Leif Östling ist unter den Top-Managern dieser Welt ein rar gewordener Typus. Der 68-jährige Schwede hat sein ganzes Berufsleben einem einzigen Unternehmen gewidmet. 1972 begann er seine Karriere als Praktikant beim Lkw-Bauer Scania und schaffte es bis zum Chef des skandinavischen Vorzeigekonzerns. 2012 wurde er schließlich Vorstand der Nutzfahrzeugsparte von Volkswagen, nachdem sich die Wolfsburger bei Scania und dessen deutschem Konkurrent MAN immer weiter eingekauft hatten.
Jahrelang hatte Östling versucht, Synergien zwischen Scania und MAN zu heben, um die Rendite zu pushen und die VW-Nutzfahrzeugallianz zur Nummer eins auf dem Weltmarkt zu machen.
Doch erst seit sich die Wolfsburger 2011 75 Prozent der Stammaktien von MAN und in diesem Sommer 98 Prozent der Anteile der schwedischen Scania gesichert haben, können sie ungestört durchregieren. Für diese neue Phase der Integration holte sich die VW-Spitze den 55-jährigen Andreas Renschler. Ironie des Schicksals: Renschler war zuvor neun Jahre lang Chef der Lkw- und Bussparte in Stuttgart, insgesamt hat er mehr als 20 Jahre dem Konzern gedient. Der 68-jährige Östling rückt derweil in den Aufsichtsrat der VW-Nutzfahrzeugsparte.
Boommarkt mit hohen Wachstumsraten
Doch selbst mit der Spitzenpersonalie Renschler wird es für Wolfsburg nicht einfach, größter Nutzfahrzeughersteller der Welt zu werden: Groß sind die Probleme im eigenen Laden, groß sind die technischen Herausforderungen und hart ist der Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Daimler wird zudem nicht kampflos den Spitzenplatz räumen. Volvo Trucks hat in diesem Geschäft auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und da sind die hungrigen Rivalen aus Asien wie der indische Konzern Tata und ein halbes Dutzend chinesischer Hersteller, denen die Marktforscher einen rasanten Aufstieg zutrauen.
All die Spieler lockt ein Boommarkt mit beeindruckenden Wachstumsraten. Über vier Millionen Lastwagen mit mehr als sechs Tonnen Gesamtgewicht werden die Spediteure und Transporteure nach einer Prognose des Londoner Analysehauses IHS Automotive bis 2025 weltweit kaufen. Das wären eine Million Fahrzeuge mehr als derzeit. Die Güter einer wachsenden Weltwirtschaft wollen nun einmal bewegt werden. Die größten Profite verspricht aktuell und mittelfristig der europäische Markt, auf dem High-Tech-Fahrzeuge gefordert sind – Folge der strengen Abgasnorm Euro 6 und der wachsenden Anforderungen zur Senkung der Unfallzahlen.
Die Modellpalette wurde unterschätzt
Im Grunde ist das eine gute Nachricht für Scania und MAN, die in Europa zu Hause sind. Doch die Synergien zwischen beiden Herstellern zu heben, wird noch lange dauern. Denn anders als im Pkw-Geschäft bringen die Lastwagenhersteller nicht alle 3 bis 5, sondern nur alle 10 bis 15 Jahre ein neues Modell auf den Markt. Entsprechend zeitaufwendig ist die Umsetzung von Gleicheteile-Strategien. Außerdem rechnen sie sich erst nach Jahren. Die Stückzahlen identischer Fahrzeuge sind bei der großen Bandbreite von Baumaschine, Müllwagen, Feuerwehrauto oder Sattelschlepper viel kleiner. „Mancher VW-Manager hat die Vielseitigkeit der Modellpalette unterschätzt“, unkt ein MAN-Mitarbeiter, der nicht namentlich genannt werden will.
Bis Ende 2014 würden seine Leute Synergien von jährlich rund 200 Millionen beim operativen Ergebnis erreichen, stellte Östling kürzlich klar – und das ist schon mehr als noch zu Jahresbeginn erwartet. „Innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre streben wir zusätzliche Synergien beim operativen Ergebnis von mindestens 650 Millionen Euro pro Jahr an“, so Östling. Einen maßgeblicher Teil dieser Einsparungen erwartet sich Östling durch das erste großes gemeinsames Projekt von MAN und Scania. Auf der Branchenmesse IAA in Hannover gaben die ehemaligen Konkurrenten die Entwicklung eines gemeinsamen Getriebe-Konzepts bekannt. MAN wird ab 2016 Getriebe seiner schwedischen Schwester beziehen. Diese sollten Zug um Zug bei den Baureihen des Münchener Lkw-Bauers eingeführt werden. "Wir wollen gemeinsam mit Scania auch in Zukunft bei Entwicklungsprojekten kooperieren, sofern diese nicht markenrelevant sind", sagt MAN-Truck & Bus-Chef Anders Nielsen.
