VW-Chef Matthias Müller "Mehr Demut steht uns gut"

Erst die Aufklärung des Abgasskandals, dann die Neuausrichtung, jetzt Milliarden-Klagen in den USA: VW-Chef Müller hat schwere Wochen hinter sich. Im Interview schildert er die Ursachen und Wirkungen der Dieselaffäre.

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VW-Chef Matthias Müller über Diesel-Affäre. Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Herr Müller, im März dieses Jahres waren Sie noch Chef von Porsche. Damals sagten Sie der WirtschaftsWoche: „Der Nachfolger von Martin Winterkorn wird es schwer haben. Die Gefahr, dabei verschlissen zu werden, ist hoch.“ Seit einem Vierteljahr sind Sie nun Nachfolger von Winterkorn. Spüren Sie bereits Verschleiß?
Matthias Müller: Graue Haare hatte ich vorher schon und Falten auch (lacht). Der neue Job ist anstrengend, klar. Aber ich betrachte ihn als Herausforderung. Ganz neu ist so eine Situation für mich ja nicht. Als ich 2010 zu Porsche nach Stuttgart kam, war das Unternehmen ebenfalls in einer schwierigen Lage. Bei VW wird die Neuausrichtung sicher länger dauern als bei Porsche. Volkswagen hat eine ganz andere Dimension. Wir werden mehr Geduld brauchen. Aber ich spüre: Es geht voran.

Weil sich der Verdacht, dass VW die CO2-Werte manipuliert haben könnte, inzwischen als Luftnummer erwiesen hat?
Eine Luftnummer würde ich den CO2-Verdacht nicht nennen, er schien ja zunächst begründet. Aber es freut uns natürlich, dass sich nach intensiver Zusammenarbeit mit dem Kraftfahrtbundesamt die Dinge zum Guten gewendet haben.

Zur Person

Wissen Sie denn schon, wie Sie bei den nach USA gelieferten Dieselautos die Stickoxid-Emissionen reduzieren werden?
Wir haben auch dafür Lösungen entwickelt. Die besprechen wir derzeit mit den US-Umweltbehörden CARB und der EPA. Erst wenn deren Zustimmung vorliegt, können wir öffentlich darüber reden. Ich denke, wir werden schon in den nächsten Wochen klarer sehen.

Wann beginnt der Rückruf in den USA?
In Deutschland und Europa starten wir im Januar. Wir haben für alle drei betroffenen Motoren technische Lösungen entwickelt, die vom Kraftfahrtbundesamt (KBA) bestätigt wurden. In den USA ist der Terminplan Teil der Absprachen mit den Behörden. Im Sinne unserer Kunden gehen wir das auch dort so schnell wie möglich an.

Werden Sie in den USA die Diesel-Offensive fortsetzen?
Es gibt für mich keinen Grund, dies nicht zumindest zu versuchen.

Keinen Grund? Das Image des Dieselmotors in den USA ist doch so sehr beschädigt, dass sie sogar fürchten müssen, ohne Diesel die Grenzwerte für den CO2-Ausstoß ihrer Fahrzeugflotte nicht erreichen.
Das Problem ist von grundsätzlicher Bedeutung. Wir von Volkswagen haben beim Diesel einen schweren Fehler gemacht. Deshalb diese Technologie in Bausch und Bogen zu verdammen, wäre jedoch falsch. Zum einen sind moderne Dieselmotoren heute sehr effizient und schadstoffarm. Zum anderen wird es ohne den Diesel für unsere Industrie kaum möglich sein, die CO2-Ziele im gesteckten Zeitfenster zu erreichen. Erst zwischen 2020 und 2025 werden Elektroantriebe bei den Kosten mit Verbrennungsmotoren gleichziehen. Dann erst wird die Nachfrage in Richtung E-Autos drehen. Bis mindestens dahin brauchen wir den Diesel.

