Eine der erfolgreichsten deutsch-brasilianischen Erfindungen kam eher stockend in Gang: Die Flex-Fuel Antriebstechnik, mit der Motoren bei jedem Mischungsverhältnis aus Benzin und Ethanol betrieben werden können. "Wir hatten die Technologie schon Anfang der Neunzigerjahre in der Schublade", sagt Besaliel Soares Botelho, Präsident von Bosch im brasilianischen Campinas. "Doch die Autokonzerne interessierten sich nicht dafür." Diese setzen die neue Technik in der Massenproduktion erst seit 2003 ein - nachdem die Zuckerfabriken in den Destillen immer mehr Ethanol produzierten und die flächendeckende Versorgung mit dem Biotreibstoff gesichert war.
Inzwischen werden 95 Prozent aller brasilianischen Neuwagen mit der Flex-Fuel-Technik ausgestattet. Heute könnten es sich die Autokonzerne in Brasilien gar nicht mehr leisten, technische Neuerungen so lange zurückzuhalten. Denn der Technologietransfer nach Brasilien und die Entwicklung in Brasilien selbst sind heute zu strategischen Instrumenten der Branche geworden: Die Regierung fördert Autobauer, die in Brasilien entwickeln und forschen, mit hohen Steuernachlässen.
Ziel der Aktion: Die ausländischen Kraftfahrzeughersteller sollen weniger Autos und Lkws aus ihren Mutterhäusern nach Brasilien exportieren oder dort aus importierten Teilen zusammenschrauben. Vielmehr sollen die Autobauer in Brasilien Arbeitsplätze schaffen und eine starke Zuliefererindustrie hochziehen. Zudem sollen sie für den Wissenstransfer aus den Mutterhäusern sorgen, um die eigene Entwicklung in Brasilien voranzutreiben.
Dazu erhöhte die Regierung Ende des vergangenen Jahres die Steuern für Pkws auf 30 Prozent. Auch ausländische Fahrzeughersteller, die schon teilweise in Brasilien produzieren, aber nicht auf einen lokalen Fertigungsanteil (Local Content) von 65 Prozent kommen, müssen diese Steuer bezahlen. Bei der Berechnung des Local Content wollen die Behörden künftig nur Auto- und Motorenteile berücksichtigen - und nicht wie bisher üblich auch Marketing- oder Personalkosten.
Die brasilianische Regierung belohnt jedoch Pkw-Hersteller mit Steuerreduzierungen, die ihre Flotten mit spritsparenden Technologien ausstatten und alternative Antriebsarten für den Markt entwickeln. Davon profitieren vor allem die in Brasilien stark vertretenen deutschen Fahrzeughersteller. Das meistverkaufte Modell in Brasilien ist der Gol von Volkswagen - brasilianisch für Tor im Fußball. VW hat den Gol in Brasilien entwickelt. Den Käfer-Nachfolger gibt es nun seit 32 Jahren, inzwischen in der sechsten Generation.
Ein Traum jedes Finanzchefs
In Brasilien hat VW auch den Kleinwagen Fox entwickelt, der im Werk Anchieta bei São Paulo, dem größten VW-Werk südlich des Äquators, produziert und weltweit verkauft wird. Bosch im nahen Campinas tüftelt derzeit daran, wie man Ethanol auch in Dieselmotoren der Landmaschinen und Lkws einsetzen kann. Der Autozulieferer Continental errichtet im Bundesstaat São Paulo ein Versuchslabor, um energiesparende Antriebstechniken wie die Start-Stopp-Technologie für Brasilien zur Marktreife zu entwickeln.
Die zurzeit wohl interessanteste lokale Entwicklung ist eine Serie der Nutzfahrzeugtochter von VW, die seit Kurzem unter der Konzernmarke MAN in Brasilien geführt wird: VW hat dort seit Mitte der Neunzigerjahre eine ganze Lastwagenfamilie vom Stadttransporter bis zum 45-Tonner entwickelt - in Zusammenarbeit mit der Zentrale in Hannover, aber vor allem mit eigenen Ingenieuren in Brasilien.
Für das Projekt hat Volkswagen sogar ein eigenes Fabrikkonzept entwickelt, das auch heute noch revolutionär für die Branche ist. Es erfüllt perfekt die Anforderungen der Regierung an einen hohen lokalen Fertigungsanteil: In der Fabrik von MAN, bei Resende in der Mitte zwischen Rio de Janeiro und São Paulo gelegen, liegt der Local Content bei hohen 90 Prozent.
