Nun ergreift Diess mit der Strategie "Transform 2025+" die Chance: Während Müller viel Kraft in die Aufarbeitung des Dieselskandals stecken muss, steht der Markenchef mit der Verkündung der Zukunftsthemen im Scheinwerferlicht. Der 58-Jährige rechnet zudem schonungslos mit der Vergangenheit unter dem früheren Konzernchef Martin Winterkorn ab, dessen ehrgeizige Wachstumsziele als Mitgrund für die Dieselmanipulation gelten. Die Marke VW soll wieder sympathischer werden. "Arroganz gehört der Vergangenheit an", sagte Diess.
Seinem Vorgänger, der die Hauptmarke in Personalunion neben dem Amt als Konzernchef führte, warf Diess indirekt Versäumnisse vor: Die Fixkosten seien stark gestiegen, gleichzeitig sei VW bei der Produktivität nicht auf Augenhöhe mit den direkten Wettbewerbern. Für die USA fehle seit Jahren ein Erfolgskonzept und in aufstrebenden Märkten wie Brasilien und Indien verliere Volkswagen an Boden. "Teilweise haben wird auch Marktentwicklungen verschlafen."
Spar- und Sanierungsprogramme bei Volkswagen
Im Jahr des Amtsantritts des späteren VW-Patriarchen Ferdinand Piëch als Vorstandschef steckt der Konzern in einer tiefen Krise. Er produziert im Vergleich mit der globalen Konkurrenz viel zu teuer, es droht die Entlassung von bis zu 30.000 Beschäftigten.
Peter Hartz, von Piëch eingestellter Personalvorstand und späterer Entwickler der Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder, kann den Kahlschlag abwenden. Er führt in enger Abstimmung mit dem Betriebsrat und der IG Metall unter anderem die Vier-Tage-Woche bei Volkswagen ein - eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Auch der umstrittene „Kostenkiller“ und Ex-General-Motors-Manager José Ignacio López bringt den verlustreichen Konzern finanziell wieder auf Kurs.
Die Hauptmarke Volkswagen-Pkw fährt chronisch niedrige Erträge ein - eine deutliche Parallele zur heutigen Lage. Nach monatelangen Verhandlungen zum neuen Haustarifvertrag bei VW einigen sich die Parteien auf eine Abkehr von der Vier-Tage-Woche. Als Gegenleistung für die wieder deutlich längeren Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich verlangt die IG Metall vom Unternehmen verbindliche Zusagen für die langfristige Zukunft der sechs westdeutschen Werke.
Nachdem Kernmarken-Chef Wolfgang Bernhard mit Stellenstreichungen und Produktionsverlagerungen gedroht hat, verlässt er den Konzern. VW kann dennoch die Kosten senken und die Wettbewerbsfähigkeit steigern.
Nach Jahren satter Gewinne dümpelt die Marke mit dem VW-Emblem - gemessen an der Marge (Anteil des Gewinns am Umsatz) - im Branchenvergleich erneut vor sich hin. Zugleich muss der Gesamtkonzern die Milliardenlasten des Abgas-Skandals verdauen und sich stärker auf die Zukunftsthemen der Branche konzentrieren.
Der „Zukunftspakt“ soll daher den Spardruck, den Umbau in Richtung E-Mobilität, Digitalisierung und Dienstleistungen sowie das Interesse der Belegschaft an sicheren Jobs und Standorten in die Balance bringen. Nach Monaten des Ringens steht fest: Dies wird nicht ohne Zugeständnisse bei den Jobs gehen. 30.000 Stellen sollen weltweit bis 2020 auslaufen, betriebsbedingte Kündigungen soll es nicht geben - stattdessen soll der Abbau etwa über Altersteilzeiten erreicht werden.
Um die Fehler der Vergangenheit auszumerzen, will Diess die Kosten - auch durch den massiven Personalabbau - bis 2020 um 3,7 Milliarden jährlich senken. So will er die Mittel freischaufeln, um in die Elektromobilität, Vernetzung und autonomes Fahren zu investieren. Insgesamt sind dafür in den kommenden Jahren rund 3,5 Milliarden Euro geplant. Die E-Offensive soll auch durch den Wegfall von weniger nachgefragten und ertragsschwachen Modellen und Varianten finanziert werden - allein 2,5 Milliarden Euro würden dadurch frei.
Autoexperte Arndt Ellinghorst von Evercore ISI begrüßte den Strategieschwenk: "Kein Zweifel, VW wird elektrisch." Es sei Zeit für ein echtes Bekenntnis der Autobauer. "Halbherzige Schritte in die Elektromobilität haben sich als erfolglos erwiesen."
Parallel dazu bläst Diess in den USA zur Aufholjagd, wo VW schon vor der Abgaskrise ein Nischenanbieter war. Auf dem nach China zweitgrößten Pkw-Markt wollen die Niedersachsen zunächst mit großen SUV und Limousinen punkten. Später sollen Elektroautos auf den Markt kommen, ab 2021 lokal produziert. Bis VW den Anschluss an die Platzhirsche wie General Motors, Ford oder Toyota hat, dürften allerdings wohl zehn Jahre vergehen. Ab 2020 wolle man in Nordamerika zumindest wieder schwarze Zahlen schreiben, "und das dauerhaft", kündigte Diess an. Auch in Südamerika will bis dahin aus den roten Zahlen kommen. "Wir wollen nicht nur in Europa und China profitabel sein, sondern haben uns vorgenommen, bis 2020 in allen großen Märkten positive Ergebnisse zu erwirtschaften."
Mit seiner E-Offensive ist VW nicht allein in der Branche. Daimler will bis Mitte des nächstens Jahrzehnts mindestens zehn neue Elektroautos auf den Markt bringen. BMW will die Entwicklung von E-Mobilen kräftig anschieben, ebenso der japanische Rivale Toyota, der sich bei Verbrennungsmotoren mit Volkswagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Weltmarktführung liefert.