Das sagen Analysten zu Matthias Müller als neuem VW-Chef

VW will die Dieselautos in Europa mit einer neuen Software ausstatten oder mit einem Strömungsgleichrichter nachrüsten. Können Sie garantieren, dass sich dies nicht nachteilig auf den Verbrauch oder Fahrleistung auswirkt?
Unser Ziel ist es, dass es keine nennenswerten Auswirkungen auf Verbrauch und Fahrleistung gibt. Selbst wenn sich der Verbrauch im Testzyklus geringfügig um 0,1 Liter erhöhen sollte,  muss man immer bedenken, dass der tatsächliche Verbrauch in erster Linie vom Fahrverhalten abhängt.

Warum gibt es nicht längst einen neuen Messzyklus, der den tatsächlichen Kraftstoffverbrauch, also im Alltagsverkehr, realistischer wiedergibt als die aktuellen Messverfahren?
Wenn die Krise ein Gutes hat, dann dass diese Debatte jetzt unumkehrbar geworden ist. Wenn es um Grenzwerte geht, brauchen wir den Mut zu mehr Ehrlichkeit. Die branchenweit bestehenden Diskrepanzen zwischen offiziellen Prüfwerten und Realverbrauch sind nicht mehr vermittel- und hinnehmbar.

Das neue Who is Who im VW-Konzern
Stefan Knirsch Quelle: Audi
Hinrich Woebcken Quelle: dpa
Neuer Generalbevollmächtigter für die Aggregate-Entwicklung: Ulrich EichhornVolkswagen hat einen neuen Koordinator für die Aggregate-Entwicklung auf Konzernebene. Der WirtschaftsWoche bestätigte Ulrich Eichhorn, dass er im Frühjahr zu VW zurückkehrt. Der 54-Jährige kommt vom Verband der Deutschen Automobilindustrie (VDA), wo er die Verantwortung für die Bereiche Technik und Umwelt inne hatte. Zuvor war Eichhorn neun Jahre lang Entwicklungsvorstand bei der VW-Tochter Bentley. Eichhorn wird nicht Mitglied des Vorstands, sondern berichtet als Generalbevollmächtigter direkt an VW-Chef Matthias Müller – ähnlich wie der neue Chef-Stratege Thomas Sedran. Quelle: Presse
Der neue Generalbevollmächtigte für Außen- und Regierungsbeziehungen: Thomas StegEs ist kein Wechsel der Funktion, sondern der Zuordnung: Thomas Steg ist seit 2012 Generalbevollmächtigter des Volkswagen-Konzerns für Außen- und Regierungsbeziehungen. Bislang war dieser Bereich Bestandteil der Konzernkommunikation. Jetzt ist das Team um Steg als eigenständiger Bereich in das Ressort von VW-Chef Matthias Müller zugeordnet, an den Steg persönlich berichtet. Der diplomierte Sozialwissenschaftler wird zusätzlich das Thema Nachhaltigkeit verantworten. „Mit der Bündelung der Konzernzuständigkeiten und der neuen Zuordnung des Themas Nachhaltigkeit trägt Volkswagen dessen wachsendem Gewicht Rechnung“, teilte der Konzern mit. Steg begann seine berufliche Laufbahn 1986 als Redakteur der Braunschweiger Zeitung. Danach war er Pressesprecher zunächst des DGB Niedersachsen/Bremen, ab 1991 des Niedersächsischen Sozialministeriums und ab 1995 der SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen. 1998 übernahm er im Bundeskanzleramt die stellvertretende Leitung des Büros von Bundeskanzler Gerhard Schröder, ab 2002 war er stellvertretender Regierungssprecher, ab 2009 selbstständiger Kommunikationsberater. Quelle: Presse
