Dieselgate "Wir wollen, dass die Bundesregierung Abhilfe schafft"

So lange der Dieselskandal ungeklärt sei, "wird die Zukunft nicht den Europäern gehören", mahnte EU-Kommissarin Bienkowska vor einem Jahr. Heute bereitet die deutsche Autoindustrie bereits die nächste Abwehrschlacht vor.

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Elzbieta-Bienkowska Quelle: REUTERS

Draußen regnete es, aber die Gäste waren nicht zum Brüsseler Empfang der FIA gekommen, der Weltorganisation der Automobilverbände, um einen lauen Sommerabend zu genießen. Im Inneren der Bibliothèque Solvay erwartete die über hundert Besucher die bisher schonungsloseste Kritik an der Autobranche seit dem Beginn des Emissionsskandals. Im vergangenen Juni redete EU-Kommissarin Elzbieta Bienkowska Klartext, wie das niemand aus den EU-Institutionen getan hatte.

Was die neuen Abgas-Tests bedeuten
WLTP Quelle: obs
Was ändert sich genau unter diesem WLTP-Zyklus?Viele Details: So dauert der Labortest zehn Minuten länger und kommt nur noch auf 13 Prozent Stillzeit. Die gesamte Zykluslänge simuliert mit 23,25 Kilometern eine mehr als doppelt so lange Strecke wie der NEFZ. Die Maximalgeschwindigkeit liegt bei 131 Stundenkilometern statt bisher 120 Stundenkilometern. Außerdem werden Sonderausstattungen für Gewicht, Aerodynamik und Bordnetzbedarf berücksichtigt. Quelle: dpa
Wie werden denn auf der Straße Emissionen gemessen? Gemessen wird mit Hilfe eines portablen Messsystems namens PEMS („Portable Emission Measurement System“). Es wird an der Rückseite des Autos am Auspuff montiert und kann so ortsungebunden die Abgase einfangen. Quelle: dpa
Wie verlässlich sind diese Messungen? Die Messung am fahrenden Auto bringt gewisse Messungenauigkeiten mit sich. Denen trage aber die Gesetzgebung mit Konformitätsfaktoren Rechnung, heißt es bei Bosch. Zu Beginn dürfen die Emissionen noch das 2,1-Fache des Grenzwerts betragen. Von Januar 2020 ist nur noch die Messtechniktoleranz von 50 Prozent des Grenzwerts vorgesehen. Quelle: dpa
Sind dank RDE Unterschiede zwischen Labor und Realität Vergangenheit? Zumindest nähert man sich an: De facto würden Abweichungen von Abgaswerten zwischen Labor und Straße definitiv ausgeschlossen, heißt es beim VDA. Allerdings, warnt man beim ADAC, könne es auch hier im alltäglichen Betrieb zu Abweichungen kommen, da auch im RDE-Messverfahren nicht jede Fahrweise eines jeden Autofahrers abgedeckt werde. Quelle: dpa
Wie sieht es mit den neuen Labortests aus? Ziel der neuen Testmethoden im Labor ist es, realitätsnähere Kraftstoffverbräuche darzustellen. Erste Studien prognostizieren laut ADAC, dass durch die neuen Methoden die bisherige Lücke zwischen Messungen im Labor und auf der Straße halbiert werden könnte. Das genaue Ausmaß der Verbesserung ist derzeit jedoch schwer einzuschätzen, weil die neuen Vorgaben noch nicht gelten. Allerdings werden die Verbraucher sich auch darauf einstellen müssen, dass die Test zu höheren Normverbrauchswerten führen. Quelle: dpa
Muss ich mein Auto jetzt umrüsten? Nein: Die neuen Tests gelten nur für neue Fahrzeugmodelle. Autos, die bereits im Verkehr sind, sind davon nicht betroffen. Quelle: dpa

In ein kleidsames cremefarbenes Wickeltop gehüllt, neben sich ein gigantisches Blumenbouquet in weiß und blau, lobte die Polin zunächst die Stärke der europäischen Automobilbranche. „Wir haben ein Potenzial, an das keiner der Wettbewerber herankommt“, sagte sie und erwähnte explizit Amerikaner und Chinesen. Doch dann war es vorbei mit den Freundlichkeiten. Bienkowska fasste den aktuelle Zustand der Branche mit zwei Worten zusammengefasst: Defeat devices. „Manchem in diesem Raum wäre es lieber, wenn ich nicht darüber spreche“, sagte sie zu den über 100 Gästen, die ihr dicht gedrängt zuhören. „Aber so lange dieses Thema nicht geklärt ist, wird die Zukunft nicht den Europäern gehören.“

