Draußen regnete es, aber die Gäste waren nicht zum Brüsseler Empfang der FIA gekommen, der Weltorganisation der Automobilverbände, um einen lauen Sommerabend zu genießen. Im Inneren der Bibliothèque Solvay erwartete die über hundert Besucher die bisher schonungsloseste Kritik an der Autobranche seit dem Beginn des Emissionsskandals. Im vergangenen Juni redete EU-Kommissarin Elzbieta Bienkowska Klartext, wie das niemand aus den EU-Institutionen getan hatte.
In ein kleidsames cremefarbenes Wickeltop gehüllt, neben sich ein gigantisches Blumenbouquet in weiß und blau, lobte die Polin zunächst die Stärke der europäischen Automobilbranche. „Wir haben ein Potenzial, an das keiner der Wettbewerber herankommt“, sagte sie und erwähnte explizit Amerikaner und Chinesen. Doch dann war es vorbei mit den Freundlichkeiten. Bienkowska fasste den aktuelle Zustand der Branche mit zwei Worten zusammengefasst: Defeat devices. „Manchem in diesem Raum wäre es lieber, wenn ich nicht darüber spreche“, sagte sie zu den über 100 Gästen, die ihr dicht gedrängt zuhören. „Aber so lange dieses Thema nicht geklärt ist, wird die Zukunft nicht den Europäern gehören.“
Die Kommissarin, zuständig für Industrie und Binnenmarkt, zeigte sich sichtlich verärgert, dass die Branche knapp ein Jahr nach Bekanntwerden der Manipulationen bei Volkswagen versuchte, die Verfehlungen der Wolfsburger als Einzelfall herunterzuspielen. „2007 sage die Finanzbranche, dass es sich nur um Bear Sterns handelte. Und dann kam Lehman Brothers. Und Northern Rock. Und Dexia. Und WestLB. Ich könnte immer weiter machen.“
Zentrale Punkte der Reform der Zulassung von Automodellen
Der neue Kompromissvorschlag des EU-Ratsvorsitzes sieht die Einführung einer Mindestzahl von kontrollierten Fahrzeugen pro Jahr in jedem EU-Land vor. Mindestens eins von je 50.000 neu registrierten Fahrzeugen soll jedes Jahr kontrolliert werden. Kleinere Länder sollen die Möglichkeit bekommen, ihre Aufgaben zur Marktüberwachung an andere EU-Überwachungsbehörden zu übertragen.
Die Kommission soll die Möglichkeit erhalten, die Durchführung von Tests und Inspektionen von Fahrzeugen überprüfen zu können. So könnte sie im Zweifelsfall sofort auf Unregelmäßigkeiten reagieren. Dadurch soll die Unabhängigkeit und Qualität des EU-Typgenehmigungssystems verbessert werden.
Im Zuge der Reform soll ein Forum eingerichtet werden, dass den Informationsaustausch über die Kontrollen und mögliche Vollstreckung von Strafen ermöglicht. Ziel ist es, verschiedene Interpretationen und Praktiken der EU-Mitgliedsstaaten zu harmonisieren. Die nationalen Behörden sind dazu angehalten jährliche Berichte über ihre Marktüberwachung im Forum zur Verfügung zu stellen.
Damit die Hersteller nicht direkt ihre eigenen Prüfer für die Typgenehmigungsmaßnahmen bezahlen, soll in Zukunft in jedem EU-Mitgliedsstaat eine nationale Gebührenstruktur für Typgenehmigungen und Marktüberwachung geschaffen werden. Diese Gebühren sollen von den angewandten Herstellern gezahlt werden und in einen großen Topf fließen, aus dem dann die nationalen Typgenehmigungsverfahren der Prüfer bezahlt werden.
Ist ein Automodell genehmigt, soll diese Typgenehmigung ohne Einschränkungen ihre Gültigkeit behalten - diese Regelung soll nun wie schon bislang bestehen bleiben. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, die Gültigkeit auf fünf Jahre zu begrenzen. Dieser Ansatz findet sich in dem zu verabschiedenden Vorschlag nun nicht mehr wieder.