Eine profitable Nische
Sicher, ein Fortschritt. Aber die Probleme bei der Integration reichen noch weiter. So lässt sich das Erfolgsrezept von Scania, aktuell der profitabelste Lkw-Hersteller der Welt, nicht einfach auf MAN übertragen. Das Produktportfolio der Münchner ist deutlich breiter. Sie stellen auch mittelschwere Lkws her, die weniger Marge abwerfen. Das Busgeschäft, in dem MAN stärker ist als Scania, schwächelt obendrein seit fünf Jahren.
Scania hat bei Trucks ab zwölf Tonnen seine profitable Nische auf dem europäischen Markt gefunden. Mit dem Claim „König der Straße“ ziehen die Schweden vor allem die klassischen Ein-Mann-Betriebe an, die im eigenen Truck für mehrere Kunden auf Achse sind. Wer selbst fährt, gönnt sich mehr. Scania kann daher höhere Preise durchsetzen. Doch das Wachstum in diesem Segment ist begrenzt.
Die Marktanteile der fünf größten Lkw-Marken
Daimler-Freightliner: 29 Prozent
Navistar International: 16 Prozent
Ford: 15 Prozent
Paccar Kenworth: 11 Prozent
Paccar Peterbilt: 8 Prozent
Sonstige: 21 Prozent
Werte gerundet und inklusive erwarteter Marktanteile für 2014
Quelle: IHS Automotive
Volkswagen: 20 Prozent
Mercedes-Benz: 20 Prozent
Volvo: 12 Prozent
Ford: 12 Prozent
VW-Scania: 10 Prozent
Sonstige: 26 Prozent
Werte gerundet und inklusive erwarteter Marktanteile für 2014
Quelle: IHS Automotive
Mercedes-Benz: 23 Prozent
VW MAN: 17 Prozent
Paccar DAF: 15 Prozent
Volvo: 11 Prozent
Iveco: 11 Prozent
Sonstige: 23 Prozent
Werte gerundet und inklusive erwarteter Marktanteile für 2014
Quelle: IHS Automotive
Mercedes-Benz: 15 Prozent
Kamaz: 15 Prozent
VW MAN: 9 Prozent
Volvo: 9 Prozent
VW-Scania: 8 Prozent
Sonstige: 44 Prozent
Werte gerundet und inklusive erwarteter Marktanteile für 2014
Quelle: IHS Automotive
Dongfeng: 16 Prozent
FAW Jiefang: 11 Prozent
CNHTC: 10 Prozent
Foton-Daimler: 9 Prozent
Tata: 8 Prozent
Sonstige: 46 Prozent
Werte gerundet und inklusive erwarteter Marktanteile für 2014
Quelle: IHS Automotive
Denn der weitaus größere Teil der Lkws geht an Flotten riesiger Logistikunternehmen. Für sie ist beim Kauf in erster Linie wichtig, wie viel ein Fahrzeug über seinen gesamten Nutzungszeitraum pro Kilometer oder pro Tonne Nutzlast kostet. Jörg Gnamm, Partner und Nutzfahrzeugexperte beim Beratungshaus Bain & Company: „Das Image der Lkw-Marke beeinflusst im Vergleich zu Nutzwert oder Service immer weniger die Kaufentscheidung.“ Das sei in den vergangenen 20 Jahren klar zu erkennen, in denen die Berater regelmäßig Geschäftsführer, Trucker und Einkaufsmanager zu Kaufentscheidungen befragt haben.