Der neue VW-Entwicklungsvorstand: Frank WelschKurz nach dem Bekanntwerden von Dieselgate wurde der Entwicklungsvorstand der Marke VW, Heinz-Jakob Neußer, beurlaubt. Bei der Aufsichtsratssitzung am 9. Dezember ernannte das Kontrollgremium Frank Welsch zu seinem Nachfolger. Der promovierte Maschinenbau-Ingenieur ist seit 1994 im Konzern. Über verschiedene Stationen in der Karosserie-Entwicklung, als Entwicklungsleiter in Shanghai und Leiter der Entwicklung Karosserie, Ausstattung und Sicherheit der Marke Volkswagen arbeitete er sich zum Entwicklungsvorstand von Skoda hoch. Diesen Posten hatte Welsch seit 2012 inne.Sein Vorgänger Neußer verlässt den Konzern allerdings nicht, sondern steht laut VW-Mitteilung "dem Unternehmen für eine andere Aufgabe zur Verfügung". Quelle: Volkswagen
Der neue VW-Beschaffungsvorstand: Ralf BrandstätterRalf Brandstätter wird Vorstand für Beschaffung der Marke Volkswagen. Der 47-Jährige folgt in seiner neuen Funktion auf Francisco Javier Garcia Sanz, der die Aufgabe als Markenvorstand in Personalunion zusätzlich zu seiner Funktion als Konzernvorstand für den Geschäftsbereich Beschaffung wahrgenommen hatte. In Zukunft wird Garcia Sanz zusätzlich zu seinen Aufgaben als Konzernvorstand Beschaffung die Aufarbeitung der Diesel-Thematik betreuen. Brandstätter kam 1993 in den Konzern. Seit dem ist der Wirtschaftsingenieur in verschiedensten Posten für die Beschaffung verantwortlich gewesen, zuletzt als Leiter Beschaffung neue Produktanläufe. Zwischenzeitlich war er auch Mitglied des Seat-Vorstands. Seit Oktober 2015 ist Brandstätter auch Generalbevollmächtigter der Volkswagen AG. Brandstätter berichtet wie der ebenfalls neu berufene Entwicklungschef Frank Welsch direkt an VW-Markenvorstand Herbert Diess. Quelle: Volkswagen
Neuer VW-Personalvorstand: Karlheinz BlessingMitten in der größten Krise der Konzerngeschichte bekommt Volkswagen mit dem Stahlmanager Karlheinz Blessing einen neuen Personalvorstand. Der Aufsichtsrat stimmte am 9. Dezember bei seiner Sitzung dem Vorschlag der Arbeitnehmerseite für den vakanten Spitzenposten bei Europas größtem Autobauer zu. Blessing folgt damit auf den bisherigen Personalvorstand Horst Neumann, dieser war Ende November in den Ruhestand gegangen. Der Ernennung war eine lange Suche nach einem geeigneten Kandidaten vorausgegangen. Blessing (58) ist seit 2011 Vorstandsvorsitzender der Stahlherstellers Dillinger Hütte. Zuvor war er Büroleiter des damaligen IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler und Anfang der 1990er Jahre Bundesgeschäftsführer der SPD. 1993 ersetzte er als Arbeitsdirektor bei der Dillinger Hütte Peter Hartz, der damals zu VW nach Wolfsburg ging. Blessing sei gut in der IG Metall vernetzt, habe aber auch unternehmerische Erfahrung, hieß es in den Konzernkreisen. Quelle: dpa

