaub entsteht aber nicht nur in den Motoren. Auch der Abrieb von Reifen und Bremsen löst sich in feinsten Partikeln. Genauso entstehen im Schienenverkehr bei jedem Anfahren und Bremsen feiner Metallabrieb an den Schienen. All das landet ebenfalls als Feinstaub in der Luft.
Katalysatoren haben die Aufgabe, gefährliche Gase zu anderen Stoffen abzubauen. In Autos wandelt der Drei-Wege-Kat giftiges Kohlenmonoxid (CO) mit Hilfe von Sauerstoff zu CO2, längere Kohlenwasserstoffe zu CO2 und Wasser sowie NO und CO zu Stickstoff und CO2 um. Der sogenannte Oxidations-Kat bei Dieselwagen ermöglicht jedoch nur die ersten beiden Reaktionen, so dass Dieselabgase noch mehr Stickoxide enthalten als Benzinerabgase. Eingespritzter Harnstoff („AdBlue“) kann das Problem entschärfen: Im Abgasstrom bildet sich so zunächst Ammoniak, der anschließend in Stickstoff und Wasser überführt wird.
Ein Zuviel an Stickoxidemissionen steht im Mittelpunkt des Abgasskandals bei VW. Mit der sogenannten AdBlue-Technik kann Daimler den Ausstoß schon seit Jahren senken. AdBlue, eine Lösung aus Harnstoff und Wasser, kann Stickoxid neutralisieren. Um voll zu funktionieren, brauchen die Systeme aber große Mengen AdBlue.
Für die Hersteller und ihre Kunden ist das ein Problem. AdBlue muss entweder in einem großen Tank mitgeführt oder oft nachgefüllt werden. Beide Lösungen sind ebenso aufwendig wie teuer – und nur begrenzt umweltfreundlich. Bei entsprechend angepassten Motoren kann zudem der Kraftstoffverbrauch und damit auch der CO2-Ausstoß steigen. Das wichtigste Verkaufsargument für den Diesel hätte sich damit erledigt. „Der Verbrauchsvorteil hätte zerstört werden können“, sagt Karl Huber, Professor für Verbrennungsmotoren an der Technischen Universität Ingolstadt. „Das wäre eine Katastrophe für die deutschen Autobauer gewesen, die den Diesel stets als Lösung der Klimaprobleme priesen.“
Wie die Adblue-Technik funktioniert
Verbrennt Diesel in Motoren, entstehen Rußpartikel und Stickoxide. Die Partikel dringen in die Lunge ein und können Krebs verursachen, Stickoxide reizen die Schleimhäute der Atemwege und Augen und erhöhen das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Sie fördern zudem die Ozonbildung. Damit möglichst wenig der Schadstoffe in die Umwelt gelangt, werden in modernen Fahrzeugen die Abgase in zwei oder drei Stufen gereinigt – zumindest in der Theorie.
Ist die Verbrennungstemperatur im Motor hoch, entstehen wenig Partikel, aber viel Stickoxide. Bei niedrigen Temperaturen ist es umgekehrt.
Der erste Katalysator filtert rund 95 Prozent der Rußpartikel heraus.
Sensoren messen die Stickoxidkonzentration im Abgas. Die Kontrolleinheit spritzt entsprechend Adblue (Harnstofflösung) in den zweiten Katalysator.
Das Adblue reagiert im zweiten Katalysator – das Verfahren heißt selektive katalytische Reduktion (SCR) – zu harmlosem Wasser und Stickstoff. Mehr als 95 Prozent der Stickoxide werden so entfernt.
Nicht alle modernen Dieselfahrzeuge verfügen über die effektive, aber teure Adblue-Technik. Eine Alternative ist der NOx-Speicherkatalysator. Darin werden auf Edelmetallen wie Platin und Barium die Stickoxide gespeichert. In regelmäßigen Abständen wird der Speicherkatalysator freigebrannt, dabei werden die Stickoxide zu unvollständig verbrannten Kohlenwasserstoffen – und/oder Kohlenstoffmonoxid – weiter reduziert. Zum Teil werden auch SCR- und NOx-Speicherkatalysatoren kombiniert – wie etwa im BMW X5.
CO2-Sparen um jeden Preis
Weil CO2 dafür verantwortlich ist, dass sich das Weltklima erwärmt, versuchen Politiker schon seit Jahren, den CO2-Ausstoß zu verringern. Sie definieren strenge Emissionsgrenzen und verpflichteten die Autobauer, ihre Fahrzeuge anzupassen. Dabei sind womöglich nicht alle korrekt vorgegangen. So berichten Insider des Zulieferers Bosch von Software, die zu niedrige CO2-Werte ausweisen soll.
Daimler hat darauf geachtet, die CO2-Grenzen einzuhalten, allerdings zu einem zweifelhaften Preis. Der Autobauer stattete viele Modelle mit AdBlue-Systemen aus, die allerdings nur in Zulassungstests und bestimmten Fahrsituationen voll funktionierten. Im Alltagsbetrieb auf der Straße überschritten die Stickoxidwerte die gesetzlichen Grenzen häufig um ein Vielfaches. In Tests des Kraftfahrbundesamts im Frühjahr fiel Daimler besonders negativ auf. 240.000 Autos riefen die Stuttgarter daraufhin zurück.
Drohende Bußgelder und Schadenersatzklagen
Ob die beanstandeten Modelle rechtmäßig auf den Straßen unterwegs sind, ist strittig. Daimler meint, dass es ausreiche, wenn die Autos den Zulassungstest schaffen. Die EU-Kommission und der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags meinen dagegen, dass die Autos Grenzwerte auch im Normalbetrieb einhalten müssen.