Der Trend geht von Hard- zu Software
Für die Lkw-Hersteller wird daher das Geschäft nach dem Verkauf immer wichtiger. Scania und Daimler ist es besonders gut gelungen, Kunden über umfassende Rundum-sorglos-Pakete an sich zu binden. Dazu zählen nicht nur Inspektionen oder die Versorgung mit Originalersatzteilen, sondern weitreichende technische Lösungen, mit denen Logistikunternehmer bares Geld sparen. Für Sebastian Gundermann, Partner bei der Beratung Roland Berger in München, geht der Trend von der Hard- zur Software: „Integrierte Telematiksysteme und Flottenlösungen sind die Dienstleistungen, über die Lkw-Hersteller ihren Kunden echten Mehrwert bieten und sich damit von anderen Hersteller abgrenzen können.“
Östling sieht das ähnlich. Seiner Schätzung nach könne sich der Umsatzanteil des Dienstleistungsgeschäfts in der VW-Nutzfahrzeugsparte „von heute 20 bis 25 Prozent in zehn Jahren auf etwa 35 Prozent erhöhen“. MAN habe in dem Bereich noch Potenzial, umschreibt der scheidende Chef diplomatisch den Rückstand des Münchner Konzerns.
Damit nicht genug. Die VW-Leute müssen dringend Lücken auf der Weltkarte schließen, wenn sie schneller wachsen wollen. So führt kein Weg an einer Akquisition auf dem nordamerikanischen Markt vorbei. Denn auch hier ist Daimler den Wettbewerbern mit Marken wie Western Star und Freightliner weit voraus (siehe Grafik Seite 78). Gerüchte, nach denen VW sich den US-Konzern Paccar – zu dem in Europa die Marke DAF zählt – einverleiben will, wurden dementiert. Die Risiken einer solchen Übernahme sind VW bewusst, denn der amerikanische Markt tickt völlig anders als der europäische. Die US-Trucker bevorzugen Laster mit langer Motorhaube.
Aufgrund der Limitierung der Gesamtlänge sind die Langhauber in Europa selten, die Fronthauber Standard: Fahrerkabine und Motor sind hier eine Einheit. Und über die technischen Details der Lkws bestimmen auf dem US-Markt weniger die Hersteller als große Leasing- und Mietfirmen, die die Hälfte aller Trucks einkaufen.
Innovative Trucks sind kaum gefragt
Selbst in Asien – für Volkswagen im Pkw-Geschäft eine Goldgrube – wird es schwer werden. Innovative Trucks sind dort kaum gefragt. Die Kluft zwischen Spitzenprodukten aus dem Westen und dem Standard im Fernen Osten ist immens. In Indien gibt es kaum Straßen, die Lkws kaum schneller als mit 25 Stundenkilometern befahren können. Dort dominieren robuste Einfachlaster wie von Tata. Dem indischen Konzern sagen die Analysten von IHS Automotive das größte Wachstum nach verkauften Einheiten bis 2025 voraus (siehe Grafik) und damit weltweit Rang zwei.
Wolfgang Bernhard, der neue Chef der Daimler Nutzfahrzeugsparte, kann also erst einmal gelassen zusehen, wie Ex-Kollege Renschler sich bei Volkswagen abmüht. Die Stuttgarter sind international viel breiter aufgestellt – mit eigenen Marken in den USA, einer Kooperation mit Kamaz in Russland und den Joint Ventures Bharat Benz in Indien sowie Beijing Foton und Aumann in China. Dort will Bernhard vor allem über das Gemeinschaftsunternehmen mit dem chinesischen Hersteller Foton weiter expandieren.
Vor zwei Jahren rollte der erste Lastwagen der Marke Aumann aus dem Werk Huairou bei Peking vom Band. Mittlerweile liegt die Jahresproduktion bei 100 000 Stück. Roland-Berger-Partner Norbert Dressler sieht mittel- bis langfristig noch Potenzial: „China braucht leistungsfähige Fernverkehrs-Lkws, um die Transporteffizienz zu erhöhen. In diesem Segment haben die europäischen Hersteller mehr zu bieten als die chinesischen.“
Das Analysehaus IHS Automotive geht davon aus, dass Daimler seine Nummer-eins-Position wenigstens noch bis 2025 halten wird und die Volkswagen-Gruppe hinter Tata auf Rang drei vorrückt. Volvo wird voraussichtlich auf Platz vier landen. Noch im Mai 2013 sah es so aus, als stiegen die Schweden über Nacht zum größten Lkw-Hersteller der Welt auf. Eine Fusion mit dem chinesischen Hersteller Dongfeng bahnt sich an. Die EU-Kommission hat der Zweckehe bereits ihren Segen erteilt. Volvo darf demnach 45 Prozent der Anteile an Dongfeng Commercial Vehicles erwerben. Doch der asiatischen Braut fehlt noch das Ja des chinesischen Handelsministeriums.
Ex-Daimler-Manager Renschler hat sich ein turbulentes Schlachtfeld ausgesucht, um seinen ehemaligen Kollegen zu beweisen, was in ihm steckt.