MAN teilt sich dort mit acht Zulieferern die Investitionsaufwendungen und das Risiko. In den Bandabschnitten Chassis, Achsen, Reifen, Motoren, Kabine, Lackiererei und Kabinenausstattung liefert jedes Unternehmen fertige Teile an und baut sie ein.
Für Roberto Cortes, den Chef von MAN, ist die Fabrik der "Traum jedes Finanzchefs": Weil Zulieferer die Fertigung übernehmen, sind die Fixkosten niedrig. Bei der in Brasilien rapide schwankenden Nachfrage können die Produktionsvolumen schnell hochgefahren oder reduziert werden. Mit dieser Fertigung gelingt es MAN, seine Bus- und Lkw-Produktion besser als in herkömmlichen Fabriken auf die Kundenwünsche auszurichten.
Amphibienfahrzeuge von VW
Der weltweite Trend zur immer größeren Spezialisierung im Transportgewerbe gilt auch für einen Emerging Market wie Brasilien: So liefert VW für den Buskonzern Transbrasiliana höhergelegte Fahrzeuge mit einem Know-how, das sonst für militärisch genutzte Amphibienfahrzeuge eingesetzt wird. Damit bleiben die Busse in der Regenzeit auf den tagelangen Fahrten über die Transamazônica nicht so schnell in Schlammlöchern und Flüssen stecken.
Der Müllentsorger Vega in Rio de Janeiro und São Paulo braucht wendige Fahrzeuge, die auch in den engen Straßen der Metropolen durchkommen und gleichzeitig wenig Lärm machen, weil der Müll vorwiegend nachts gesammelt wird. Zudem müssen die Mülltransporter auch voll beladen noch an den vielen steilen Hügeln der Millionenstädte anfahren können.
VW liefert eine verstärkte Version einer mittelschweren Zugmaschine und rüstet sie mit einer zusätzlichen Achse aus, die bei leichter Ladung hochgezogen werden kann. Dadurch lässt sich der Dieselverbrauch reduzieren. Der Motor ist in eine geräuschdämmende Kapsel eingelegt.
Geldtransportunternehmen, Brauereien und Getränkeabfüller, Zementfirmen, Minengesellschaften und Großfarmer - für jeden Kunden entwickelt der Konzern spezielle Modelle.
Angriff aus Asien
Der Wettbewerbsvorteil durch Steuererleichterungen für die Produzenten, die ihre Produkte in Brasilien entwickeln, kommt für die deutschen Autokonzerne gerade rechtzeitig: Denn der Kampf um Marktanteile nimmt deutlich an Härte zu. Asiatische Hersteller drängen in das Land: Nissan und Suzuki aus Japan, JAC Motors und Chery aus China, Ssangyong und Hyundai aus
Korea - alle eröffnen oder bauen derzeit neue Fabriken in Brasilien. Die Autobauer lockt das Marktpotenzial: Brasilien hat nach Stückzahlen gerade Deutschland als viertwichtigsten Automarkt weltweit überholt. Und die Unternehmensberatung Roland Berger erwartet, dass Brasilien schon 2015 nach den USA und China der drittwichtigste Markt der Branche sein wird. Mit einem Fahrzeug auf sechs Einwohner ist der Markt im Vergleich zu den Industrieländern noch unterversorgt.
Bis 2026 wird sich die Zahl der Pkw-Verkäufe auf 7,2 Millionen Fahrzeuge mehr als verdoppeln, schätzt der Wirtschaftsprüfer KPMG. Brasiliens Automarkt würde dann schneller wachsen als die Märkte in China oder den USA - wenn auch auf niedrigerem Niveau.
Brasiliens hohes Pro-Kopf-Einkommen lockt auch Premiumanbieter. BMW baut erstmals eine Fabrik in Südbrasilien. Jaguar Land Rover sucht nach einem Standort. Auch Mercedes denkt über eine eigene Pkw-Fabrik im oberen Segment nach.
Für die bereits lange in Brasilien ansässigen Autobauer wie die Marktführer Fiat und VW, aber auch Ford und General Motors wird das Klima rauer: Die wachsende Konkurrenz wird die Margen drücken, darüber herrscht Konsens in der Branche - auch wenn das öffentlich keiner gerne zugibt. Die seit einigen Jahren nach Südamerika drängenden Kleinwagenhersteller aus Korea, China und Japan machen ihnen den Markt im Einstiegssegment streitig - die bisherige strategische Stärke gerade der europäischen Anbieter. Auch US-Konzerne wie General Motors oder Ford sind in Brasilien mit ihren kleineren Modellen erfolgreich, die in deren europäischen Filialen bei Opel in Rüsselsheim oder Ford in Köln entwickelt wurden.