… aber doch weil die Lobbyisten der Autohersteller alles gegen eine Verschärfung unternehmen.
Das ist falsch. Die Autoindustrie steht da nicht auf der Bremse, das möchte ich betonen.

"Jede Schätzung wäre zu vage"

Der Volkswagen-Konzern hat bislang 6,7 Milliarden Euro für Belastungen durch die Abgasaffäre zurückgestellt. Bleibt es dabei, obwohl der Aufwand für die technischen Maßnahmen geringer ausfällt?
Richtig ist, dass die Lösungen für Europa weniger aufwändig sind, als zunächst befürchtet. Aber diese Summe haben wir ja für den weltweiten Rückruf zurückgestellt.

Hinzu kommen doch aber sicher noch Strafzahlungen und Bußgelder durch die US-Behörden. Womit rechnen Sie hier?
Das lässt sich noch nicht seriös absehen. Jede Schätzung wäre zu vage.

Wie viele Kunden haben VW denn inzwischen auf Schadenersatz verklagt?
In den USA gibt es derzeit rund 650 Sammelklagen. In den anderen Ländern lässt sich das noch nicht genau beziffern.

Vermintes Gelände – Volkswagen und die USA

Wie lang werden Sie dulden müssen, dass US-Anwälte VW intern auf den Zahn fühlen?
Das liegt nicht in unserer Hand.

Das wird sicher auch davon abhängen, wie schnell die Aufklärung vorangeht. Haben Sie denn wenigstens schon eine Ahnung, wie es zu der größten Krise in der Volkswagen-Geschichte kommen konnte?
Wir sehen da inzwischen klarer. Aber noch läuft der Prozess der Aufklärung. Ich verstehe die Ungeduld: Aber gerade, weil es hier auch um Menschen geht, und weil eine saubere Aufarbeitung für die Zukunft des Konzerns so wichtig ist, muss Sorgfalt das höchste Gebot sein.

Steht inzwischen fest, wer an den Vergehen alles mitgewirkt hat?
Nein, mit Sicherheit noch nicht. Denn noch längst sind nicht alle Daten ausgewertet. Das wird sich noch mindestens bis in das erste Quartal 2016 hinziehen. Wir gehen weiterhin von einer überschaubaren Zahl von Mitarbeitern aus. Wir wollen aber nicht nur die Schuldigen finden, sondern vor allem auch die Schwächen in den Abläufen identifizieren und diese schnellstmöglich abstellen. Das macht die Sache so komplex.

Nach allem, was man bis heute weiß, war der Ausgangspunkt der Affäre die Entscheidung des VW-Konzernvorstands, in den USA eine Dieseloffensive mit einem Motor zu starten, der drehfreudig, aber auch besonders sparsam und emissionsarm sein sollte.
Das stimmt wohl und war ja nicht verkehrt...

… doch dann ging den Entwicklern erst das Geld aus, dann lief ihnen die Zeit davon und den Ingenieuren fehlte der Mut, den Vorgesetzten von den Problemen zu berichten. Geben wir das richtig wieder?
Ich denke ja. Aber es kam eben auch der Ehrgeiz der Ingenieure dazu, besonders innovative Lösungen zu finden. Dabei fehlte einigen Wenigen offenbar leider das Gespür für Recht und Gesetz. Auf ihre vermeintliche Lösung des Problems waren sie möglicherweise sogar noch stolz. Deshalb gab es für sie auch keinen Grund, Vorgesetzte zu informieren. Dass die Lösung gesetzeswidrig sein könnte, kam ihnen vielleicht gar nicht in den Sinn. Aber all das ist Gegenstand der laufenden Untersuchungen. Und damit das ganz klar ist: für mich ist ein solches Verhalten nicht tolerabel.

Sie selbst waren 2005 Chefkoordinator der Audi-Gruppe, später steuerten Sie die Produktstrategie des VW-Konzerns. Da wollen Sie nichts von diesem Kampf der Motorenentwickler gegen zu hohe Emissionswerten mitbekommen haben?
Ich verstehe, dass das für manche vielleicht schwer nachvollziehbar ist. Aber so funktionieren große Automobilunternehmen nicht. Meine Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten erstreckten sich auf die übergeordnete Planung von Fahrzeug-Zyklen. Ich wurde zum ersten Mal mit der Abgasthematik konfrontiert, als die EU 2008 die neuen CO2-Grenzwerte für Autos beschloss. Wir haben damals lediglich erörtert, wie anspruchsvoll diese neuen Grenzwerte sind. Das war aber eine allgemeine Diskussion, es ging nicht um technische Details.

"Der Begriff Schummelsoftware ist nicht zutreffend"

Volkswagen hatte doch aber in den USA schon länger Probleme und musste Ende 2014 eine halbe Million Autos zurückgerufen. Auch damit hat sich der Konzernvorstand nicht befasst?
Nein, den Kontakt zu den US-Umweltbehörden EPA und CARB hielt das mittlere Management. Ingenieure von  VW stehen dort in direktem Austausch.

