Kritisiert ein Amerikaner die „City“, das Herz der britischen Finanzindustrie, dann kommt das einer Kriegserklärung gleich. Voller regulatorischer Schlupflöcher sei das britische Finanzsystem, polterte der Amerikaner Gary Gensler vor mehr als zwei Jahren. Die Risiken, die britische Banken eingingen, landeten früher oder später auch an der Wall Street, schimpfte Gensler, Chef der amerikanischen Aufsichtsbehörde für börsengehandelte Termingeschäfte über London.
The City was not amused. John Mann, Finanzexperte der britischen Labour-Partei, sprach von einer konzertierten Aktion der US-Regierung, die versuche, den Handel von London nach New York zu holen. Dabei kursierten schon seit Jahren Gerüchte im Finanzmarkt, am Referenzzinssatz Libor, zu dem sich Banken untereinander Geld leihen, werde manipuliert. Nur die amerikanische Aufsichtsbehörde nahm Untersuchungen auf. Genslers Team in Washington quälte sich durch Tausende E-Mails, hörte mitgeschnittene Telefonate jenseits und diesseits des Atlantiks ab.
Was den Libor so wichtig macht
Grundsätzlich gilt der Libor für alle Kreditnehmer aus den folgenden Währungsräumen:
- Australischer Dollar
- Kanadischer Dollar
- Neuseeland-Dollar
- US-Dollar
- Schweizer Franken
- Dänische Krone
- Schwedische Krone
- Euro
- Pfund Sterling
- Yen
Der Libor ist ein Angebotszins, also der Satz, zu dem Banken Geld verleihen können. Grundsätzlich gilt der Libor nur für Kredite mit einer Laufzeit von einem Tag bis zu zwölf Monaten. Das heißt, er betrifft Optionen, Derivate und Termingeschäfte, aber auch den Kredit fürs neue Auto oder die Eigentumswohnung.
Grundsätzlich legt die British Banker's Association (BBA) den Libor (London Interbank Offered Rate) jeden Tag aufs Neue fest. Die BBA saugt sich den Satz allerdings nicht einfach so aus den Fingern, sondern ermittelt einen Durchschnittssatz aus den Angaben verschiedener Banken. 19 Institute melden der BBA täglich, zu welchem Zinssatz sie sich untereinander Geld leihen.
Grundsätzlich gibt es derzeit einen Verdacht gegen alle 19 Banken, die ihre Zinssätze der BBA mitteilen. Barclays hat die Manipulationen bereits zugegeben, ermittelt wird des Weiteren gegen die Royal Bank of Scotland, die Deutsche Bank, die HSBC, die UBS, Citigroup und Lloyds.
Dann der Triumph im Juni 2012: Gensler verkündet im US-Fernsehen, seine amerikanische Behörde habe die britische Großbank Barclays bei der Manipulation des Libor überführt, deshalb müsse sie jetzt fast eine halbe Milliarde Dollar Strafe zahlen. „Wir sind alle Opfer“, sagte Gensler in die Kameras. „Diese Zinssätze sind das Herz unseres globalen Finanzsystems. Sind die manipuliert, dann bedroht das die Integrität des Marktes.“
Gegen ein Dutzend Banken ermitteln inzwischen US-Behörden, die britische Finanzaufsicht FSA und EU-Regulierer gemeinsam in dieser Sache. Außer Barclays zahlte die Royal Bank of Scotland eine Millionenstrafe, die UBS musste 1,5 Milliarden Dollar zahlen. Da werde noch mehr kommen, kündigte Gensler an.
US-Präsident Barack Obama holte den Amerikaner 2009 an die Spitze der Behörde in Washington. Seitdem Gensler die Aufsichtsbehörde leite, sei sie aus dem Dornröschenschlaf erwacht, heißt es in Washington. „Die CFTC war ein zahnloser Regulierer“, sagt der demokratische US-Politiker Barney Frank. „Seit Gensler dort ist, geht er aggressiv gegen Verstöße am Finanzmarkt vor.“ Knapp 300 Millionen Dollar an Strafgeldern sammelte die Behörde in 2012 ein – mehr als je zuvor.
Der schlanke Langstreckenläufer will offenbar die Sünden seiner Vergangenheit wiedergutmachen. Denn ein eiserner Verfechter eines regulierten Finanzmarktes war Gensler nicht immer. Aufgewachsen in kleinen Verhältnissen als Sohn eines Verkaufsautomatenverkäufers, galt Gensler schon als Kind als Mathematik-Ass. Er studierte Wirtschaft an der renommierten Wharton School of Business an der Universität von Pennsylvania und heuerte bei der Investmentbank Goldman Sachs an. Die ernannte den jungen Mann mit gerade einmal 30 Jahren zum Partner. Gensler war über 18 Jahre lang einer der Star-Investmentbanker des Finanzinstitutes.
Peinliche Pleite
Danach, Ende der Neunzigerjahre, wechselte der heute 55-Jährige in die Politik. Unter Ex-US-Präsident Bill Clinton war Gensler stellvertretender Finanzminister und setzte damals noch eine umfassende Deregulierung des Derivatemarktes durch. Ein Fehler, wie er heute bekennt. Besonders peinlich war für Gensler die Pleite des Brokers MF Global in 2011, den Ex-Goldman-Sachs-Chef Jon Corzine in den Abgrund geführt hatte. Genslers Behörde hatte nicht gemerkt, dass etwas schieflief bei dem Broker, der Millionen an Investorengeldern abgezweigt haben soll, um den eigenen Handel zu stützen, als die Geschäfte schon sehr schlecht liefen. Gensler zog sich wegen der gemeinsamen Zeit mit Corzine bei Goldman aus den Ermittlungen zurück.
Die Aufsicht über Broker, vor allem wie diese mit Kundengeldern umgehen, hat er seitdem verstärkt. Seine Behörde setzte im vergangenen Jahr 74 Prozent mehr neue Vorschriften für die Derivatemärkte um als im Jahr davor. Auch den Hochfrequenzhandel will Gensler stärker überwachen.
In London ist Gensler erneut auf Jagd. Dort hatte ein Händler der US-Großbank JP Morgan Chase mit einem hochspekulativen Geschäft im vergangenen Jahr Milliarden verzockt. JP-Morgan-Investment-Chefin Ina Drew musste gehen, nun gerät auch JP-Morgan-Chef Jamie Dimon ins Visier von Gensler. In Washington heißt es, die Schlinge um den sonst so gefeierten Star-Banker Dimon zöge sich zu. Der Bankenausschuss im US-Senat wirft Dimon grobe Aufsichtsfehler vor.
Genslers erste Amtszeit an der Spitze der US-Aufsichtsbehörde läuft im August 2014 ab. Noch hat sich der alleinerziehende Vater dreier Töchter im Teenageralter – seine Frau verstarb im Jahr 2006 – nicht entschieden, ob er weitermachen will. US-Präsident Obama soll ihn allerdings schon darum gebeten haben. Üblicherweise schlägt niemand eine solche Bitte des Präsidenten aus.
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