Angriff aus Asien
Die asiatischen Hersteller greifen mit preiswerteren und großzügiger ausgestatteten Modellen an. Ihr Vorteil: Sie können mit niedrigeren Kosten arbeiten als die Platzhirsche in Brasilien. Neue Fabriken auf der grünen Wiese, importierte Teile aus China und neue Mitarbeiterverträge machen sie bei den Kosten weitaus wettbewerbsfähiger als die Konzerne, die schon seit Jahrzehnten im Land sind. Zudem haben sie eine Marketingoffensive gestartet: Die chinesische Marke JAC und Hyundai aus Korea werben massiv in den populärsten Talkshows und zwischen den beliebten Telenovelas. Deren Fahrzeuge sind heute der Konsumtraum der aufsteigenden Mittelschicht Brasiliens.
In dieser Situation stießen die etablierten Autobauer wie Fiat und VW bei der Regierung auf offene Ohren, als sie Marktschutz und einen hohen lokalen Fertigungsanteil forderten. Damit konnten sie die neuen Konkurrenten erst einmal auf Distanz halten. Denn Autobauer, die erst mit der Produktion beginnen - egal, ob Premiumanbieter wie BMW oder Billigproduzenten im Einstiegssegment wie Chery -, brauchen mehrere Jahre, bis sie die geforderte Fertigungstiefe erreichen können.
Anknüpfen an vergangene Erfolge
Ohne eine lokale Motorenproduktion etwa ist das kaum zu schaffen. Die Konzerne bekommen jetzt eine Übergangsfrist eingeräumt, in der ihnen Steuern gestundet werden. Für die Premiumanbieter wie BMW oder Jaguar Land Rover macht die Regierung sogar Zugeständnisse an die geforderten lokalen Fertigungsanteile.
Mit den neuen Fabriken und dem höheren Technologiegehalt der Fahrzeuge hat die Regierung noch ein weit ehrgeizigeres Ziel: Brasilien soll ein weltweit wichtiger Autoexporteur werden – so wie früher schon einmal. Mit dieser Strategie könnte das Land nach Ansicht von Branchenexperten durchaus Erfolg haben. Brasiliens Spezialisierung auf kleinere, sparsamere Fahrzeuge ist im globalen Wettbewerb ein Vorteil. Denn in Lateinamerika und den USA werden die Konsumenten immer mehr Kleinwagen nachfragen, schätzt Charles Krieck, Autoexperte von KPMG in Brasilien.
Komplexe Arbeitsteilung
Die entscheidende Frage wird sein, ob dann die europäischen Hersteller die Einstiegsfahrzeuge aus Brasilien exportieren werden oder ob die neuen asiatischen Konkurrenten von Brasilien aus die Nachfrage bedienen. Denn die etablierten Autobauer verlieren gerade noch einen Standortvorteil: Seit Langem arbeiten sie in Südamerika mit einer perfekten regionalen Arbeitsteilung, die Zuliefererfabriken in Argentinien einschließt. Sie haben so eine engmaschige Wertschöpfungskette mit gewaltigen Dimensionen aufgebaut.
VW etwa besitzt argentinische und brasilianische Getriebe- und Motorenwerke, Gießereien und Montagefabriken verteilt in einem Gebiet, das sich 3.000 Kilometer von Norden nach Süden erstreckt. Motorenteile werden von Argentinien nach Brasilien verschifft und in der Nähe von São Paulo zu Dieselmotoren zusammengebaut. Dort werden sie getestet, wieder zurück nach Argentinien exportiert und in Lkws eingebaut, die wiederum in einer chilenischen VW-Filiale zum Kauf angeboten werden.
Doch die Skaleneffekte in Südamerika und die Konkurrenzfähigkeit gegenüber den Asiaten sind bedroht: Argentinien verschließt wegen akuten Devisenmangels seinen Markt immer mehr für ausländische Produkte. Davon sind auch Pkws und Autoteile betroffen. Die Arbeitsteilung steht auf dem Spiel - der Wind für deutsche Autobauer in Südamerika weht schärfer.