Ein Rückruf von einer halben Million Autos ist ja wohl kein normaler Vorgang.
Das ist aber auch nichts Außergewöhnliches. Als Vorstandsvorsitzender bekommt man jede Woche einen zwei bis drei seitigen Bericht auf den Tisch, in denen besondere Vorkommnisse und auch Aktionen aufgeführt werden, wohl gemerkt, jede Woche. Das ist ganz normal in unserer Industrie.

Wenn die von Ihrem Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch beschriebene Fehlerkette bis ins Jahr 2005 zurückreicht, müssen dann nicht auch der damalige VW-Konzernchef Bernd Pischetsrieder und sein VW-Markenchef Wolfgang Bernhard befragt werden?
Das kann ich nicht beurteilen. Sollte es Anhaltspunkte geben, wird man beide sicher auch befragen müssen. Auch das ist ein normaler Vorgang in solchen Fällen.

Die Folgen von Dieselgate

Wie fühlt man sich als Chef eines Unternehmens, das vermutlich noch viele Jahre für den Begriff Schummelsoftware stehen wird?
Diesen Begriff finde ich nicht zutreffend.

Wie sollen wir die Software sonst nennen?
Eine technische Lösung, die nicht zugelassen war.

... also illegal.
Es wurden in einzelnen Bereichen des Unternehmens schwere Fehler gemacht. Ich wehre mich aber dagegen, wenn VW generell kriminelles Verhalten unterstellt wird.

Die lange Liste der Offenbarung
VW Passat US-Version, Modelljahrgang 2016 Quelle: PR
Betroffen: Seat Ibiza (falsche Werte bei CO2-Zertifizierung angegeben) Quelle: PR
Auch bei den Benzinern gibt es Probleme, und zwar mit dem CO2 Quelle: PR
Betroffen? Skoda-Modelle online prüfen. Quelle: PR
Skoda Yeti Quelle: PR
Weltweit sind bei Skoda rund 1,2 Millionen Fahrzeuge von der Abgas-Thematik betroffen. Quelle: PR
Skoda Octavia Quelle: PR

Kriminell haben wir das Verhalten auch nicht genannt.
Aber so kommt es in der öffentlichen Darstellung oft rüber. Und das kann man wirklich nicht so stehen lassen. Kriminell heißt für mich, dass sich Leute an einer Sache bereichern und anderen bewusst schaden. Das hat bei uns niemand getan. Unsere Fahrzeuge sind sicher und fahrbereit. Ich weiß um die Bedeutung der Stickoxide für die Qualität, aber wir dürfen uns nichts vormachen, für viele Kunden ist die Stickoxid-Thematik weniger relevant, als andere Fahrzeugeigenschaften.

Wollen Sie damit etwa sagen, für NOx, also für Stickoxid aus dem Auspuff interessiert sich niemand?
Natürlich nicht. Ich möchte nur über die Bedeutung und Einschätzung der ganzen Angelegenheit sprechen. Und ich wehre mich dagegen, wenn dieses Unternehmen und seine Mitarbeiter in die kriminelle Ecke gedrängt werden. Dass so ein riesiger Tsunami auf uns zu rollen würde, hat lange keiner erkennen können.

Weil keiner damit rechnete, dass der Betrug auffliegen würde?
Das glaube ich nun wirklich überhaupt nicht. Auch die Suspendierten arbeiten absolut kooperativ mit und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.

"Bescheiden, aber selbstbewusst auftreten"

Trotzdem haben Sie erklärt, dem Volkswagenkonzern einen Kulturwandel zu verordnen. Wie müssen wir uns das vorstellen?
So etwas zu ‚verordnen‘, geht gar nicht. Ich stelle mich ja nicht mit dem Megafon ans Werkstor und rufe ein neues Denken aus. Ich versuche es schlicht und ergreifend vorzuleben. Das nehmen unsere Leute wahr und erzählen es weiter.

Was sollen sie denn sehen und weitererzählen?
Zum Beispiel, dass wir weniger Geld ausgeben und bescheidener auftreten - und trotzdem selbstbewusst.

Was noch?
Wenn ich mittags in der Kantine esse, ist das für die Mitarbeiter ein Signal, dass ich nahbar und ansprechbar bin. Damit erreicht man mehr als mit Appellen.