Nach dem neuen Genehmigungsverfahren, soll jede Typgenehmigungsbehörde zuvor geprüft und aufgrund ihrer technischen Dienstleistungen bewertet werden. Nur in Fällen, in denen die Einrichtung alle technischen Dienstleistungen auf der Grundlage von international anerkannter Standards durchführt, bekommt sie die Genehmigung als Prüfungsbehörde. Die nationalen Akkreditierungsstellen sollen hier bei der Beurteilung der technischen Dienste unterstützend tätig werden.
Im Anschluss an den Vorschlag der Kommission sieht der aktuelle Vorschlag Geldbußen vor, die die EU-Kommission unter bestimmten Umständen verhängen kann. Entsprechen die Automodelle nicht den Richtlinien - sowohl die Fahrzeuge selbst als auch ihre Systeme, Komponenten und technischen Einheiten - müssen die Hersteller oder Importeure mit Strafen durch die EU-Kommission in Höhe von bis zu 30.000 Euro rechnen.
Der Autoindustrie, so Bienkowska, verdränge, was passiere. „Sie leugnet was falsch lief, sie leugnet, dass die Probleme weit verbreitet waren, die leugnet, dass etwas passieren muss, und sie leugnet das Ausmaß dessen, was passieren muss.“
Das saß. Bienkowska bekam Applaus für ihre klaren Worte. Ihr Auftritt zeigte, dass ihr bewusst geworden war, dass sie selbst den Emissionsskandal politisch nur überleben konnte, wenn sie entschlossen vorging. „Sie hat gemerkt, dass sie entschieden nach vorne spielen musste, sonst wäre sie weg gewesen“, sagt Claude Turmes, Abgeordneter der luxemburgischen Grünen im Europäischen Parlament.
Mögliche Geldstrafe für Deutschland
Im Dezember eröffnete Bienkowska gegen Deutschland und sechs weitere EU-Staaten ein Vertragsverletzungsverfahren, weil nach Einschätzung der EU-Kommission EU-Recht nicht korrekt angewendet wurde. Die Bundesregierung hat auf die Vorwürfe reagiert, etwa auf die Anschuldigung, dass sie keine Sanktionen gegen Volkswagen verhängt hat.
Nun analysieren Bienkowskas Beamte die Antwort. Einen festen Zeitrahmen müssen sie dabei nicht einhalten. Das Vertragsverletzungsverfahren könnte zu einer empfindlichen Geldstrafe für die Bundesrepublik führen. Im Extremfall könnte es auch dazu führen, dass Volkswagen im Nachhinein sanktioniert werden müsste. „Wir wollen, dass die Bundesregierung Abhilfe schafft für unsere Kritikpunkte“, heißt es dazu aus der EU-Kommission.
Mit dem Vertragsverletzungsverfahren einen Hebel gefunden, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird sich angesichts des laufenden Verfahrens wohl zwei Mal überlegen, ob sie sich in das Gesetzgebungsverfahren zur Typenzulassung einmischt, so wie sie das zur Empörung vieler in Brüssel vor vier Jahren bei der CO2-Regulierung getan hat. Damals hatte sie einen fertig ausgehandelten Deal mit einem Telefonanruf beim irischen Premier Enda Kenny gestoppt und neu aufrollen lassen. „Davor wird sie sich angesichts des Vertragsverletzungsverfahren hüten“, prognostiziert der Grünen-Abgeordnete Turmes.
Die deutsche Autoindustrie, die sich bei der Reform der Typenzulassung nicht wie geplant durchgesetzt hat, bereitet bereits die nächste Abwehrschlacht vor. Am ersten Donnerstag im Juli treffen sich die CEOs europäischer Hersteller, darunter Volkswagen, BMW, Daimler und Opel mit Energiekommissar Miguel Arias Caete, um die Klimaschutzziele nach dem Jahr 2020 zu besprechen.
Cañete arbeitet an einem Gesetzesvorschlag, den er im November oder Dezember vorlegen wird. Oberstes Ziel der deutschen Autoindustrie: Ein verbindliches CO2-Emissionslimit für das Jahr 2025 verhindern und eine verbindliche Quote für Elektroautos.
Bei einer Debatte über die Dekarbonisierung des Verkehrs in der bayerischen Landesvertretung weigerte sich ein Vertreter von BMW, ein geeignetes Datum für neue Emissionslimit zu nennen. 2025 oder doch besser 2030? Thomas Becker, Vice President Government und External Affairs von BMW, versankt tief im schwarzen Lederstuhl, ließ sich aber nicht auf ein Zieldatum festlegen.