Rund eineinhalb Jahre nach Bekanntwerden des VW-Abgasskandals stellt sich der Aufsichtsrat des Wolfsburger Konzerns auf noch langwierige Ermittlungen ein. "Einen richtigen Schlusspunkt wird es so schnell nicht geben können", sagte Chefaufseher Hans Dieter Pötsch der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Es werde "wohl eher noch länger dauern als bis zum Jahresende 2017". Bisher hatte Pötsch eine Aufarbeitung bis etwa zu diesem Termin in Aussicht gestellt. VW sieht sich in der Affäre um manipulierte Abgaswerte bei Millionen Dieselfahrzeugen mit zahlreichen Klagen und Schadenersatzforderungen konfrontiert. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft erwartet die ersten Urteile noch dieses Jahr.
Der Fall Volkswagen vor Gericht
Bundesweit klagen Autobesitzer vor mehreren Gerichten wegen überhöhter Stickoxidwerte auf Rückabwicklung des Kaufs oder Schadensersatz. Allein vor dem Landgericht Braunschweig sind mehr als 200 solcher Klagen anhängig. Die auf Verbraucherschutzverfahren spezialisierte Onlineplattform MyRight, die mit der US-Kanzlei Hausfeld zusammenarbeitet, reichte zu Jahresbeginn die erste Musterklage ein, mit der die Klagen vieler Betroffener gesammelt werden sollen. Diese Klagen, die derzeit viele Langerichte in ganz Deutschland beschäftigen, sind unabhängig von den Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des Betrugs gegen mehrere VW-Verantwortliche.
„Die durch den gesamten Abgasskandal entstandene Wertminderung kann noch am ehesten angesetzt werden, um Schadenersatz beim Hersteller durchzusetzen“, sagt Rechtsexperte Klaus Heimgärtner vom ADAC. Voraussetzung sei aber, dass die Merkmale der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung oder der Verletzung eines Gesetzes zum Schutz eines Dritten erfüllt seien. Das Problem: „Bislang gibt es keine zuverlässigen Zahlen über Wertminderungen von gebrauchten VWs mit unzulässiger Abschalteinrichtung“, so Heimgärtner.
In Deutschland gibt es keine Sammelklagen wie in den USA. Im Prinzip bleibt nur die Einzelklage gegen den Händler oder den Hersteller. "In den USA müssen Geschädigte nicht aktiv werden und klagen, das übernehmen Einzelpersonen, die als Sammelkläger auftreten", erklärt Jan-Eike Andresen, Leiter der Rechtsabteilung und Co-Gründer von MyRight. "Da kommt irgendwann der Scheck von VW über 10.000 Dollar für jeden Geschädigten. In Deutschland müssen Kunden mindestens einen Anwalt beauftragen oder ihre Ansprüche an myRight abtreten, damit etwas passiert. Diese Hemmschwelle zum Tätigwerden nutzt VW natürlich zu seinen Gunsten aus."
Das liegt am deutschen Recht. „In den USA haben Schadenersatzzahlungen neben der Schadenbeseitigung auch Strafcharakter, das treibt die Schadenshöhe“, erklärt Horst Grätz von der Regensburger Kanzlei Rödl & Partner. In Deutschland hingegen wird nur der tatsächlich entstandene Schaden beglichen. Den muss der Kunde allerdings nachweisen.
Ja, aber auch schon zu deren Ungunsten. Insgesamt gibt es 120 verschiedene Urteile. „Solange das nicht höchstrichterlich, am besten vom Bundesgerichtshof geklärt ist, ist jeder Richter frei, über den Rücktritt vom Kauf zu urteilen“, erklärt Jura-Professor Florian Bien von der Universität Würzburg.
Eine finanzielle Entschädigung der Kunden in Europa lehnt VW ab, obwohl sich Forderungen nach einem ähnlichen Vergleich wie in den USA mehren. Sollten diese dennoch fällig werden, könnte das Volkswagen wegen der viel größeren Zahl betroffener Kunden im Vergleich zu den USA finanziell ruinieren, fürchten Experten. Der Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler geht von einem Wertverlust in einer Größenordnung von 500 Euro je Fahrzeug aus.
Pötsch sagte der FAZ, VW werde neben den von US-Behörden vorgelegten Feststellungen keinen eigenen Untersuchungsbericht veröffentlichen. Dies wäre für das Unternehmen "unvertretbar riskant". US-Behörden hatten VW im September 2015 zuerst öffentlich der Abgasmanipulation beschuldigt. Drei Monate später hatte Pötsch versprochen, alle Informationen kämen auf den Tisch. Mit der Aufklärung von "Dieselgate" beauftragte VW die US-Kanzlei Jones Day. Auch über diese internen Ermittlungen will der Konzern laut Pötsch weiter schweigen.
"Um es klar zu sagen: Einen solchen schriftlichen Bericht, weder einen Zwischen- noch einen Abschlussbericht, gab es nicht, und den wird es nicht geben", sagte Pötsch. Er begründete dies mit einer Vereinbarung, die VW mit der US-Justiz eingegangen sei. VW sei deshalb bei der Weitergabe der Ergebnisse nicht Herr des Verfahrens. Bei den Untersuchungen der Affäre gerieten zuletzt immer mehr - auch hochrangige - VW-Mitarbeiter ins Visier der Ermittler.
"Unterm Strich sprechen wir in den vier laufenden Verfahren von 47 Beschuldigten, wobei es Doppelnennungen gibt", sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Klaus Ziehe, der "Automobilwoche". "Wir hoffen, Verfahren noch 2017 abschließen zu können." Dazu gehören laut Ziehe aber nicht die Fälle von Manipulation von Stickoxidwerten, wo allein gegen 37 Beschuldigte - darunter Ex-VW-Chef Martin Winterkorn - ermittelt wird. Sechs Personen werden laut "Automobilwoche" wegen falscher Kohlendioxidangaben beschuldigt. Wegen des Verdachts der Marktmanipulation wird zudem gegen Winterkorn, Aufsichtsratschef Pötsch und VW-Markenchef Herbert Diess ermittelt.