Sie haben auch eine Gehaltskürzung für den Vorstand angeregt...
Dabei geht es um den Bonus für 2015. Es ist doch klar, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen, und zwar auf allen Ebenen vom Vorstand bis zum Tarif-Mitarbeiter. Auch hier muss die Unternehmensspitze Vorbild sein.

Gilt das für Ihre Konzerntöchter Audi und Porsche, die dicke Gewinne einfahren?
Ja, natürlich. Wir sind eine Familie. Das gilt in guten wie in schlechten Zeiten.

Auf wie viel verzichten Sie persönlich?
Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Die ersten sechs Wochen habe ich ganz ohne Vertrag gearbeitet. Ich weiß bis heute nicht, was ich in Summe verdienen werde. Das ist auch nicht mein Antrieb.

Diese Zulieferer sind besonders abhängig von Volkswagen
ThyssenKrupp Quelle: dpa
LEoni Quelle: dpa
Rheinmetall Quelle: dpa
ZF Friedrichshafen Quelle: dpa
Continental Quelle: dpa
US-Zulieferer Delphi Automotive Quelle: dpa Picture-Alliance
Elring-Klinger Quelle: dpa

Respekt, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Werte schaffen: Nach diesen Prinzipien hatte schon Ihr Vorvorgänger Bernd Pischetsrieder 2003 vergeblich versucht, bei VW eine neue Kultur schaffen. Warum soll es Ihnen jetzt gelingen?
Warum es damals nicht geklappt hat, kann ich nicht sagen. Mit dem Begriff „neue Kultur“ bin ich vorsichtig – das impliziert, VW hätte keine Kultur. VW hat ja eine gute Unternehmenskultur, eine starke Identität. Darauf lässt sich aufbauen. Aber klar: Es gibt auch Veränderungsbedarf.

Manche sagen, es ging in den vergangenen Jahren doch sehr selbstgefällig zu.
Das sagen Sie. Ich persönlich habe das so nicht erlebt.

Na ja, jemand sagte uns kürzlich, einige VW-Manager hätten bis zur Abgasaffäre das Gefühl gehabt, über Wasser gehen zu können.
Bei einem Konzern, der über Jahre so erfolgreich ist, steigt natürlich das Selbstbewusstsein. Die Grenze zwischen Selbstbewusstsein und Selbstgefälligkeit ist dann fließend. Vielleicht haben tatsächlich einige geglaubt, sie seien unantastbar und unschlagbar. Damit meine ich übrigens nicht meinen Vorgänger.

"Habe mehrmals mit Winterkorn telefoniert"

Reden Sie noch mit Martin Winterkorn?
Ja, wir haben seit meinem Amtsantritt drei, vier Mal telefoniert. Und wir werden auch weiter Kontakt halten. Das ist mir wichtig. Ich habe großen Respekt vor seiner Lebensleistung und kann nachfühlen, wie es ihm jetzt geht.

Immerhin soll er noch bis Ende 2016 von VW bezahlt werden.
Zu Verträgen des Vorstandes äußert sich der Aufsichtsrat.

Unter Winterkorn wurden die Abendempfänge auf Automessen zu pompösen Veranstaltungen. Ist es damit vorbei?
Unter „pompös“ verstehe ich zwar etwas anderes, aber ja, das wollen wir so nicht mehr. Etwas mehr Demut und Bescheidenheit steht uns auch hier gut an. Zugleich spart uns das viel Geld, einige Millionen Euro pro Veranstaltung. Bei vier bis fünf derartigen Messen im Jahr kommt da eine erkleckliche Summe zusammen. Auch hier geht es mir vor allem darum, Zeichen zu setzen.

Eine schöne Summe käme sicher auch zusammen, wenn Sie die Gläserne Manufaktur in Dresden schließen und die Produktion des VW Phaeton dort beenden würden. Warum ziehen Sie da keinen Schlussstrich?
Die Gläserne Manufaktur in Dresden ist Bestandteil unserer geplanten Neuausrichtung und hat ihren Platz unter unseren 120 Werken. Und die Arbeitsplätze wollen wir auch erhalten. Der Phaeton wird jetzt neu positioniert. Er kommt als voll vernetzte, rein elektrisch angetriebene Limousine. Die Marke VW braucht so einen Leuchtturm.

