Gefühlte zwei Minuten dauerte die Begegnung von VW-Konzernchef Matthias Müller mit US-Präsident Barack Obama Anfang der Woche auf der Hannover Messe. Gerne hätte der Deutsche dem Amerikaner bei der Gelegenheit von den neuen Elektroautos vorgeschwärmt, der der Konzern in den kommenden Jahren auf den Markt bringen will. Auch die neuen Mobilitätskonzepte oder die Digitalisierungsstrategie hätten jede Menge Stoff für einen anregenden Plausch geliefert.
Stattdessen aber ging es – wieder mal – nur um ein Thema: Müller entschuldigte sich bei Obama persönlich für die Software-Manipulationen bei Dieselmotoren, für die Tricksereien und Betrügereien einiger Ingenieure und die gesundheitlichen Schäden, die US-Bürger möglicherweise durch die erhöhten Stickoxid-Emissionen in den zurückliegenden Jahren erlitten haben.
Ähnlich erging es Müller am Donnerstag auf der Bilanzpressekonferenz des VW-Konzerns in Wolfsburg: Eigentlich wollte der VW-Chef hier die "Dieselthematik" nur kurz streifen und anschließend ausführlich über die umfassende Neuausrichtung des Konzerns reden, über Investitionen in neue Elektroautos und Mobilitätsdienstleistungen, über die neuen Volkswagen Group Future Center in Potsdam, Peking und im Silicon Valley, über das Digital-Lab und den Modularen Elektrifizierungsbaukasten, kurzum: die Neuaufstellung von Europas größtem Automobilhersteller auf die anbrechende neue Ära des Individualverkehrs.
Doch statt dessen gab es bohrende Fragen nach den finanziellen Belastungen des Konzerns durch den Abgasskandal, durch Rückrufaktionen, Reparaturmaßnahmen und Kompensationszahlungen.
Nein, so schnell wird sich die schwarze Rußwolke über Wolfsburg nicht verziehen. Der Dieselskandal bleibt auch 2016 eine Belastung für den Autokonzern. Gewiss, mit den US-Umweltbehörden ist inzwischen eine Rahmenvereinbarungen über Wiedergutmachmachungen, über die Reparatur der betroffenen Fahrzeuge und Schadenersatzzahlungen an die betrogenen Autokäufer in den Staaten getroffen. Auch wurden 1,8 Milliarden Euro zurückgestellt, für Investitionen in US-Umweltprojekte und die Elektromobilität – wofür genau das Geld verwendet wird, soll bis zum 21. Juni in weiteren Gesprächen und unter strikter Geheimhaltung geklärt werden.
Wie VW die „Dieselgate“-Drahtzieher finden will
Über ein halbes Jahr VW-Abgas-Skandal und eine entscheidende Frage ist weiter ungeklärt: Wer sind die Drahtzieher des Betrugs, der den größten Autobauer Europas in die schwerste Krise seiner Konzerngeschichte gestürzt hat? Der mächtige VW-Aufsichtsrat hat als Reaktion darauf im Oktober die US-Anwaltskanzlei Jones Day mit einer umfassenden Untersuchung beauftragt, um den Fall aufzuklären. Bis Ende April sollte ein erster Zwischenbericht vorgelegt werden. Diesen hat Volkswagen inzwischen auf unbestimmte Zeit verschoben – eine Veröffentlichung vor der Einigung mit den US-Behörden könne die Verhandlungsposition schwächen, so die Begründung. Der Abschlussbericht soll bis Ende des Jahres folgen.
VW muss zeigen, dass der Konzern die Affäre um manipulierte Emissionstests ernst nimmt und bei der Aufarbeitung nichts vertuscht wird. Das Unternehmen hat zwar Fehlverhalten eingestanden, aber auch immer wieder mit Relativierungen den Unmut der US-Ermittler auf sich gezogen. Anfangs wurde der Abgas-Betrug als „Unregelmäßigkeit“ bezeichnet, im Januar stellte Konzernchef Matthias Müller den Skandal – hausintern als „Diesel-Thematik“ abgetan – dann als „technisches Problem“ dar und sorgte damit für Empörung. Mit einer schonungslosen Aufklärung durch Jones Day könnte VW die wegen möglicher krimineller Vergehen ermittelnde US-Justiz milde stimmen.
VW dürfte auch ein starkes eigenes Interesse daran haben, die Schuldigen ausfindig zu machen. Es geht neben hohen Rechtskosten um die Frage, ob die Manipulationen das Werk einer kleinen Gruppe oder einer Unternehmenskultur sind, die der skrupellosen Trickserei zugeneigt war. Das von US-Klägern gezeichnete Bild einer Verschwörung bis in die Chefetage herauf streitet der Konzern vehement ab. Die Untersuchung soll dafür nun Belege liefern. VW glaubt, den Ursprung des Diesel-Debakels weitgehend nachvollziehen zu können. Der Konzern geht nicht von einem einmaligen Fehler, sondern von einer Fehlerkette aus. Wer jedoch auf konkrete Namen von Verantwortlichen hofft, dürfte enttäuscht werden.