Weit größere Sorgen müssen dem Konzern ohnehin die Ermittlungen in den USA machen, die das US-Justizministerium zu Beginn des Jahres gestartet hat. Unter dem Druck einer drohenden Anklage hat sich der Konzern bereit erklärt, alle gewünschten Daten zur Verfügung zu stellen. Eine US-Kanzlei hat an Entwicklungsstandorten in Stuttgart und Sindelfingen Daten gesichert, in diesen Wochen soll Insidern zufolge die Befragung von Mitarbeitern beginnen. Worum es konkret geht, wollen weder Daimler noch die US-Ermittler sagen. Mary Nichols, Chefin der kalifornischen Umweltbehörde CARB, die den VW-Skandal auslöste, ließ sich immerhin entlocken, dass das Thema AdBlue „sehr interessant“ sei.
Sollte der Konzern den AdBlue-Verbrauch tatsächlich illegal reduziert haben, drohen ihm Bußgelder und Schadensersatzklagen. Ein Indiz könnten den Ermittlern die Ergebnisse eines alten Tests der einflussreichen US-Verbraucherzeitschrift „Consumer Reports“ liefern. 2003 wollten die Tester wissen, was die angeblich sauberen Diesel von Mercedes taugten. Sie kauften einen Geländewagen vom Typ GL 320 und fuhren mit ihm 25.000 Kilometer durch die USA. Als sie den Wagen danach in die Werkstatt brachten, mussten sie 28 Liter AdBlue nachfüllen lassen. Das kostete sie 317 Dollar, was die Tester ziemlich in Wallung brachte.
Die Adblue-Tanks sind zu knapp kalkuliert
Inhalt Adblue-Tank laut Hersteller: 23 Liter
Reichweite laut Hersteller: 25.000 Kilometer
Erforderliche Größe des Adblue-Tanks, um Grenzwert1 einzuhalten: 37 Liter
Reichweite mit aktuellem Adblue-Tank, wenn Grenzwert1 eingehalten würde: 15.641 Kilometer
1 Euro-6-Norm: 80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer
Quelle: TNO Report 2015/2016
Inhalt Adblue-Tank laut Hersteller: 15 Liter
Reichweite laut Hersteller: 15.000 Kilometer
Erforderliche Größe des Adblue-Tanks, um Grenzwert1 einzuhalten: 11 Liter
Reichweite mit aktuellem Adblue-Tank, wenn Grenzwert1 eingehalten würde: 21.131 Kilometer
1 Euro-6-Norm: 80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer
Inhalt Adblue-Tank laut Hersteller: 25 Liter
Reichweite laut Hersteller: 22.000 Kilometer
Erforderliche Größe des Adblue-Tanks, um Grenzwert1 einzuhalten: 46 Liter
Reichweite mit aktuellem Adblue-Tank, wenn Grenzwert1 eingehalten würde: 12.019 Kilometer
1 Euro-6-Norm: 80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer
Inhalt Adblue-Tank laut Hersteller: 17 Liter
Reichweite laut Hersteller: 20.000 Kilometer
Erforderliche Größe des Adblue-Tanks, um Grenzwert1 einzuhalten: 25 Liter
Reichweite mit aktuellem Adblue-Tank, wenn Grenzwert1 eingehalten würde: 13.797 Kilometer
1 Euro-6-Norm: 80 Milligramm Stickoxid pro Kilometer
Um die Dieselabgase mit der Harnstofflösung Adblue von Stickoxiden zu reinigen, benötigen die meisten Autos viel mehr der Flüssigkeit, als die Hersteller angeben. Das belegt eine Studie der niederländischen Wissenschaftsorganisation TNO.
Tatsächlich ist dieser Verbrauch aber erstaunlich niedrig. Etliche Professoren für Verbrennungsmotoren und auch VW taxieren den AdBlue-Bedarf, wenn die Abgase wirklich sauber sein sollen, bei rund fünf Prozent der verbrauchten Dieselmenge. Ein deutlich niedrigerer Wert käme einem technischen Wunder gleich. In dem 25.000-Kilometer-Test hätte der Mercedes demnach um die 100 Liter verbrauchen müssen. So viel AdBlue hätte gut 1100 Dollar gekostet, die Autos hätten zudem einen großen Tank gebraucht – kaum vorstellbar, dass die Tester das Modell dann noch positiv bewertet hätten. Die Chancen des Diesels in den USA wären deutlich gesunken.
Der Verdacht, dass sich Daimler diese Marktchancen dadurch erhalten hat, dass der Konzern einen höheren Ausstoß von gesundheitsschädlichem NOx in Kauf nahm, wiegt schwer. Entsprechend wortkarg wird der Autobauer bei dem Thema. Insidern zufolge rechnete er bislang damit, dass seine Fahrzeuge für 100 Liter verbrauchten Diesel einen Liter AdBlue benötigen. Die neueste Motorengeneration würde nun mit „etwa zwei Prozent AdBlue“ klarkommen, heißt es in Stuttgart. Der Bedarf hätte sich also verdoppelt – obwohl bei neuen Motoren dank technischer Fortschritte eigentlich viel weniger Stickstoff entsteht, den das AdBlue neutralisieren muss. Das wäre tatsächlich eine wundersame Entwicklung.
Daimler wird sie erklären müssen, ehe der Konzern unbelastet von der Vergangenheit mit Elektroautos in Richtung CO2-freie Zukunft durchstarten kann.