Sind Sie so vorsichtig, weil Sie den Streit mit dem Betriebsrat fürchten? Im Vorfeld der nun beschlossenen Entlassung von 600 Leiharbeitern bei VW Sachsen hat es sofort rumort.
Bei uns rumort gar nichts. Die Gespräche mit dem Betriebsrat und seinem Vorsitzenden Bernd Osterloh verlaufen absolut sachlich und kooperativ.

Wenn der Volkswagen-Konzern, besonders die Marke VW, effizienter werden soll, werden Sie um den Abbau von Arbeitsplätzen bei VW nicht herumkommen.
Wir haben klar gesagt, dass wir Stammarbeitsplätze erhalten wollen. Leiharbeiter sind in der gesamten Autoindustrie eine Flexibilitätsreserve, die mal auf- mal abgebaut wird. Sie wissen, dass Volkswagen mit diesem Instrument sehr verantwortungsvoll umgeht. Seit 2006 haben wir in Deutschland rund 16.000 Leiharbeitnehmer fest übernommen. Dass wir das in der aktuellen Situation an einigen Stellen nicht mehr können, bedauere ich.

So könnte VW die "Dieselgate"-Kosten schultern

Also doch keine Effizienzsteigerung.
Doch, selbstverständlich. Die Effizienz der Werke müssen wir natürlich steigern. Wir werden aber durch neue Modelle, die Elektromobilität und neue Geschäftsfelder im Zuge der Digitalisierung in Zukunft eher mehr als weniger Arbeitskräfte benötigen als heute. Vor diesem Hintergrund muss sich keiner der Stammbeschäftigten um seinen Arbeitsplatz fürchten. Entscheidend ist, dass wir die Menschen für die neuen Aufgaben qualifizieren.

Auch nicht in Osnabrück, wo Ihr Werk derzeit nur zu 44 Prozent ausgelastet ist?
Da werden wir uns sicherlich überlegen müssen, wie wir die Kapazitäten stabil und nachhaltig auslasten.

BMW hat früh auf die Elektromobilität gesetzt und wie auch Daimler ein Carsharing-System entwickelt. Hat VW die Entwicklung verschlafen?
Nur zur Information: Der Volkswagen Konzern hat die größte Palette von E-Fahrzeugen im Modellprogramm. Aber vielleicht war VW mit dem konventionellen Autobauen so erfolgreich, dass die Notwendigkeit, sich mit einigen neuen Aspekten der Mobilität in letzter Konsequenz zu beschäftigen, nicht erkannt wurde. Das ist jetzt anders. Wir arbeiten unter der Überschrift „Digitale Transformation“ daran, neue Geschäftsfelder zu schaffen und damit in Zukunft den Umsatz außerhalb unseren Kerngeschäfts signifikant zu steigern. 

"VW ist nicht präzise genug definiert"

In welcher Richtung?
Porsche und Audi haben da tolle Vorarbeit geleistet und clevere Ideen entwickelt. Die werden wir uns in den nächsten Monaten genauer ansehen. Die Strategie 2025 werden wir Mitte kommenden Jahres vorstellen, dann kann ich Ihnen mehr sagen.

Volkswagen wirbt seit längerem mit dem großspurigen Slogan „Das Auto“. Werden Sie das weiterhin tun?
Im Mai habe ich den größten Auto-Händler der USA getroffen und ihn gefragt, warum wir uns in seinem Land so schwer tun. Er antwortete mit einer Gegenfrage: Wofür steht die Marke VW eigentlich? Das zeigt, dass sich auch die Marke VW eine klare Positionierung auf jedem Markt geben muss, wie dies Audi, Porsche oder Skoda getan haben. VW ist nicht präzise genug definiert – noch weniger in den USA. Vor diesem Hintergrund muss man auch den Slogan „Volkswagen. Das Auto“ kritisch überprüfen. Als er 2007 vorgestellt wurde, war er passend. Ob man ihn vor den aktuellen Ereignissen aufrechterhalten kann, ist eine andere Frage. Darum kümmert sich aber der Markenvorstand um Herrn Dr. Diess.