Volkswagen muss die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen schützen. Erst wenn in einem nächsten Schritt die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren einleiten würde, könnten die Namen auch öffentlich genannt werden. Dies würde aber auch der Behörde obliegen. Am Ende dürfte deshalb eher eine Art Chronologie der Ereignisse stehen, in der haarklein die Abläufe vermerkt sind, die im größten Skandal der Konzerngeschichte endeten. Nichtsdestotrotz ist es Ziel von Jones Day, den Sachverhalt im juristischen Sinne aufzuklären. Die Erkenntnisse müssen nicht nur plausibel und stimmig, sondern auch gerichtsfest sein. Deshalb wurden die betroffenen Personen auch von den Ermittlern verhört und ihre Aussagen protokolliert.
An der Aufklärung sind rund 450 interne und externe Experten beteiligt. Die Untersuchungen erfolgen in einem zweigeteilten Prozess: Die interne Revision, für die Experten aus verschiedenen Konzernunternehmen zu einer Task Force zusammengezogen wurden. Sie fokussiert sich im Auftrag von Aufsichtsrat und Vorstand auf die Prüfung relevanter Prozesse, auf Berichts- und Kontrollsysteme sowie die begleitende Infrastruktur. Ihre Erkenntnisse stellt die Revision den externen Experten von Jones Day zur Verfügung. Die Kanzlei führt unter anderem die forensischen Untersuchungen durch und wird dabei operativ vom Wirtschaftsprüfer Deloitte unterstützt.
Die externen Ermittler müssen gigantische Datenmengen sichten. Laut Volkswagen wurden 102 Terabyte gesichert. Das entspricht umgerechnet etwa 50 Millionen Büchern. Mehr als 1500 elektronische Datenträger von rund 380 Mitarbeitern wurden dafür eingesammelt. Da niemand diese Menge an Daten lesen kann, müssen sie mit Suchmaschinen durchleuchtet werden. Ein Problem war dabei, dass die Beteiligten für den Schriftverkehr über die Manipulationen nur Codewörter benutzten – etwa „Akustiksoftware“ für das „defeat device“. Schlagwörter wie die im Skandal zentralen Begriffe „NOx“ oder „Stickoxide“ waren tabu. Wie groß die Datenmasse ist, zeigt ein Vergleich mit den „Panama Papers“, die derzeit Schlagzeilen machen. Sie umfassen 2,6 Terabyte. Mehr als 400 Journalisten brauchten ein Jahr für die Analyse.
Ob Zündschloss-Skandal bei der Opel-Mutter General Motors (GM) oder Airbag-Debakel beim japanischen Zulieferer Takata: Nach der Beteuerung „vollumfänglicher Kooperation“ mit den Behörden ist die interne Untersuchung mit Hilfe bekannter Kanzleien fast immer der nächste Schritt, wenn es für Großkonzerne kritisch wird. Genauso verbreitet wie die Praxis an sich ist allerdings auch die Kritik, dass es sich dabei eher um ein strategisches Alibi-Instrument des Krisen-Managements handelt als um ein wirkliches Bekenntnis zur entschlossenen Aufdeckung von Missständen. Bei den tödlichen Pannenserien von GM und Takata blieben die Vertuschungsvorwürfe trotz Untersuchungen durch externe Prüfer bestehen.
Auch in Europa geht es langsam voran. Auf der Bilanzpressekonferenz konnte Müller mit sichtlicher Erleichterung vortragen, dass das Kraftfahrbundesamt endlich grünes Licht für den Rückruf der VW Golf mit dem "Höllen"-Diesel EA 189 gegeben hat: Der Temperatursturz in der vergangenen Woche hatte Erprobungsfahrten der modifizierten Fahrzeuge im Straßenverkehr unmöglich gemacht und die Freigabe verzögert. Aber der Zeitplan ist bereits heftig durcheinander geraten. Ob wie ursprünglich geplant bis zum Jahresende alle elf Millionen Autos in Europa, die mit einer Schummel-Software unterwegs sind, lässt sich derzeit nicht absehen.
Und die juristische Aufbereitung des Skandals hat noch gar nicht begonnen. Der Abschlussbericht über die VW-interne Untersuchungen durch die Anwaltskanzlei Jones Day soll nach Stand der Dinge nun erst zum Jahresende vorliegen und – nach vorheriger Sichtung durch das US-Justizministerium – anschließend veröffentlicht werden.
Auch bei den strafrechtlichen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig ist noch kein Land in Sicht. Frühestens Anfang 2017 werden die Ermittler entscheiden, ob und gegen wen der derzeit 17 Beschuldigten ein Verfahren eröffnet wird. Gegen sechs Beschuldigte ermittelt die Staatsanwaltschaft zudem wegen des Verdachts, durch möglicherweise zu niedrig angegebene Verbrauchsangaben bei Fahrzeugen über Jahre hinweg die Finanzbehörden betrogen zu haben.