Die Kommissarin, zuständig für Industrie und Binnenmarkt, zeigte sich sichtlich verärgert, dass die Branche knapp ein Jahr nach Bekanntwerden der Manipulationen bei Volkswagen versuchte, die Verfehlungen der Wolfsburger als Einzelfall herunterzuspielen. „2007 sage die Finanzbranche, dass es sich nur um Bear Sterns handelte. Und dann kam Lehman Brothers. Und Northern Rock. Und Dexia. Und WestLB. Ich könnte immer weiter machen.“

Zentrale Punkte der Reform der Zulassung von Automodellen

Der Autoindustrie, so Bienkowska, verdränge, was passiere. „Sie leugnet was falsch lief, sie leugnet, dass die Probleme weit verbreitet waren, die leugnet, dass etwas passieren muss, und sie leugnet das Ausmaß dessen, was passieren muss.“

Das saß. Bienkowska bekam Applaus für ihre klaren Worte. Ihr Auftritt zeigte, dass ihr bewusst geworden war, dass sie selbst den Emissionsskandal politisch nur überleben konnte, wenn sie entschlossen vorging. „Sie hat gemerkt, dass sie entschieden nach vorne spielen musste, sonst wäre sie weg gewesen“, sagt Claude Turmes, Abgeordneter der luxemburgischen Grünen im Europäischen Parlament.

Mögliche Geldstrafe für Deutschland

Im Dezember eröffnete Bienkowska gegen Deutschland und sechs weitere EU-Staaten ein Vertragsverletzungsverfahren, weil nach Einschätzung der EU-Kommission EU-Recht nicht korrekt angewendet wurde. Die Bundesregierung hat auf die Vorwürfe reagiert, etwa auf die Anschuldigung, dass sie keine Sanktionen gegen Volkswagen verhängt hat.

Nun analysieren Bienkowskas Beamte die Antwort. Einen festen Zeitrahmen müssen sie dabei nicht einhalten. Das Vertragsverletzungsverfahren könnte zu einer empfindlichen Geldstrafe für die Bundesrepublik führen. Im Extremfall könnte es auch dazu führen, dass Volkswagen im Nachhinein sanktioniert werden müsste. „Wir wollen, dass die Bundesregierung Abhilfe schafft für unsere Kritikpunkte“, heißt es dazu aus der EU-Kommission.

Mit dem Vertragsverletzungsverfahren einen Hebel gefunden, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird sich angesichts des laufenden Verfahrens wohl zwei Mal überlegen, ob sie sich in das Gesetzgebungsverfahren zur Typenzulassung einmischt, so wie sie das zur Empörung vieler in Brüssel vor vier Jahren bei der CO2-Regulierung getan hat. Damals hatte sie einen fertig ausgehandelten Deal mit einem Telefonanruf beim irischen Premier Enda Kenny gestoppt und neu aufrollen lassen. „Davor wird sie sich angesichts des Vertragsverletzungsverfahren hüten“, prognostiziert der Grünen-Abgeordnete Turmes.

Die deutsche Autoindustrie, die sich bei der Reform der Typenzulassung nicht wie geplant durchgesetzt hat, bereitet bereits die nächste Abwehrschlacht vor. Am ersten Donnerstag im Juli treffen sich die CEOs europäischer Hersteller, darunter Volkswagen, BMW, Daimler und Opel mit Energiekommissar Miguel Arias Caete, um die Klimaschutzziele nach dem Jahr 2020 zu besprechen.

Cañete arbeitet an einem Gesetzesvorschlag, den er im November oder Dezember vorlegen wird. Oberstes Ziel der deutschen Autoindustrie: Ein verbindliches CO2-Emissionslimit für das Jahr 2025 verhindern und eine verbindliche Quote für Elektroautos.

Bei einer Debatte über die Dekarbonisierung des Verkehrs in der bayerischen Landesvertretung weigerte sich ein Vertreter von BMW, ein geeignetes Datum für neue Emissionslimit zu nennen. 2025 oder doch besser 2030? Thomas Becker, Vice President Government und External Affairs von BMW, versankt tief im schwarzen Lederstuhl, ließ sich aber nicht auf ein Zieldatum festlegen.

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