Der Konzern wurde bisher sehr stark von oben geführt. Warum nutzen Sie in dieser Situation nicht die Chance, Ihre Mitarbeiter zu fragen, was sie verbessern würden?
Bei uns ist jeder eingeladen, seine Meinung zu sagen. Aber groß angelegte Befragungen dauern mir viel zu lang. Bei uns muss es jetzt schnell gehen. Da ist es ein Vorteil, dass ich in diesem Konzern groß geworden bin.

Und warum sind Sie der Richtige?
Weil ich die Stärken, aber auch die Schwachstellen im Konzern kenne. Und viele Kollegen kennen sie auch.

Ihr Vorgänger verfolgte das große Ziel, spätestens bis 2018 Toyota als weltgrößten Autohersteller abzulösen. Bleibt es dabei?
Der Absatz wird sicher auch in Zukunft eine Rolle spielen, aber ich werde sicher nicht die schiere Größe zum Selbstzweck erklären. Ob Nummer eins, zwei oder drei beim Volumen, das ist mir letztlich egal. Wir werden den Führungsanspruch in unserer Branche nicht aufgeben. Aber wir definieren ihn jetzt anders. Unser Ziel ist es, die Zukunft der Mobilität mutig und entschlossen mitzugestalten.

Toyota zu überholen wäre ein solcher Selbstzweck?
In punkto Profitabilität würden wir die Wettbewerber gerne überholen. Dieses Schielen auf Stückzahlen und immer neue Verkaufsrekorde macht aus meiner Sicht wenig Sinn.

Um den Job als Chef des Volkswagen-Konzerns beneidet Sie derzeit wohl niemand. Gab es Momente, wo Sie es bereut haben, dem Ruf nach Wolfsburg gefolgt zu sein?
Nein. Ich wusste ja, was auf mich zukommt. Ich habe kurz darüber nachgedacht und dem Aufsichtsrat dann aber sehr bestimmt gesagt, dass ich es mache. Die Zuversicht, es zu schaffen, hat mich nicht verlassen. Ich spüre Aufbruchsstimmung, es geht voran. Mit der Zeit, davon bin ich überzeugt, wird das eine richtig schöne Aufgabe.

Wie gehen Sie mit dem Risiko um, dass immer noch irgendetwas Unentdecktes über Sie hereinbrechen kann?
So gut es eben geht. Ich schaue derzeit von Quartal zu Quartal. Bisher hatten wir fast nur Krisenmanagement zu bewerkstelligen und wussten morgens oft nicht, was der Tag so bringt. Jetzt richten wir allmählich den Blick wieder mehr nach vorn, auf das, was wir verändern wollen, die Prozesse, die Markenpositionierung, die Modellpaletten. Die Neuausrichtung des Konzerns wird sicher zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen und ist kein Kinderspiel. Aber wenn sich neue Formate und Strukturen herausschälen, ist das für mich der erste Schritt zum Erfolg.

Mit bösen Überraschungen rechnen Sie nicht mehr? Die Betrugsbehörde der EU prüft gerade, ob VW EU-Forschungsgelder zweckentfremdet hat.
100-prozentig sicher kann man nie sein. Aber die größten Probleme haben wir, so denke ich, identifiziert. Jetzt gilt es, sie zügig abarbeiten. Zu dem von Ihnen angesprochenen Fall kann ich nur folgendes sagen: Volkswagen waren zum damaligen Zeitpunkt die Ermittlungen der OLAF nicht bekannt. Wir sind verwundert darüber, dass die Behörde an die Öffentlichkeit geht, ohne zunächst die Betroffenen zu informieren. Grundsätzlich ist festzuhalten: Volkswagen steht seit Monaten in vertrauensvollen Gesprächen mit der Europäischen Investitionsbank. In diesen Gesprächen haben wir die Verwendung der Darlehensmittel offengelegt.

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